Schweitzer Fachinformationen
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Am nächsten Morgen sitze ich mit Onkel Dieter, Oma Hannelore und mit Opa Erwin am Frühstückstisch. Der Ablauf ist noch genauso wie früher. Dieter übertrifft sich mal wieder selbst. Anstatt zu sagen: "Liebe Hannelore, wärst du bitte so freundlich und reichst mir mal eben den Brotkorb!", sagt Dieter kurz und knapp "Brot!". Und ganz selbstverständlich reicht ihm Hannelore den Brotkorb rüber. Und anstatt zu sagen: "Entschuldige bitte, liebe Mutter. Ich glaube du hast vergessen, mir für das Frühstücksei noch einen kleinen Teelöffel an meinen Frühstücksplatz zu legen", brummelt Dieter ganz schroff und übellaunig "Löffel!!" und deutet auf sein Frühstücksei. Hannelore springt sofort auf und entschuldigt sich: "Ach herrje, den hatte ich vergessen dir hinzulegen. Das tut mir furchtbar leid. Ich hole dir mal eben einen aus der Schublade."
Die Gespräche zwischen Oma und Opa haben sich in den letzten Jahren exakt null verändert. Es ist ein immer gleiches, warmes Bühnenstück, das in diesem Haus seit Jahrzehnten täglich aufgeführt wird - mit wechselnden Requisiten, aber identischem Textbuch. Heute Morgen:
Oma: "Und, was machst du heute?"
Opa: "Ach, ich denke, ich werde dem Friedrich bei der Kartoffelernte helfen."
Oma: "Ach so. Aber um zwölf gibt's Essen. Da bist du bitte wieder zurück, ja?"
Opa: "Jawohl, um zwölf bin ich wieder da."
Jawohl.
Wie ein Soldat, der weiß, dass Befehle befolgt werden müssen, vor allem wenn sie in Form von Klößen auf dem Tisch stehen. Es ist ein Dialog, der so sicher zur Tagesstruktur gehört wie der Wetterbericht in der Tagesschau oder das laute Fluchen, wenn die Fernbedienung mal wieder "nicht geht".
Um Punkt zwölf Uhr wird bei Oma und Opa gegessen. Punkt.
Zwölf. Uhr.
Nicht fünf nach, nicht kurz vor. Wenn die Dorfkapelle läutet, ist das für andere ein nettes Glockenspiel - hier ist es der Startschuss zur Nahrungsaufnahme.
Es könnte draußen ein Meteorit einschlagen - egal, die Suppe wird pünktlich serviert.
Heute ist keine Ausnahme. Ich sitze am Tisch, die Suppe dampft, der Löffel klappert sanft am Tellerrand, doch bevor ich auch nur daran denke, ein Stück Karotte in Angriff zu nehmen, erhebt sich Oma mit feierlicher Miene zum Tischgebet.
Oma und Opa sind erzkatholisch.
Also nicht so "Weihnachten-und-Ostern"-katholisch wie der Rest der Menschheit, sondern so richtig katholisch. Beten vorm Essen, vorm Schlafen, vorm Wetterumschwung. Wenn irgendwo ein Schnitzel serviert wird, ist erstmal Jesus eingeladen.
Ich senke also den Kopf. Aus Respekt. Oder aus Müdigkeit. Und weil ich weiß: Suppe gibt's hier erst nach dem Ave Maria.
Während des Essens herrscht dann - ganz klar - Ruhe am Tisch.
Ein heiliger Moment.
Nur zwei Dinge sind ausdrücklich erlaubt: Omas Schmatzen.
Und ihr gelegentliches, tief befriedigtes Rülpsen nach der dritten Gabel Kartoffelstampf.
Das ist dann ihr persönliches Amen.
Nach der Suppe stellt mir Oma einen neuen Teller vor die Nase.
Also, neu ist dabei eher relativ zu verstehen. Der Teller ist neu im Sinne von: "Jetzt an der Reihe" - nicht neu im Sinne von porentief rein.
Ich blicke auf die Oberfläche - und erkenne die kulinarischen Schatten vergangener Tage. Eine winzige Bratwurstspitze, ein vertrockneter Klecks Püree, irgendwo klebt etwas, das entweder Senf oder DNA sein könnte.
Oma besitzt keinen Geschirrspüler.
Sie ist selbst die Spülmaschine - allerdings in der Einstellung "Kaltwäsche Grob" - ohne Klarspüler, ohne Emotion. Ich nutze das zu Hause als Vorwäsche, aber hier ist es leider das Endprodukt.
Heute kann ich nicht anders. Es ist stärker als ich.
"Oma, gab es gestern Bratwurst mit Kartoffelpüree?"
Sie weicht spontan zurück, als hätte ich sie gefragt, ob sie heimlich einen Liebhaber hat.
"Ja, stimmt, aber woher weißt du das?"
Ich zeige auf den Teller.
"Weil sich die Bratwurstreste noch auf meinem Teller befinden."
Ein kurzer Moment Stille. Oma ist minimal peinlich berührt, schnappt sich aber ohne viel Federlesen den Teller und nörgelt:
"Gib schon her, ich mach das mal eben weg."
Ich stocke.
"Ich mach das mal eben weg"?
Nicht den Teller, sondern DAS? Das klingt verdächtig nach: Wischi-Waschi statt WEGwerfen.
Ich hoffe insgeheim auf einen frischen Teller aus einem geheimen, keimfreien Vorratsschrank.
Aber nein. Oma geht in die Küche, dreht das Wasser auf - kalt, natürlich, denn warm ist ja was für verweichlichte Großstädter - lässt kurz den Strahl über den Teller laufen, schüttelt ihn wie ein Hund nach dem Baden, und stellt ihn mir mit stolzgeschwellter Brust wieder auf den Tisch.
"So, bitte sehr!"
Ich blicke auf das nasse Porzellan, das jetzt so sauber aussieht wie ein Hund, den man mit einem Feuchttuch abgewischt hat.
In mir schreit alles: "Nein, Volker! Das ist ein biologischer Angriff in Tellerform!"
Aber ich bleibe still.
Noch.
"Ähm. Oma?"
"Ja, was ist denn noch?" (Dieser Blick. Reines Unverständnis.)
"Du. also. du bestehst wirklich darauf, dass ich von diesem Teller essen soll?"
"Ja, warum denn auch nicht? Der Teller ist doch jetzt sauber."
"Also. mit Verlaub - dieser Teller ist bestenfalls augenscheinlich sauber. Ich wette, im Labor würde man da ganze Bakterienfamilien drauf entdecken. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ein bisschen kaltes Wasser das hier erledigt hat?"
Jetzt schaltet sich Opa ein, der die ganze Zeit über wortlos seine Gabel geschwungen hat wie ein Schaufelbagger im Sparmodus:
"Was willst du denn damit sagen, mein Junge?"
"Ich möchte sagen, dass dieser Teller hygienisch betrachtet ein Fall für's Gesundheitsamt ist."
Empörung.
In Stereo.
"Also, das ist ja wohl unerhört!", ruft Oma.
"Wir sind dir also nicht mehr gut genug! Jetzt willst du nicht mal mehr von unseren Tellern essen!
Siehst du, Erwin, ich habe dir ja gleich gesagt - wir sind dem Volker einfach nicht mehr gut genug. Dieser Junge wird zuhause viel zu sehr verhätschelt. Jetzt haben wir den Salat! Nun ist es doch tatsächlich schon soweit gekommen, dass er nicht mehr bei uns essen möchte, weil ihm unsere Teller nicht mehr gut genug sind."
"Seit über 50 Jahren essen wir von diesem Geschirr!", schnieft Opa.
"Hat's uns geschadet? Nein! Und jetzt kommst DU daher, mit deinem Labor und deinem Klarspüler und willst uns erzählen, wir würden an Tellerverschmutzung verrecken?"
Ich will sagen: Nicht verrecken, aber vielleicht ein bisschen. darmmäßig auf dünnem Eis laufen.?
Klar, wahrscheinlich werde ich daran nicht sterben, denke ich mir, aber wer weiß, welche Krankheiten ich mir bei Oma und Opa in den kommenden Tagen so einfangen werde. Wie dem auch sei, ich finde das einfach nur widerlich und ekelerregend. Schon alleine, wenn ich nur daran denke, wie viele Jahre die beiden mit Dauergast Onkel Dieter aus diesen Tellern essen und dieses Geschirr wird nie richtig gewaschen. Das ist einfach nur abscheulich!
Sag ich aber nicht.
Ich denke stattdessen an meine Mutter im Schwarzwald. Die würde mich verstehen. Die würde sofort mit Desinfektionstüchern bewaffnet nach Malchin kommen. Aber sie ist weit weg.
Und ich bin hier. Zwei Wochen. Mit Oma, Opa - und ihren historischen Tellern. Ich denke mir: "Jetzt reiße dich gefälligst zusammen und springe über deinen Schatten, Volker! Du machst dir hier mit deiner Einstellung womöglich noch Feinde."
Ich schlucke meinen Stolz herunter wie ein zu heißes Gulasch und sage:
"Liebe Oma, lieber Opa. es tut mir leid. Ich hab's übertrieben. Natürlich esse ich von euren Tellern. So wie sie sind."
Oma lächelt und äußert erleichtert: "Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen würdest."
Ich nehme den Löffel.
Und denke leise:
Vernunft. Oder Lebensmittelvergiftung. Es ist ein schmaler Grat.
"Das ist mein Enkel. Volker, ich bin so mächtig stolz auf dich", fügt Opa hinzu. Ich täte gut daran, mich grundsätzlich immer an die lokalen Gepflogenheiten anzupassen. Das käme mir nur zum Vorteil, wenn ich auch beruflich mal irgendwann häufiger auf Geschäftsreisen wäre, insbesondere im entfernteren Ausland.
"Da musst du nehmen, was kommt", erklärt mir Opa. "Was glaubst du, wenn du beispielsweise mal eine Geschäftsreise nach Indien machen musst, was da dann alles auf dich zukommt?"
Ich habe keine Ahnung und betone durch Winken meiner Schultern mein...
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