Schweitzer Fachinformationen
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«Die Liebe ist das Einzige, das wir am Ende mitnehmen können, und sie macht das Ende so einfach.»
Louisa May Alcott
Ich hatte mir gewünscht, dass es heute in Strömen regnete. Am liebsten wäre mir ein Gewitter gewesen, Donner und Blitz, eisige Kälte, Sturm, Kaskaden von Regen, Hagel, ein Unwetter, dem ich mich hätte ausliefern können. Aber kein Wölkchen war am tiefblauen Himmel zu sehen, die Septembersonne schien warm auf Martin und mich herab und tauchte Maries letzte Ruhestätte in ein goldenes Licht. Ein Jahr ohne mein Kind, auf den Tag genau, war vergangen. Ein Herbst, ein Winter, ein Frühling, ein Sommer; Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Pfingsten ohne meine einzige Tochter.
Einmal, in einer schlaflosen Nacht, hatte ich ein Bild gezeichnet. Es zeigt eine Frauengestalt, die in einer trostlosen Wüstenlandschaft an einen großen Felsen gekettet ist. Dazu hatte ich in mein Notizbuch geschrieben: «Es gibt einen Planeten in einem anderen Universum, auf dem Menschen stranden, die ihr Liebstes auf dieser Welt verloren haben. Er hat viele Namen: Trauer, Schmerz, Leid, Verlassenheit, nicht enden wollender Kummer, Verzweiflung, Trostlosigkeit, Finsternis. Nachdem ich dorthin geschleudert worden war, merkte ich, dass dort nichts, nicht einmal mein eigenes Spiegelbild, vertraut schien. Alles ist anders, unwiderruflich. Ich bewege mich wie in einem Nebel durch das, was von meinem Leben auf der Erde übrig geblieben ist, doch meine Realität spielt sich Tag für Tag auf diesem Planeten mit den vielen Namen ab.»
Wir hatten Sonnenblumen für Marie mitgebracht und eine neue Kerze für die Laterne. Wir waren nicht die Einzigen, die sie heute besuchten. In dem «kleinen Garten», den ich, den Jahreszeiten folgend, immer wieder neu für unsere Tochter bepflanzte, entdeckte ich einen Engel, der gestern noch nicht da gewesen war, eine Rose im Topf, einen Blumenkranz in Herzform; in Folie eingeschweißte Karten, die erzählten, wie sehr Marie vermisst wurde, und ein Foto. Ich musste es immer wieder anschauen, während mir die Tränen die Wangen hinunterliefen. Es zeigte Marie im Kreis ihrer Freunde in unserem Garten, als sie ihren dreißigsten Geburtstag ganz groß feierte.
Auch Martin und ich hatten Post bekommen, herzliche Zeilen von Menschen, die an uns und unser Leid gedacht hatten. Freunde hatten angerufen, liebe Worte gefunden und angeboten, uns zum Friedhof zu begleiten. Ich war dankbar, aber ich wollte heute mit Martin und Marie allein sein - Vater, Mutter, Kind, nur wir drei, so wie in glücklichen Zeiten. Auch im grauenhaftesten Jahr unseres Lebens, dem acht Wochen vorausgingen, in denen unsere Tochter von einer in rasendem Tempo fortschreitenden, heimtückischen Krankheit aus dem Leben gefegt worden war, ging es um uns drei. Um Marie, die wir verloren hatten. Um ihren Vater, der auch auf dem Planeten mit den vielen Namen unterwegs war - allein, wie alle Exilanten. Wir gehen alle unseren eigenen Weg mit unserem Schmerz und unserer Trauer. Ich hatte Martin nur ein einziges Mal weinen sehen: Als wir an Maries Bett im Hospiz saßen und sie aufhörte zu atmen. Er hatte sie in seine Arme genommen und geschluchzt wie ein Kind.
Und es ging um mich, Susanna Weber, die einmal mit viel Elan und Freude Englisch und Französisch an einem Gymnasium unterrichtet hatte. In einem anderen Leben, in einem anderen Universum. Ich war völlig zusammengebrochen nach Maries Beerdigung und musste mich vom Schuldienst beurlauben lassen. Es hatte Monate gedauert, bis ich im Alltag einigermaßen funktionieren konnte. Dass ich je wieder berufstätig sein würde, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.
Martin stellte die Kerze in die Laterne und zündete sie an. Die Sonnenblumen leuchteten, selbst durch meinen Tränenschleier hindurch. Als Kind hatte Marie Sonnenblumen in ihrem eigenen kleinen Beet gesät und sich an den freundlichen Blütengesichtern gefreut und darüber, dass die Kerne ein Leckerbissen für die Vögel waren. Martins Gesicht war wie versteinert, er hatte den Mund so fest zusammengepresst, dass sich die Kiefermuskeln abzeichneten. Plötzlich fiel mir auf, wie grau seine Haare waren und dass er müde aussah und dünner als früher. Ich wünschte mir, er würde einen Arm um mich legen, damit ich mich an ihn lehnen könnte, aber weder er noch ich machten den einen Schritt aufeinander zu, der uns trennte. Lieber Gott, dachte ich, wenn es dich gibt, bitte hilf mir: Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es tut so weh. Ich will dort sein, wo mein Kind ist. Ich schloss die Augen und wartete - wider besseres Wissen - auf ein Wunder, das jetzt gleich mein Leben beenden würde.
Es war still auf dem Friedhof, nur der Wind raschelte in den Blättern der Bäume. Ich hatte Martin nie erzählt, dass ich jeden Tag über meinen eigenen Tod nachdachte und ihn herbeisehnte. Alles, was hinter uns lag, hatte uns so weit voneinander entfernt, dass wir nur wenig miteinander redeten. Wie zwei Schatten glitten wir nebeneinanderher durch den Alltag: Möchtest du lieber Spaghetti oder Steak am Wochenende essen? Holst du bitte meinen Anzug aus der Reinigung ab? Der Rasen muss gemäht werden. Es wird spät heute, ich habe noch ein Meeting. Es regnet schon wieder. Ja, aber für morgen haben sie Sonne angesagt.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit geschlossenen Augen in der Stille stand. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht waren es auch nur Sekunden, bis ich etwas hörte. Ein Zwitschern, sehr nah, eine auf- und absteigende Melodie, die wie eine Erzählung klang; lieblich und eindringlich. Mein Herz klopfte auf einmal heftig. Diese Vogelstimme kannte ich besser als alle anderen!
Das Rotkehlchen hatte sich auf Maries Grabstein niedergelassen. Wir hatten einen Findling aus rosa schimmerndem Granit ausgesucht, in einer angedeuteten Herzform. Ein stilisierter Vogel, der in die Sonne fliegt, war darin eingraviert, darunter Maries Name und die Daten. Der kleine Kerl schaute mich aus dunklen Perlaugen an, während er mit weit geöffnetem Schnabel sein Lied sang.
«Martin! Schau! Ein Rotkehlchen!» Vor lauter Aufregung hatte ich seinen Arm gepackt. «Maries Lieblingsvogel!»
«Ja. Stimmt.» Er sagte es so, als wäre es nichts Besonderes, dass ausgerechnet heute, während wir hier standen, einer von Maries Lieblingen auf ihrem Grabstein gelandet war und sich die Seele aus dem Leib sang.
«Das ist bestimmt ein Zeichen! Eine Botschaft! Von Marie. Sie ist bei uns, jetzt, in diesem Augenblick. Ich spüre das . hier.» Ich legte eine Hand auf mein Herz.
«Susanna, bitte. Marie ist tot. Sie kann nicht bei uns sein, und nichts und niemand kann sie uns zurückbringen. Ich glaube nicht an Zeichen und Wunder und Vögel, die angeblich Botschaften überbringen. Ich . ich möchte so etwas nicht hören.»
Er hatte leise gesprochen, aber den Ausdruck in seinem Gesicht kannte ich gut. Egal, womit ich argumentieren würde, ich würde ihn nicht erreichen. Ich versuchte es trotzdem. Für Marie. Für ihr Geschenk an uns.
«Aber es KANN kein Zufall sein, dass ausgerechnet heute dieser Vogel für uns singt», sagte ich.
Abwehr blitzte in seinen Augen auf, blau wie die seiner Tochter. «Doch. Natürlich kann es sein. Das Leben steckt voller Zufälle. Du möchtest es nur anders sehen, und du hast ganz bestimmt deine guten Gründe dafür. Aber ich bin durch und durch Realist, und ich weiß, dass Rotkehlchen sehr häufig vorkommen und recht zutraulich Menschen gegenüber sind. Wir kommen da einfach nicht zusammen.»
Ich wusste, er meinte es nicht böse. Er war von Natur aus einfach jemand, der sich auf Fakten und seinen Verstand verließ, wohingegen ich eher meiner Intuition vertraute. Trotzdem tat es weh. Das Rotkehlchen hatte sich von unseren Stimmen nicht stören lassen. Es zwitscherte und trillerte noch ein paar Strophen, dann flog es auf und verschwand in einer großen Eibe.
Kurz darauf machten wir uns auf den Heimweg. Martin fuhr. Ich fühlte mich so müde und erschöpft, dass ich mich am liebsten in Maries Zimmer aufs Bett gelegt hätte, mit ihrem kleinen Plüschlöwen Simba im Arm. Aber ich wusste, wenn ich einmal lag, würde ich heute die Kraft zum Aufstehen nicht mehr aufbringen, und ich hatte doch noch etwas geplant. Es war mir wichtig, so wichtig, dass ich zu Hause gleich in die Küche ging, während Martin sich, wie so oft, in sein Arbeitszimmer zurückzog. Ich wollte Maries Leben feiern. Der Tod, der sie uns vor einem Jahr entrissen hatte, sollte heute nicht das letzte Wort haben.
Wenn Marie ihren Besuch bei uns ankündigte, fragte ich immer, was sie sich als Begrüßungsessen wünschte. In neun von zehn Fällen war es Schnitzel Wiener Art mit Kartoffelsalat nach meinem Spezialrezept. Das war Maries Leibspeise als Kind gewesen, und sie war ihr treu geblieben. «Mamas Schnitzel mit Kartoffelsalat macht glücklich.» Davon war sie fest überzeugt, und wer sie bei einem gemütlichen Essen bei uns erlebte, glaubte ihr aufs Wort. Sie hatte die Gabe zu genießen, ob es sich nun um ein leckeres Essen, ein Treffen mit Freunden oder einen Sonnenuntergang handelte.
Immer noch legte ich zu jeder Mahlzeit ein Gedeck für sie auf, so, als könnte sie sich jeden Augenblick zu uns setzen. «Warum tust du das, Susanna?», hatte Martin kurz nach Maries Tod gefragt, als ich vor lauter Weinen nichts essen konnte und wie hypnotisiert auf den leeren Teller gegenüber starrte. «Es quält dich doch.» Müde hatte er sich die Stirn gerieben, als habe er Kopfschmerzen. «Es hat keinen Sinn, den Tisch für sie zu decken. Sie kommt nicht. Nie mehr. Sieh es doch ein.»
Etwas explodierte in mir, und ich...
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