Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ausgelassen hüpfte Rieke den Feldweg entlang. Ob die Weidenkätzchen schon so weit waren? Ein paar Zweige mit zartem Grün dazu würden sich in der hohen, schlanken Vase bestimmt gut machen. Ein kostbares Stück aus der Königlich Preußischen Manufaktur und Großvaters ganzer Stolz, ein Erbstück, das nur an ganz besonderen Feiertagen aus der Glasvitrine in der Wohnstube geholt wurde. Großvater hatte ihr noch niemals erlaubt, sie überhaupt anzufassen. Irgendein Geheimnis umgab diese Vase. Dieser Verdacht war Rieke letzte Weihnachten gekommen, als sie mit dem Ärmel ihres Kleids an einem Tannenzweig hängengeblieben war und die Vase beinahe umgestoßen hätte. Fuchsteufelswild war der Großvater geworden, so, wie sie ihn nur ganz selten erlebte. Dann hatte er die Vase oben auf den Schrank gestellt, außer Reichweite seiner Enkelin. Rieke kam es vor, als wollte er das kostbare Stück vor ihr schützen. Nun jedoch stand Ostern vor der Tür.
Viel zu lang war dieser Winter gewesen, aber heute schien zum ersten Mal die Märzsonne mit ihrer ganzen Kraft. Endlich. Ein kristallklarer Himmel wölbte sich über dem Havelland. In der Feldmark tirilierten bereits die ersten Lerchen hoch oben in der Luft.
Es war für Friederike Ulrika gar nicht einfach gewesen, Großvater am frühen Morgen die Erlaubnis für diesen Ausflug abzuringen.
»So ganz alleine, Riekekind?« Bedenklich zog er die Augenbrauen zusammen.
»Aber Großvater, ich bin doch schon ein großes Mädchen und komme bald in die Schule«, hatte Rieke versucht ihn zu überzeugen. Nur widerwillig erteilte der »olle Prohaska« schließlich seine Genehmigung. Andererseits hatte er volles Verständnis, wenn es das Kind jetzt mit aller Macht nach draußen zog.
Am liebsten hätte er seine Enkelin ja begleitet, aber in einer halben Stunde erwartete er seinen nächsten Schüler. Emil war der Sohn des Schusters vom Ende der Straße, der nun schon das zweite Jahr dreimal die Woche zum Musikunterricht erschien. Bis zu dessen Ankunft konnte er ja noch ein bisschen vor der Tür stehen bleiben und die ersten Sonnenstrahlen genießen. Hinter dem Gartenzaun entdeckte Prohaska seinen Nachbarn, der bereits den Pflug angespannt hatte. Langsam zog sein schweres Kaltblut die ersten Furchen durch den sandigen Acker.
»Frühling«, sagte der Großvater und sog die frische Luft tief in sich ein. Schon fast außer Sichtweite entdeckte er seine fröhlich hüpfende Enkelin. »Zum Mittagessen bist du pünktlich zurück«, rief er ihr hinterher. »Hör auf den Glockenschlag der Turmuhr.« Rieke nickte und versetzte damit ihre blonden Locken in einen wilden Tanz. Es war ihr wieder einmal gelungen, sich vor dem obligatorischen morgendlichen Flechten zu drücken. Friederike Ulrika war ein kleiner Wildfang mit großem Freiheitsdrang und einem eisernen Willen.
Wie Eleonora.
Prohaska durchzuckte es wie ein Schlag. Da waren sie wieder, der Schmerz, die immer noch unbewältigte Trauer um seine Tochter, die sich bei ihm sogar körperlich bemerkbar machten. Mit beiden Händen fuhr er sich ins Kreuz. Heute war es wieder besonders schlimm. »Verfluchtes Zipperlein«, schimpfte er. Tief gebeugt, mit zusammengepressten Lippen schlurfte er zurück in die bescheidene Wohnstube seines winzigen Häuschens. Das Alter machte ihm mittlerweile doch ganz schön zu schaffen.
Fast ein Vierteljahrhundert war es her, dass er schwer verwundet aus dem Krieg zurückkehrte. Als ein junger unternehmungslustiger Mann war er damals gen Frankreich gezogen, hatte fest daran geglaubt, dass es Preußen und Österreich gelingen würde, der jakobinischen Blutherrschaft jenseits des Rheins ein Ende zu setzen. Als Invalide kehrte er zurück, dennoch weiterhin gezwungen, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Auf seine Gesine konnte er nicht bauen. Sie liebte den Branntwein mehr als den ihr angetrauten Mann und ihre leiblichen Kinder. Kaum war der Vater im Felde eingerückt, hatte sie sie in das Potsdamer Militärwaisenhaus abgeschoben. Ein Jahr nach seiner Rückkehr verstarb sie im Delirium tremens. Niemand weinte ihr eine Träne nach.
Lang, lang war all das her. Nun lebte er schon über zwanzig Jahre am Rande der preußischen Garnisonsstadt, städtisch genug, um aus den umliegenden Kasernen noch seine Schüler zu rekrutieren, nah genug, sich zum Unterrichten persönlich in eine der Villen des preußischen Adels zu begeben, dabei immer noch so ländlich, seiner geliebten Enkelin eine unbeschwerte Kindheit in freier Natur zu ermöglichen. Der Sacrower See lag nicht fern, aber Rieke hatte striktes Verbot, sich seinem Ufer zu nähern.
Beim Gedanken an seine Enkelin stieß Prohaska einen tiefen Seufzer aus. Sieben Jahre alt war sie im Januar geworden. In wenigen Wochen sollte sie eingeschult werden. Rieke konnte es kaum mehr abwarten. Lesen und Schreiben hatte er ihr schon beigebracht. Besser gesagt, sie hatte es sich selbst beigebracht, indem sie ihm bei der Bibel- oder Zeitungslektüre immer über die Schulter geschaut und nach den einzelnen Buchstaben gefragt hatte. Sie war ein aufgewecktes kleines Mädchen, sehr hübsch dazu, mit glänzend blonden Haaren und riesigen strahlend blauen Augen. Hübsch und klug zugleich war seine Rieke.
»Zu hübsch, zu klug, gar nicht gut für ein Mädchen dieser Herkunft«, murmelte Prohaska missgelaunt. Nein, er war weniger missgelaunt als besorgt. Was für eine Zukunft konnte er seiner Enkelin bieten? Wie lange würde er noch leben, um für sie zu sorgen und sie beschützen zu können? Was kam nach der Schule auf sie zu? Sollte er sie in Stellung geben? Kein Problem, bei ihrer Flinkheit und Geschicklichkeit würde sie ganz schnell etwas finden. Die alte von Zedlitz stellte ihre Dienstmädchen bereits im Kindesalter ein. »Damit ich sie nach meinem Willen erziehen, nach meinen Vorstellungen prägen und so anständige Zofen aus ihnen machen kann«, hatte sie ihm einmal erklärt. Sein Befremden beim Anblick eines kleinen Mädchens, das ihm beflissen eine Tasse Tee einschenkte, war wohl zu offenkundig gewesen. Als ehemaliger Unteroffizier der Preußischen Armee hatte Prohaska begrenzten Zutritt beim höheren Adel. Die unkonventionelle von Zedlitz trank nach dem Musikunterricht gerne einmal eine Tasse Tee mit dem Trompetenlehrer ihres jüngsten Sohnes. Insofern wäre es Prohaska auch ein Leichtes gewesen, seine Enkelin entsprechend zu protegieren und ihr eine gute Stellung in einem angesehenen Hause zu verschaffen. Allein, schon der Gedanke an eine Trennung machte ihm das Herz schwer.
»Sie ist doch erst sieben geworden und kommt zunächst einmal in die Schule«, versuchte Prohaska sich selbst zu beschwichtigen. Er griff nach der Pfeife und dem Tabaksbeutel, die stets griffbereit neben dem Notenstapel auf dem hölzernen Tisch in der kleinen Wohnstube bereitlagen. Er stopfte den weißen Tonkopf und zündete sie an. Im Nu war er von dichten Tabakwolken umhüllt. Die würden Emil wieder zum Husten bringen. Egal, wenn er ein richtiger Soldat werden wollte, musste er noch Schlimmeres ertragen.
Ob er mal ein ernsthaftes Wort mit Heinrich redete, überlegte Prohaska. Emils Vater war wie er ein Kriegsveteran, aber glücklich verheiratet mit seiner Marie. Zehn Kinder hatte sie ihm geboren. Drei von ihnen waren früh verstorben, die anderen mittlerweile alle schon groß und aus dem Haus, bis auf den Jüngsten, Emil, der seine Musterung kaum erwarten konnte. Ziemliche Flausen hatte der Junge im Kopf.
Bei einigen Gläsern Branntwein im Dorfkrug hatten Prohaska und Emils Vater Enkelin und jüngsten Sohn im Geiste schon einmal miteinander verkuppelt. Ob Heinrich sich daran noch erinnerte? Marie hätte bestimmt nichts dagegen, die kleine Rieke unter ihre Fittiche zu nehmen, wenn er einmal nicht mehr war. Ärgerlich wischte sich Prohaska über die Stirn, um seine trüben Gedanken zu verscheuchen. Was war heute nur los mit ihm? Er neigte doch sonst nicht dazu, Trübsal zu blasen, und nun gerade heute, am ersten richtigen Frühlingstag des Jahres. Warum war er nur so bedrückt?
Todesahnungen?
»Quatsch!«, sagte er laut und vernehmlich. Seine Kriegsverletzung war längst verheilt. An den Phantomschmerz seines amputierten rechten Fußes hatte er sich seit Jahren gewöhnt, und mit der Gicht musste er leben wie alle anderen Menschen seines Alters auch.
War es Riekes bevorstehende Einschulung, die ihn so belastete? Dabei freute sie sich so sehr, endlich häufiger mit anderen, mit gleichaltrigen Kindern zusammenzukommen. Bislang hatte er es geschickt verstanden, sie von jeglichen Außenkontakten abzuschirmen. Wenn sie jetzt zur Schule kam, war es damit vorbei. Dann würde ihr auch bewusst werden, dass sie bislang noch nie eine gleichaltrige Freundin gehabt hatte. Ihre ersten sieben Lebensjahre hatte Rieke fast ausschließlich zwischen Erwachsenen verbracht. Doch weil sie es nicht anders kannte, war sie sich dessen gar nicht bewusst. Bislang. Aber wenn sie sich bald mit ihren Klassenkameraden verglich, würde ihr rasch auffallen, dass diese ein ganz anderes Leben führten, in einer Familie mit Mutter, Vater, Brüdern und Schwestern, alle viel jünger als ihr Großvater, der »olle Prohaska«. So nannte ihn das ganze Viertel. Rieke kannte es nicht anders, hatte keine Ahnung, dass ihr Familienleben sich von dem der anderen unterschied, wusste nicht, was es hieß, richtige Eltern zu haben. Sie vermisste diese auch nicht, denn sie wurde geliebt, aus tiefstem Herzen geliebt von ihrem Großvater, einem Invaliden des Koalitionskrieges. Wie ein undurchdringlicher schützender Kokon hatte diese fürsorgliche Liebe Rieke seit ihrer Geburt umgeben und sie zu einem selbstbewussten, glücklichen kleinen Mädchen heranwachsen lassen.
Ja, Rieke war glücklich, an diesem Tag besonders glücklich. Nicht einen Gedanken verschwendete sie an Großvater,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.