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Erinnerungen sind ja was sehr Kompliziertes. [.] Nachdem das aufgeschrieben ist, wurde es so wie etwas Geronnenes. Es existiert jetzt als Text, und ich kann wirklich nicht mehr genau sagen, was an dem geschriebenen Text stimmt und was einfach Verdichtung ist oder Verdrängung. Das ist nicht mehr nachvollziehbar . Und ich glaube, es ist wirklich so etwas Ähnliches wie wenn das Leben als Traum erlebt und erinnert wird. Und wenn Sie einen Traum erzählen, verändern Sie ihn schon. Wenn Sie ihn aufschreiben, verändern Sie ihn nochmal. Und da ist das Resultat schließlich doch Dichtung und Wahrheit [.] Wenn es geschrieben ist, hat es eine Wahrheit, die es vielleicht wirklich gar nicht hatte.
Heiner Müller
Nunja, der Franzose ist mit abstrusen
Theorien immer gern zur Hand.
Bernd Rauschenbach, »Richtung«
Arno Schmidt ist ein Autor, der in seltener Radikalität für die Literatur gelebt hat; für seine Literatur, aber ebenso für die Literatur anderer: »Alles, was je schrieb, in Liebe und Haß, als immerfort mitlebend zu behandeln« (II, 2, 142), ist das berühmte Zitat aus dem Vorspiel des Essaybandes Dya Na Sore (1958). Deshalb sollen erst einmal einige Fragen nach seinem Literaturbegriff gestellt werden, noch bevor wir mit der Darstellung der Kindheit ins Haus fallen; nicht ganz so ausufernd wie Laurence Sternes Gedanken über die Nasen in der Lebensgeschichte von Tristram Shandy (1759-1767), aber doch mindestens so wichtig für Schmidt. Er war ein Bibliomane, ein Sammler (so hätte einmal sein Roman Das steinerne Herz heißen sollen), ein Leser, für den Literatur das Wichtigste überhaupt war, mitunter vielleicht sogar wichtiger als seine nächsten Mitmenschen. Jörg Drews sah darin eine wesentliche Bindungskraft für Schmidts zeitgenössische Leserinnen und Leser: »Hier war jemand, der von der Literatur und ihrer höchsten Wichtigkeit absolut überzeugt war, der unzweideutig zu seiner Aufgabe stand und sich nirgends anbiederte. Zu einem Zeitpunkt, da immer mehr Autoren durchblicken ließen, Literatur sei eigentlich auch nicht eine so absolut und unzweideutig wichtige Sache und man müsse sich schon auch ein bißchen als flinker Medienbubi präsentieren, um durchzukommen, setzte Arno Schmidt allein auf die Durchsetzungskraft der Sache selbst, seiner Sache: der Literatur.«1
Schmidts Literatur ist bei aller Wiedererkennbarkeit des Tons ein Werk der Metamorphosen - unübersehbar ist das in Zettel's Traum, wo der Begriff einmal fällt, mit dem »Buch der Metamorphosen« ist dort allerdings Edgar Allan Poes Julius Rodman (1840) gemeint (IV, 1, 288). Die Figuren verwandeln sich szenenweise in Pferde, Pilze, Bäume und anderes, die Landschaft kann sich verwandeln, weil eine der Figuren Hunger hat und in jedem Kuhstall eine Imbissbude sieht. >Verwandlung< kann hier auch in der Tradition der Theatermaschinerie gemeint sein: »Fantasiekostüme, Scheinwerfereffekte, Rampenlichter, Verwandlungen=&=Versenkungen - DIE SCENE VERWANDELT SICH!« (IV, 1, 42). Poe, der ja ein Haupt-Gegenstand des Buches ist, kannte als dreijähriger Sohn einer Schauspielerin das Theater, für ihn war das die produktive Erfahrung schlechthin für all seine Bild-Phantasien. Metamorphosen, Verwandlungen, gehen durch das ganze Werk von Schmidt hindurch, angefangen von den zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Juvenilia, die ganz offen der phantastischen Literatur der Romantik verpflichtet sind. Im Fortgang gibt es Metamorphosen von Ich-Erzählern, phantastische Ereignisse, Elementargeister (mal mehr, mal weniger offensichtlich markiert), es gibt unzuverlässige Ich-Erzähler, und es gibt eine sehr klare Konzeption davon, wie der Alltag, dessen Banalitäten, aber auch dessen Ängste und Nöte in literarischer Phantasie überformt werden können, sein Begriff dafür ist das »Längere Gedankenspiel«. In Kaff auch Mare Crisium erzählt er den Wochenendausflug eines Paars in die Heide, bei dem die Frau sich langweilt und der Mann daraufhin anfängt, ihr die Geschichte einer Kolonie auf dem Mond zu erzählen, nachdem die Erde unbewohnbar geworden ist - und in seiner Geschichte geht er immer wieder auf das wirkliche Leben der beiden, auf Details ihres Ausflugs ein, Schmidt führt also vor, wie solche Transformations-Mechanismen funktionieren. In den Werken nach Kaff sind die Metamorphosen dann geradezu entfesselt; so wichtig in den frühen Büchern Schmidts doch auch das Erzählen von Authentizität, Präzision, idealerweise Erkenntnis war, so sehr wächst in seinen letzten Büchern die Skepsis, ob Erkenntnis überhaupt zu haben sei, Illusionen und Täuschungen werden wichtiger, sie werden selbst zu einer mächtigen Realität.2
Schmidts Figuren verwandeln sich bisweilen in Natur - »ein kleiner wilder Waldkreis: that's me!« (I, 1, 350), sagt der >Faun< Heinrich Düring von sich, gerade in den frühen Texten finden die Übergänge noch zwischen zwei klar getrennten Welten statt, zwischen »menschlicher und außermenschlicher Natur«.3 Dem Protagonisten in Schwarze Spiegel (1951), einer postapokalyptischen Robinsonade, fallen neue Metamorphosen ein, »frei nach Ovid«: »Ein Windgott, Flöse, verwandelt eine vor Russen fliehende Berlinerin in einen stöhnenden Schornstein. Oder den von Polypen verfolgten Waffenschmuggler in einen Trampdampfer der Reederei Rickmers.« (I, 1, 224) Auch Die Gelehrtenrepublik (1957) als satirische Dystopie ist voller Metamorphosen verstrahlter Wesen, es gibt dort Zentauren und Spinnen mit Menschenköpfen, russische Labore entwickeln riskante Metamorphosen. Und Schmidt lässt Metamorphosen auch in die Beschreibungssprache seiner essayistischen Prosa einziehen, so bescheinigt er Karl May, dass er den Hintern unter die Gestirne versetzt bzw. eine Welt aus Hintern erbaut habe, »das Ausmaß, in dem hier solche Verwandlung betrieben wurde, übertrifft jeglichen andern, aus der Literatur bekannten Fall« (III, 2, 95). Literatur betreibe immer die »Verwandlung von Vokabeln in Bildeindrücke« (III, 4, 487), und das seit Ovid und Apuleius, die sich natürlich in seiner Bibliothek finden; der Goldene Esel in einer englischen Übersetzung von Robert Ranke-Graves aus den sechziger Jahren, die dem Originaltitel entspricht, Metamorphoses. Er ist fasziniert von den Sprachmetamorphosen in Joyce' Finnegans Wake und gebraucht das Wort >verwandeln< auch ganz selbstverständlich in mathematischen Zusammenhängen - allerdings können Worte sich auch mal in Küsse verwandeln (IV, 4, 119).
Schmidt hat sich mindestens in seinen letzten Jahren auch selbst in dieser Art gesehen, etwa seinem Verleger Ernst Krawehl gegenüber: »ich bin kein Mann der scharfen Konturen. Ich bin Metamorphotiker - ein Verwischer von Konturen.«4 Literatur ist Verwandlung: Hat Schmidt in den ersten Jahrzehnten >gelebt<, so hat er in den letzten zunehmend, seit der Konzentration auf die Niederschrift von Zettel's Traum fast nur noch geschrieben, >verwandelt<, bei immer ausgreifenderer Phantasie, seine Beobachtungsgabe immer ausschließlicher auf Literatur verwendet, die er wieder in Literatur verwandelt hat.
Immer gibt es jenseits der geläufigen Gesellschaftskritik, die sich in einiger Schärfe explizit wie implizit in Schmidts Büchern findet, den Versuch, die Realität zu attackieren, sich in der Literatur eine >bessere< Realität auszudenken und sie dagegenzuhalten. Und wenn's nur eine bessere Realität für den Verfasser sein sollte, den Versuch war's allemal wert; und vielleicht kommen ja ein paar >Gute Leser< mit hinein . Die immer neuen Versuche Schmidts, Welt hineinzunehmen in die Literatur und mit der Literatur hinauszudrängen, könnten ein sinnvolles Anwendungsgebiet für einen jüngeren erzähltheoretischen Begriff sein - für das...
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