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»Dann woll'n wir mal«, sagte Manfred Kahle zu seinem Kollegen und erhob sich. Der Schließer griff nach den Schlüsseln und machte sich auf zu seinem Rundgang. Sein Kollege folgte ihm. Sie hatten sich die Zellen aufgeteilt. Gleich begann im Strafgefängnis Neumünster die Nachtruhe.
Eigentlich war der abendliche Rundgang Routine, doch seit einiger Zeit ging es nicht mehr nur darum, die Insassen in ihre Zellen zu schicken und dort für die Nacht einzuschließen. Einer von ihnen bekam eine Sonderbehandlung. Sein Name war Horst Buchholz. Der junge Mann, der des Mordes beschuldigt wurde und hier bei ihnen in Neumünster auf seine Verhandlung wartete, die für den 14. November am Landgericht in Itzehoe bei der Schwurgerichtskammer angesetzt war, hatte schon einige Male versucht, dieser zu entgehen. Buchholz galt als Selbstmordkandidat und sollte vor sich selbst geschützt werden. Das war die Aufgabe der Wärter und damit heute auch Kahles.
Jedes Mal, wenn Kahle an der Reihe war und er es tun musste, tat der Mann, der inzwischen in Einzelhaft saß, ihm leid. Normalerweise verspürte Kahle nicht solche Regungen, dann wäre er in seinem Beruf falsch und hätte besser Bäcker werden sollen. Warum Horst Buchholz diese weiche Seite in ihm zum Klingen brachte, die er sich sonst nur zu Hause bei seiner Frau und den Kindern erlaubte, wusste Kahle nicht. Und er hinterfragte es auch nicht. Schlicht und ergreifend, weil er solche Gefühlsduseligkeiten in seinem Beruf nicht gebrauchen konnte. Die Insassen waren wie Hunde. Sie verstanden nur eine konsequente und harte Führung, sonst verloren sie den Respekt und bissen die Hand, die sie fütterte. Natürlich nur im übertragenen Sinn, dachte der Schließer jetzt und schüttelte über sich selbst den Kopf. Was er sich auch immer zusammendachte. Buchholz war ein Verbrecher. Ihm sollte nicht umsonst der Prozess gemacht werden. Zudem war es keine Bagatelle, die ihm zur Last gelegt wurde. Buchholz saß hier in der Untersuchungshaft wegen Mord. Mit einer Axt, die er vermeintlich gemeinsam mit seiner Geliebten Ruth Blaue, der Ehefrau des Ermordeten, geschwungen haben sollte. Soweit Kahle wusste, hatte die Staatsanwaltschaft jedoch keine stichhaltigen Beweise, aber das würde sich zeigen und ging ihn als Gefängniswärter sowieso nichts an. Trotzdem machte er sich seine Gedanken. Schließlich war er ja auch nur ein Mensch und soweit er gehört hatte, hatten die Beschuldigten ihre Aussagen immer wieder geändert, weshalb niemand genau wusste, was nun wahr und was falsch war, zumal nur Indizien für das Verbrechen vorlagen und es keine weiteren Zeugen gab. Wahrscheinlich lag die Wahrheit irgendwo dazwischen. So war das ja oft.
Einmal hatte Buchholz nach Kahles Wissen zum Beispiel alles zugegeben: »Ich habe ihm mehrere Schläge mit der Axt auf den Kopf versetzt. Er hat sich nicht mehr gerührt. Nachher sagte Frau Blaue zu mir: >Nun darfst du nicht den Kopf verlieren!<«
Dem entgegen sollte Ruth Blaue laut irgendeiner Zeitung gesagt haben: »Für mich war immer mein Mann der Eindringling. Ich wünschte seinen Tod. Ich sagte es Buchholz, der um mich litt wie ich um ihn. Die Entscheidung musste fallen, weil wir alle drei am Ende unserer Kraft waren. Gehandelt habe aber immer nur ich.«
Wie man es auch drehte und wendete, und gleichgültig, wer von den beiden am Ende den Todeshieb versetzt hatte, Buchholz war tief in die Tat verstrickt. Selbst wenn er seiner Geliebten nur beim Wegschaffen des toten Ehemanns geholfen hatte. Dies bedeutete für Kahle wiederum, dass Buchholz trotz seiner Selbstmordversuche kein Sensibelchen sein konnte. Hierin bildete er keine Ausnahme zu den anderen Insassen. Irgendwas hatten sie alle auf dem Kerbholz, selbst wenn es ihnen wie im Fall von Buchholz noch nicht nachgewiesen war. Und trotzdem: Buchholz war einer dieser wenigen Häftlinge, die Kahle in den vielen Jahren als Schließer erlebt hatte, von denen er sich wider besseres Wissen nicht vorstellen konnte, dass sie etwas Verbotenes taten und schon gar nicht mordeten. Mit seinen blonden Haaren, den traurigen Augen und feinen Gesichtszügen erinnerte Buchholz eher an ein Jüngelchen, dem man sagen musste, es solle nicht auf die Herdplatte fassen, weil sie noch heiß sein könnte.
Buchholz sprach nicht viel. Er saß den ganzen Tag in seiner Zelle, mischte sich beim Frischluftgang über den Gefängnishof nicht unter die anderen, wurde im Gegenzug aber auch von diesen in Ruhe gelassen. Vielleicht lag das daran, dass Buchholz so eine tiefe Traurigkeit umgab.
Soweit Kahle wusste, war Buchholz Künstler. Und dann noch ein Liebender. Ob es damit etwas zu tun hatte? Diese Schwermut. Vielleicht war die Tat ja auch im Affekt geschehen. Wenn Liebe mit im Spiel war, war das keine Seltenheit. Natürlich klang schon die Bezeichnung Axtmörder brutal, allerdings war Buchholz Bildhauer, und ein Beil gehörte da sicher auch zu seinen Werkzeugen. Vielleicht war es die naheliegendste Waffe für den Künstler gewesen .
Ein weiteres Mal schüttelte Kahle den Kopf. Jetzt, um seine Gedanken über den Insassen zu verscheuchen. Der Bildhauer ließ ihn nicht los. Kahle konnte mit Kunst nicht viel anfangen. Entweder er fand etwas schön oder eben nicht. Womit er sich jedoch auskannte, waren Menschen, denn er sah viele, und unter ihnen waren auch immer wieder mal Künstler oder solche, die es sein wollten. In der Regel war es so, dass diese einsaßen, weil die Armut sie getrieben hatte, das Gesetz zu brechen, oder sie waren in etwas hineingerutscht, was sie mit sich gezogen hatte. Meist eine Frau. Wie vermeintlich im Fall von Buchholz. Frauen waren nach Kahles Meinung häufig schuld, und er war froh, seine Renate zu haben. Renate war zufrieden mit ihrem Leben, sorgte sich um ihn und ihre drei Kinder und hatte vor allem keine Spinnereien im Kopf. Das war das Wichtigste für eine funktionierende Ehe.
»So, Buchholz, jetzt heißt's fertigmachen für die Nacht. Du kennst das«, tönte Manfred Kahle, als er nun die Zelle von Horst Buchholz betrat. Der Mann lag bereits auf der Pritsche und nickte ihm gleichgültig zu. Kahle hatte alles mitgebracht, was er benötigte - es war nicht viel -, trat an die Pritsche und Buchholz heran und begann damit, den Insassen zu fesseln. Gerade gestern hatte Kahle in seinem eigenen Bett kurz vor dem Einschlafen darüber nachgedacht, dass er nur schwer in den Schlaf finden würde, wenn er sich nicht drehen und wenden könnte, wie er es in den Federn wollte. Aber er musste es tun. Das Fesseln. Es diente Buchholz zum Schutz vor sich selbst. Darüber hinaus war es eine Weisung von oben, die der Schließer nicht hinterfragen durfte. Und auch gar nicht wollte. Dann hätte er viel zu tun.
Nachdem Manfred Kahle seine allabendliche Fesselungsaufgabe ausgeführt hatte, verließ er die Zelle II/19 und ließ das Licht brennen. Auch dies galt als Sicherheitsmaßnahme, denn normalerweise lagen die Insassen während der Nacht im Dunkeln. Außer Horst Buchholz. Das Licht brannte bei ihm auch nachts durchgehend, damit sie als Wärter mit nur einem Blick durch das Guckloch der verriegelten Zellentür sehen konnten, wie es um den Insassen stand. Das taten sie alle 15 Minuten, womit die sonst übliche Mütze Schlaf im Schließer-Kabuff wegfiel. Obwohl sie sich natürlich abwechselten, um nach Buchholz zu sehen. Doch auch, wenn ein Kollege aufstand und über den Gang zur Zelle schritt, wurde man wach. Bald hatte das hoffentlich ein Ende. Entweder wurde Buchholz freigesprochen, und wenn nicht, käme er in eine andere Verwahrungsanstalt, diese hier war ohnehin nur für den Übergang. Dann konnten Kahle und seine Kollegen wieder zu ihrem normalen Berufsalltag übergehen, ohne befürchten zu müssen, dass der Insasse in Zelle II/19 sein Leben aushauchte.
Horst Buchholz hatte bereits drei Mal Hand an sich gelegt. Glücklicherweise immer ergebnislos. Beim ersten Mal hatte er es mit einer Rasierklinge versucht. Er musste diese bei sich versteckt haben, nachdem sie ihm seine Rasur erlaubt hatten. Oder ein Mithäftling hatte sie ihm zugespielt, sie wussten es nicht. Natürlich hatten sie Buchholz' Zelle danach komplett auf den Kopf gestellt und ihr alles entnommen, was dem Untersuchungshäftling helfen könnte, sich aus dem Leben zu stehlen. Das hatte den Insassen jedoch nicht von seinem Vorhaben abgebracht, wie sie wenig später erleben sollten, als er sich durch einen Treppenschacht zu Tode stürzen wollte. Als auch dieser Versuch gescheitert war, war Buchholz immer wieder, bis sie ihn stoppten, mit seinem Schädel gegen die Zellenwand gerannt, um ihn zum Bersten zu bringen. Das war erst wenige Tage her. Bis auf einige blutige Wunden und sicherlich enorme Kopfschmerzen hatte der Mann nichts davongetragen. Und nun wurde er nachts gefesselt, damit auch so etwas nicht mehr vorkommen konnte.
Nachdem Manfred Kahle und sein Kollege die Insassen »ins Bett gebracht« hatten, wie die Schließer es hier untereinander nannten, hatten sie beide ihre mitgebrachten Stullen ausgepackt und verdrückt. Dabei hatte Kahle begehrlich auf den dick aufgetragenen Brotbelag des Kollegen geschielt. Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten und gefragt: »Hast du da Butter drauf?«
Zwar waren die miesen Zeiten, die sie nach dem Krieg gehabt hatten, vorbei, und so langsam ging es allen wieder besser, dennoch galt zumindest bei Kahle zu Hause Butter noch als Luxus. Seine Frau kaufte nur Margarine und ging auch damit sparsam um.
»Hmm«, hatte sein Kollege genickt, während er sichtlich sein Butterbrot genoss. »Die Schwester meiner Frau hat mit ihrem Mann einen Bauernhof bei Aukrug und versorgt uns gut damit«, hatte er kauend erklärt. Danach hatten sie geschwiegen und sich die...
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