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22:07 Uhr
Ella hielt sich die Ohren zu. Dabei starrte sie, auf ihrer Unterlippe kauend, wie gebannt an ihre schummrig-dunkle Zimmerdecke, die nur vom Mondlicht beleuchtet wurde, das durch den Gardinenspalt fiel. Ihr Herz pochte fühlbar, ein dicker Kloß schien in ihrem Hals festzusitzen, und gleichzeitig quollen aus ihren Augen lautlose Tränen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so in ihrem Bett lag und darauf wartete, bis es vorbei war. Irgendwann war es immer vorbei. Ein Glück. Dann hallten nur noch das Schluchzen ihrer Mutter und die Stimme ihres Vaters durchs Haus, der flüsternd versuchte, die Mutter zu beruhigen - auch Flüstern konnte laut sein. Das hatte das Mädchen inzwischen gelernt. Heute war der Streit anders als sonst. Heftiger und lauter, sodass Ellas Hände instinktiv zu ihren Ohren hochgeschnellt waren, als sie wie fast jede Nacht von dem Geschrei aufgewacht war, um diese zuzudrücken.
Eine Stimme in ihrem Inneren drängte sie, aufzustehen und nach ihrem kleinen Bruder zu sehen. Lasse war drei, und seit er auf der Welt war, war alles noch viel schlimmer geworden. Insgeheim gab Ella Lasse die Schuld für die regelmäßigen Streitereien ihrer Eltern. Als sie selbst noch kleiner war, hatte sie ihn deshalb auch immer geärgert. Daraufhin wurde es zwischen Mama und Papa jedoch wie ein wachsendes Geschwür nur noch doller, und der Streit fing schon an, wenn Papa von der Arbeit nach Hause kam. Darum hatte Ella Lasse irgendwann einfach nicht mehr beachtet, um ihn auf diese Weise für sein Auf-der-Welt-Sein zu bestrafen. Ihren Eltern schien das zu helfen, denn ab da fanden die Streitereien meistens wieder erst zur Bettzeit statt.
In einer dieser Nächte kam Lasse dann jedoch weinend zu ihr ins Zimmer getappt. Er hatte ihr furchtbar leid getan und trotz ihrer Wut auf ihn, hatte Ella ihn zu sich ins Bett gelassen. Sie wusste nicht mehr genau, wie alt er da gewesen war, nur noch, dass er kurz davor anstelle eines Schlafsacks eine richtige Bettdecke in sein Kinderbett bekommen hatte, denn auch diese Entscheidung von Mama hatte bei ihren Eltern zu Streit geführt. Mama hatte gesagt, dass Lasse sie auf diese Weise nachts nicht mehr rufen musste, sondern einfach ins Schlafzimmer kommen konnte. Papa hatte das viel zu gefährlich für Lasse gefunden, wegen der Treppe im Haus, aber Mama war hart geblieben. Ella hatte sich stillschweigend darüber gefreut, weil sie es ganz gut gefunden hätte, wenn Lasse etwas passiert wäre. Sie hatte gedacht, dann würde zwischen ihren Eltern wirklich alles wieder in Ordnung kommen. Mittlerweile hatte das Mädchen ein schlechtes Gewissen, das auch jetzt wieder in ihr hochschwappte, denn ihre Einstellung gegenüber Lasse hatte sich seit dem Augenblick geändert, als er an ihrem Bett gestanden hatte. Sie hatte in seinen Augen die gleiche Angst gesehen, die sie auch verspürte. Deswegen hatte sie damals ihre Bettdecke angehoben und ihn darunter schlüpfen lassen. Als sie seinen warmen, kleinen und vor unterdrücktem Weinen zitternden Körper, der sich Schutz suchend an sie schmiegte, gefühlt hatte, war all ihre Wut auf ihn in Liebe umgeschlagen. Sie hatte gar nicht anders gekonnt, als ihre Arme fest um ihn zu schlingen und ihn zu halten, bis er vor Erschöpfung wieder eingeschlafen war. Seitdem hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihren kleinen Bruder zu beschützen und sich vor allem um ihn zu kümmern, wenn Mama es nicht konnte. Das kam häufig vor, aber das machte Ella nichts. Auf diese Weise unterstützte sie Mama, die dadurch ruhiger wurde und ihr sogar manchmal ein Lächeln schenkte. Und Lasse dankte es ihr mit seiner bedingungslosen Liebe. Nur Papa guckte sie abends manchmal so merkwürdig an, wenn sie mit ihrem Bruder vom Abendbrottisch aufstand, um ihn ins Bett zu bringen. Irgendwie nachdenklich und traurig zugleich. Sein Blick wirkte dabei wie eine Last auf ihrem Körper, und sie zog dann den Kopf zwischen die Schultern, um kleiner zu wirken. Außerdem vermied sie in solchen Momenten direkten Augenkontakt mit Papa. Sie wusste nicht genau, ob er es gut fand oder es ihn böse machte, dass sie sich so um Lasse kümmerte. Dennoch ließ sie es nicht bleiben. Lasse brauchte sie, und irgendwie brauchte sie auch ihn. Ein bisschen so wie früher ihren Kuschelhasi, den Lasse in ihren Armen abgelöst hatte. Manchmal drückte sie Hasi, der immer in ihrem Bett lag, noch an sich und holte sich Trost von ihm.
Hasi! Das Mädchen löste die Hände von ihren Ohren und tastete nach ihrem Kuscheltier. Da, da war es. Sie nahm Hasi und legte ihn sich unters Kinn, während sie ihn mit beiden Händen hielt. Sollte sie nicht besser zu Lasse rübergehen und nach ihm sehen, als hier wach und beklommen auf das Ende des Streits zu warten? Ella war hin und her gerissen. Irgendetwas hielt sie zurück, doch sie kämpfte dagegen an, und gerade, als sie sich überwinden wollte, klirrte es plötzlich laut durchs Haus. Die Achtjährige zuckte zusammen, krallte ihre Finger tief in den Plüschtierkörper und blieb erschrocken liegen. Was war das gewesen? Es hatte geklungen, als hätte jemand ein Glas zerbrochen. Jetzt krachte es, und Mama schrie auf. Sie schrie so schrill und gruselig wie der Fuchs, der in den Herbstferien im Dänemark-Urlaub um ihr Haus geschlichen war. Vielleicht war es ja gar nicht Mama gewesen, sondern wieder ein Fuchs. Manchmal verirrten die sich auch in ihre Wohnstraße. Das hatte Papa ihr damals in Dänemark erzählt. Aber was war das Krachen gewesen? Ein Stuhl? Oder war es von draußen gekommen, und ein Baum war umgekippt und auf der Terrasse gelandet? Doch wieso sollte ein Baum einfach so umkippen? Sie hatten keinen Sturm, der ums Haus pfiff, oder so. Wieder klirrte Glas. Das Geräusch war eindeutig von unten aus dem Wohnzimmer gekommen. Dann herrschte Stille. Hatten die Eltern aufgehört zu streiten? Das war bisher noch nie so urplötzlich geschehen. Zumindest nicht so kurz nachdem sie mit dem Streiten angefangen hatten. Normalerweise ging es mindestens eine halbe Stunde mit Gebrüll und Getobe zu. Früher nicht jeden Abend, dann war es immer häufiger geworden, und seit einiger Zeit stritten Mama und Papa täglich. Was hatte das zu bedeuten, dass es heute nur so kurz gedauert hatte?
Ella glaubte nicht, dass ihre Eltern sich so schnell wieder vertragen hatten. Vor allem war es so eine drückende Stille, die aus dem Wohnzimmer durch das Haus drang. Kein Geschrei, kein Weinen, nichts. Auch kein Geflüster von Papa wie sonst nach einer Auseinandersetzung. Nur diese unheimliche Stille. Und dass die beiden einander wie ein Liebespaar im Fernsehen in die Arme gefallen waren und sich jetzt küssten, konnte Ella sich absolut nicht vorstellen. Das würde zwar die abrupte Ruhe im ganzen Haus erklären, aber Mama und Papa nahmen einander niemals in den Arm, so wie sie es manchmal bei den Eltern ihrer wenigen Freundinnen erlebte. Selbst wenn Mama und Papa sich mal verstanden, konnte sich Ella nicht daran erinnern, dass die beiden sich auch nur berührt hatten. Papa versuchte es manchmal bei Mama, doch die wich ihm immer aus. Ella hatte einmal bei der Sendung mit der Maus einen Film über Hunde und Katzen gesehen. Da hatten sie gesagt, dass diese Tiere sich nur in Ausnahmefällen vertrugen, weil sie einfach eine andere Sprache sprachen. Bei dem Film hatte das Mädchen sofort an Mama und Papa denken müssen, denn eigentlich vertrugen die beiden sich nie. Außer morgens. Denn am Morgen nach einem Streit war Papa immer ganz ruhig, sagte kaum ein Wort und machte alles, was Mama wollte. Darum gehörte für Ella und Lasse der Morgen zur schönsten Zeit des Tages - kein Gezanke zwischen den Eltern. Die plötzliche Stille, die sich jedoch jetzt eingestellt hatte, bereitete ihr nach wie vor Angst. Es war nicht dieses unangenehme Gefühl, das Ella beschlich, wenn Mama und Papa laut miteinander wurden und sie sich am liebsten unsichtbar machen würde, wenn sie dabei war. Das Mädchen verspürte vielmehr eine unbestimmte Furcht, die inzwischen ihren ganzen Körper zittern ließ und überall Gänsehaut bereitete.
Wieder kam ihr Lasse in den Sinn. Bestimmt lag ihr kleiner Bruder ebenso wie sie angsterfüllt in seinem Bett. Und vermutlich traute er sich nicht, aufzustehen und in Ellas Zimmer zu kommen. Oder er schleicht in diesem Moment, weil es gerade still ist, schnell zu mir, dachte sie erschrocken und setzte sich auf. Was, wenn ihr Gefühl richtig war? Was, wenn ihre Eltern noch immer stritten, nur eben leise? Und böser als sonst. Dann durfte Lasse nicht aus seinem Zimmer gehen, da er dazwischengeraten könnte, falls die Eltern ihren Streit nicht nur im Wohnzimmer austrugen. Ella selbst war das einmal passiert, und es war schrecklich gewesen. Da hatten die Eltern wie üblich laut gestritten. Lasse hatte neben ihr im Bett gelegen und sich plötzlich übergeben. Das Mädchen hatte nicht gewusst, was es tun sollte, hatte sich ein Herz gefasst und war hinunter ins Wohnzimmer gegangen. Sie kam gar nicht dazu, ihren Eltern zu berichten, dass Lasse gespuckt hatte, sondern war direkt mit den Worten angeschrien worden: »Verschwinde, sonst kannst du was erleben. Los, ab ins Bett!«
Getrieben von diesem Gedanken schlug Ella die Bettdecke beiseite und schlich auf Zehenspitzen zur geschlossenen Zimmertür. Langsam umschloss sie die Klinke mit ihren Fingern, drückte sie vorsichtig, um ja kein Geräusch zu verursachen, nach unten und zog die Tür einen kleinen Spalt auf. Sie lauschte in den Flur hinein. Nichts drang an ihre Ohren. Kein leises Gemurmel aus dem Wohnzimmer unten, kein anderes Geräusch. Noch immer erfüllte Stille das Haus. Obwohl Ella diese nach wie vor als bedrohlich empfand, war sie erleichtert - wahrscheinlich waren ihre Eltern eingeschlafen. Papa schlief sowieso häufig unten auf dem Sofa, und Mama war vielleicht,...
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