Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 1
Krakau 1892
Mit klagendem Ton brach das Signal des Turmbläsers an gewohnter Stelle ab. Chaja zuckte zusammen. Verstohlen duckte sie sich noch etwas tiefer hinter die Schultern ihres Kommilitonen und schob den Schirm ihrer Studentenmütze weiter in die Stirn. Schon wieder so viel wertvolle Zeit vergangen?
Zu jeder vollen Stunde drang der tiefe Glockenklang von der gegenüber der Universität stehenden Marienkirche durch die schmalen Fenster des Audimax herein. Jedes Mal schloss sich unmittelbar das helle Warnsignal der Trompete an, das mittendrin abrupt abbrach. Chaja vermeinte, den Schmerz des Tatarenpfeils direkt neben ihrem eigenen Herzen zu spüren. Dabei war bereits ein halbes Jahrtausend vergangen, seit jener Pfeil den jungen Trompeter getötet hatte, der hoch oben vom Kirchturm aus die Torwächter Krakaus vor den aus allen vier Himmelsrichtungen heranstürmenden Tataren warnen wollte.
»Meine Herren, wir haben den Hejnal gerade alle vernommen. Vielleicht hören ihn auch manche von Ihnen gar nicht mehr. Ich aber möchte diese alte Legende heute einmal bewusst aufgreifen, um über die verschiedenen Arten letaler Verletzungen im Brustbereich zu sprechen.« Professor Rudzinski nahm den Faden seiner durch den dröhnenden Glockenklang unterbrochenen Vorlesung wieder auf. »Waren es in früheren Jahrhunderten noch Pfeil und Bogen, die zum Tode tapferer Krieger führten, sind es mittlerweile die Schussverletzungen von Feuerwaffen, welche .«
Die Studenten, die bislang in den Bänken des dunklen Vorlesungssaals vor sich hin gedämmert hatten, richteten sich interessiert auf. Das versprach spannender zu werden als das, was Professor Rudzinski zuvor über den menschlichen Blutkreislauf doziert hatte.
Sosehr auch sie dieses Thema interessierte, für Chaja war es an der Zeit, sich unbemerkt zurückzuziehen. Schließlich musste sie rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein.
Vorsichtig und widerwillig zugleich erhob sie sich von ihrem Sitzplatz in der letzten Reihe. Im Zwielicht des späten Nachmittags bekam niemand mit, wie sie auf Zehenspitzen zu der hohen Tür direkt hinter ihr schlich. Sie musste sich fast strecken, um die Klinke zu erreichen. Mit aller Kraft stieß sie einen der schweren Flügel auf und schlüpfte hinaus.
Nachdem sie die Tür sachte zugezogen hatte, atmete sie erleichtert auf. Wieder einmal war es ihr nicht nur gelungen, sich am frühen Nachmittag unbeobachtet in eine medizinische Vorlesung der altehrwürdigen Jagiellonen-Universität zu schummeln, sondern auch, sich Stunden später genauso unbemerkt wieder hinauszuschleichen.
Niemand wusste davon.
Nun ja, fast niemand! Denn Chaja hatte einen Komplizen: ihren alten Spielkameraden David, der ihr, so gut er konnte, bei diesen Manövern geholfen hatte, bis er nach Wien gezogen war. Von ihm stammte auch die Studentenmütze, unter der sie ihr volles dunkles Haar, zu einem Knoten gebändigt, versteckte.
In ihrer frühen Kindheit hatten Chaja und David nebeneinander in einer der engen Gassen des Kazimierz gelebt - in unmittelbarer Nähe zueinander, aber unter völlig verschiedenen Bedingungen.
Als die älteste von später einmal acht Schwestern war Chaja schon als Vierjährige erbarmungslos in die familiäre Pflicht genommen worden. Zuerst hatte sie Paulina füttern, wickeln und durch die Gegend schleppen müssen. Ihr war Regina gefolgt, danach Rosa. An fünfter Stelle hatte sich Stella in die Reihe der Schwesternschar gesellt. Da war Regina schon alt genug gewesen, ihrerseits die Aufsicht über die ganz Kleinen - Ceska, Manka und Erna - zu übernehmen, während der Vater Chaja zum Kochen in die Küche beordert oder ihre Mithilfe im Laden verlangt hatte. Es herrschte ein harscher Ton im Hause Rubinstein. Chajas Kindheit war ausschließlich von Arbeit, Pflichten und Verantwortung bestimmt.
Eine Ahnung davon, dass es auch ein anderes Leben geben musste, hatte sie erstmals als Zehnjährige bekommen, als es ihr gelang, einen Blick durch die Fenster der Nachbarn zu werfen. In deren Haus gab es bereits elektrisches Licht. Manchmal vergaßen sie, die dunklen, schweren Samtvorhänge zuzuziehen. An solchen Abenden bot sich dem kleinen Mädchen von nebenan ein faszinierender Blick auf Bücherregale, große Gemälde an den Wänden, einen riesigen Kronleuchter, offenes Feuer im Kamin und zwei wuchtige Sessel davor. Darin saßen Herr und Frau Steuermann, unterhielten sich miteinander oder widmeten sich ihrer Lektüre. Während er meist hinter einer riesigen Zeitung verschwand, blätterte sie entspannt in einem Buch, ließ es auch ab und an im Schoß ruhen und blickte versonnen in die Flammen.
Einmal konnte Chaja nicht widerstehen. Aus dem Lager der väterlichen Eisenhandlung stibitzte sie einen stabilen Metalleimer, um ihn direkt unter das Fenstersims der Nachbarn zu stellen, daraufzusteigen und ihre Nase an die kalte Scheibe zu pressen. So bot sich ihr eine noch viel bessere Sicht in das Innere des Raumes!
An dessen Stirnseite entdeckte sie eine riesige, frisch eingedeckte Tafel. Das Dienstmädchen rückte gerade die dazugehörigen Stühle mit den hohen Rückenlehnen zurecht, zupfte noch einmal an den Damastservietten und schob das silberne Besteck neben dem glänzenden Geschirr parallel nebeneinander.
In diesem Moment betrat Frau Steuermann den Raum. Sie trug eine festliche Robe aus dunkelgrünem Moiré, die einen wirkungsvollen Kontrast zu den blonden Haaren ihrer eleganten hochgesteckten Frisur bildete.
Was für eine wunderschöne Frau! So ganz anders als ihre verhärmte Mutter, die Chaja nur leidend, zumeist leise jammernd im Bett liegend kannte.
War das aber verwunderlich? Eigentlich befand sie sich, seit Chaja denken konnte, ununterbrochen im Wochenbett. Zurzeit war es wieder einmal ganz schlimm mit ihr. Ein Wunder, dass sie nicht längst am Kindbettfieber gestorben war!
Insgesamt zwölf Kinder hatte Gitel zur Welt gebracht, doch keiner der vier Söhne überlebte. Jedes Mal wenn einer von ihnen gestorben war, legte sich die Trauer wie ein schwerer schwarzer Schleier über das ganze Haus. Dann versorgte Chaja ihre Mutter, die wochenlang das Bett nicht verließ. Schon als Fünfjährige war es ihr gelungen, die abgemagerte Mutter zum Essen zu zwingen. Ja, sie konnte sehr resolut sein, allerdings hätte sie niemals gewagt, gegenüber einer Dame wie ihrer Nachbarin einen solchen Ton anzuschlagen.
Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen beobachtete Chaja, wie Frau Steuermann nach einer Schachtel auf dem Kaminsims griff, ihr ein langes Zündholz entnahm, es anriss und die Kerzen der drei silbernen Leuchter auf der Tafel entzündete. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in ihrer ganzen Pracht erstrahlten und dem glänzenden Haar der Dame einen zusätzlichen Schimmer verliehen.
»Wie schön!«, hauchte Chaja.
Prompt beschlug die Fensterscheibe vor ihr. Hastig wollte sie den entstandenen Fleck mit dem Stoff ihres Ärmels wegwischen, doch dabei verlor sie das Gleichgewicht und plumpste auf die Erde. Der Eimer fiel um und rollte, laut scheppernd, davon.
»Aua!«, klagte sie leise.
Schon wurde über ihr das Fenster aufgerissen, und das rotbäckige Gesicht des Dienstmädchens kam zum Vorschein.
»Was machst du hier, verdammte Göre? Was hast du hier zu suchen? Mach, dass du wegkommst, du verdammtes Judenbalg!«, zeterte sie.
Chaja rieb sich das schmerzende Hinterteil und erhob sich mühsam. Auch wenn sie stand, befand sich die Fensterbank noch weit über ihr. Sie schaute nach oben. Neben dem Kopf des schimpfenden Dienstmädchens erschien nun das Gesicht der schönen Nachbarin.
»Lass gut sein, Euphrosina«, sagte Frau Steuermann begütigend, schob das zeternde Mädchen beiseite und beugte sich noch ein Stückchen weiter nach vorne. »Bist du nicht eine der vielen von nebenan?«, erkundigte sie sich lächelnd.
»Ja«, bestätigte Chaja kleinlaut.
»Welche denn? Es gibt ja so viele kleine Rubinsteine bei euch im Haus!«
»Chaja, die Älteste.«
»Richtig, jetzt erkenne ich dich. Du hast mich schon einmal in eurem Laden bedient. Und was machst du hier bei uns am Fenster?«
»Der Schein des Lichts hat mich angelockt«, gestand das Mädchen. »Da wollte ich einfach mehr sehen und bin auf einen Eimer gestiegen.«
»Und was hast du gesehen?«, erkundigte sich die Nachbarin amüsiert.
»Ein schönes Zimmer, bunte Bilder an der Wand, viele, viele dicke Bücher, eine fein gedeckte Tafel und eine wunderschöne Frau«, entfuhr es Chaja.
Das Lächeln der Nachbarin vertiefte sich. »Kleine Schmeichlerin«, sagte sie nachsichtig. »Würdest du denn gerne einmal an so einer Tafel sitzen?«
»Oh ja!«
»Jetzt ist es leider nicht möglich, aber warte mal einen Moment.«
Sie drehte sich um und verschwand im Inneren des Raumes. Nur wenige Sekunden später kehrte sie zurück, beugte sich tief aus dem Fenster und streckte Chaja die rechte Hand entgegen.
»Hier, nimm das: eine kleine Wegzehrung für den langen Heimweg.« Sie drückte Chaja ein knuspriges, lauwarmes Teilchen in die Hand. »Vorsicht, dass du sie nicht zerbrichst. Es ist eine frische Pirogge, eine Spezialität unserer Euphrosina. Lass sie dir schmecken.«
»Aber ich wohne doch gleich nebenan und habe keinen langen Heimweg«, protestierte Chaja. Dennoch umschloss sie die kleine, fettige Kostbarkeit vorsichtig mit all ihren Fingern. Einen solchen Schatz würde sie nicht mehr hergeben.
»Das weiß ich doch, Kindchen«, sagte Frau Steuermann lachend. »Das habe ich nicht ernst gemeint, das war...
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