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Ich bin Anfang der 1970er-Jahre in der DDR geboren, aufgewachsen zwischen Plattenbau, Kohleofen und dem ewigen Geruch von Zweitaktgemisch in der Luft. Wie wohl jeder Junge in meinem Alter träumte ich früh von einem eigenen Motorrad. Die großen MZ-Maschinen flogen an einem vorbei wie Raketen, die kleinen Simsons knatterten durch die Dörfer - und ich stand daneben, mit leuchtenden Augen.
Doch der Weg dorthin war lang. Zum einen fehlte mir schlicht das Geld für den Führerschein. Zum anderen gab es in der DDR nur wenige Plätze in den staatlichen Fahrschulen, und die waren schnell vergeben. Es sah lange so aus, als würde mein Traum vom Motorradfahren ein Traum bleiben. Dann kam die Gelegenheit und Chance.
Während meiner Lehre bei der Deutschen Reichsbahn eröffnete sich mir eine Möglichkeit: Über die GST, die Gesellschaft für Sport und Technik, konnten wir im Rahmen der sogenannten militärischen Vorausbildung den Führerschein machen. Im ersten Lehrjahr war der Motorradführerschein geplant, im zweiten sollte der LKW-Führerschein folgen - alles im Sinne der Vorbereitung auf den Wehrdienst, als künftiger Militärkraftfahrer. Doch mit dem politischen Umbruch fiel die LKW-Ausbildung weg. Immerhin: Den Motorradführerschein durften wir noch beenden - und das zu erstaunlich günstigen Bedingungen. Ich erinnere mich noch genau: Eine Woche vor der Währungsunion hatte ich das begehrte Dokument endlich in der Hand.
Ein Moment voller Aufbruch - nicht nur politisch, sondern auch ganz persönlich. Und weil zu dieser Zeit viele ihre alten DDR-Mopeds und -Motorräder für wenig Geld loswerden wollten, schlug ich zu: Für gerade einmal 50 D-Mark kaufte ich mein erstes eigenes Moped - eine Simson S50 mit Vierganggetriebe. Sie war verkratzt, sie war laut, sie hatte Charakter. Und sie war der Beginn einer Leidenschaft, die mich bis heute begleitet.
Mehr als nur ein Hobby: Zweiräder in der DDR
Wenn man verstehen will, warum Mopeds und Motorräder in der DDR einen so hohen Stellenwert hatten, muss man sich ein wenig mit den Verhältnissen jener Zeit beschäftigen. Denn wer heute an ein Moped denkt, denkt vielleicht an Wochenendausflüge, an Schrauberhobbys oder an einen Hauch von Nostalgie. In der DDR jedoch waren Simson, MZ & Co. weit mehr als das - sie waren für viele Menschen schlichtweg notwendig.
Das hatte nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch mit politischen Entscheidungen und den begrenzten Möglichkeiten der zentral geplanten Verkehrspolitik zu tun. Wie genau das alles zusammenhängt - und warum ein Simson-Moped für viele Jugendlich der erste große Schritt in die Freiheit war - das schauen wir uns gleich noch etwas genauer an.
Als die DDR 1949 gegründet wurde, stand sie vor einem gewaltigen Wiederaufbau - auch im Bereich der Mobilität. Die kriegsbedingte Zerstörung hatte große Teile der Infrastruktur vernichtet, und was an automobilindustrieller Basis noch existierte, konzentrierte sich im Wesentlichen auf zwei Standorte: Eisenach und Zwickau. Dort sind schon vor dem Krieg Fahrzeuge produziert worden - in Eisenach unter anderem von BMW, in Zwickau von Horch und später Auto Union -, doch nun fehlte es an allem: Maschinen, Material, Fachkräften. Hinzu kamen sowjetische Reparationsforderungen und die großflächige Demontage ganzer Produktionsanlagen. Der Wiederaufbau konzentrierte sich auf die Schwerindustrie - Maschinenbau, Bergbau, Chemie -, der private Pkw-Bau spielte in den zentralen Wirtschaftsplänen zunächst nur eine Nebenrolle. Stattdessen wurde das Wenige, was vorhanden war, auf den industriellen Bedarf und auf Nutzfahrzeuge ausgerichtet. Die Folge: Der Traum vom eigenen Auto blieb für viele DDR-Bürger über Jahrzehnte hinweg unerreichbar. Wer dennoch mobil sein wollte, musste sich nach Alternativen umsehen - und genau hier begannen Mopeds und Motorräder ihren Siegeszug.
Doch es waren nicht nur die begrenzten Produktionskapazitäten, die den DDR-Bürgern den Zugang zum eigenen Fahrzeug erschwerten. Auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung spielte eine entscheidende Rolle. Die DDR hatte einen hohen Bedarf an Devisen, um auf dem Weltmarkt Waren einzukaufen, die sie selbst nicht herstellen konnte - von modernen Maschinen bis hin zu bestimmten Rohstoffen. Um an westliche Währung zu kommen, wurden viele der im Inland gefertigten Fahrzeuge lieber exportiert als an die eigene Bevölkerung abgegeben. Gerade modernere Modelle - etwa Wartburg - verließen direkt nach der Fertigung die Werksgelände in Richtung Westen oder in andere "sozialistische Bruderländer". Der Inlandsbedarf wurde dagegen streng rationiert. Wer ein neues Auto beantragte, musste sich auf Jahre des Wartens einstellen. Die Verteilung folgte zentralen Planvorgaben - und wer keinen systemrelevanten Beruf oder "besondere Verdienste" nachweisen konnte, hatte oft das Nachsehen. So entstand ein alltäglicher Mangel, den man hinnahm - aber auch kreativ umging. Wer mobil sein wollte, setzte auf das, was verfügbar war: das Zweirad. Mopeds, Kleinkrafträder und Motorräder wurden dadurch nicht nur zur Notlösung, sondern für viele zur ersten Wahl.
Im Jahr 1989 kamen in der DDR 225 Pkw auf 1 000 Einwohner. In der Bundesrepublik waren es im selben Jahr bereits 468 - also mehr als doppelt so viele. Diese Lücke zog sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte der DDR. Sie wurde nicht kleiner, sondern wuchs im Laufe der Jahrzehnte sogar weiter an.
Ein Neuwagen war für die allermeisten DDR-Bürger nur über eine verbindliche Vorbestellung zu bekommen. 1966 lag die durchschnittliche Wartezeit bei rund sechs Jahren - bis Ende der 1980er hatte sie sich auf bis zu 12 bis 15 Jahre erhöht, etwa beim Trabant. Das bedeutete: Wer ein Fahrzeug wollte, musste es sehr früh planen, in der Regel ohne genau zu wissen, wann oder ob es überhaupt geliefert werden würde.
Hinzu kam ein wirtschaftliches Paradoxon: Aufgrund der sozialistischen Preis- und Lohnpolitik blieben die Fahrzeugpreise über Jahrzehnte hinweg nahezu konstant. Ein Trabant kostete 1962 rund 7 850 Mark, 1986 waren es gerade einmal 8 500 Mark. Was auf dem Papier bezahlbar klang, führte in der Praxis zu einer enormen Übernachfrage - und ließ die Preise auf dem Gebrauchtmarkt regelrecht explodieren. Für einen sofort verfügbaren, gebrauchten Trabant zahlte man nicht selten deutlich mehr als für einen fabrikneuen, der aber Jahre entfernt war.
Diese strukturelle Unterversorgung mit Autos war keine Ausnahme, sondern fester Bestandteil der Realität in der DDR - und ein entscheidender Grund dafür, warum so viele Menschen auf Mopeds und Motorräder auswichen.
In den Städten verfügte die DDR über ein erstaunlich dichtes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. Straßenbahnen, S- und U-Bahnen, Oberleitungsbusse und der Nahverkehr der Deutschen Reichsbahn bildeten gemeinsam das Rückgrat der urbanen Mobilität. Die Fahrpreise waren bewusst niedrig gehalten - stark subventioniert vom Staat -, damit wirklich jeder zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen kam. Das funktionierte im Alltag meist gut, wenn auch nicht immer bequem.
Anders sah es auf dem Land aus. Dort war das Angebot deutlich dünner, der Takt ausgedünnt, Verbindungen fehlten oder fuhren nur ein- bis zweimal am Tag. Wer abseits der Hauptachsen wohnte, war aufgeschmissen - vor allem, wenn Schichtzeiten oder weite Wege dazukamen. Hier schlossen Mopeds und Motorräder die Lücke, die der öffentliche Nahverkehr hinterließ: zwischen Wohnort, Ausbildungsstätte, Arbeitsplatz oder dem nächsten Bahnhof.
Gerade auf dem Land waren Simson, MZ und Co. deshalb keine Liebhaberei - sie waren Notwendigkeit. Wer mobil sein wollte, musste selbst fahren. Das Zweirad wurde zur individuellsten Form der Fortbewegung in einem System, das Individualverkehr eigentlich nur am Rand duldete. Und je größer die Mobilitätslücke, desto wichtiger wurde das eigene Moped - ob für den Weg zur LPG, zum Kombinat oder zur Berufsschule.
Wer in der DDR mobil sein wollte, fand im Kleinkraftrad eine echte Chance - vor allem als Jugendlicher. Denn schon mit 15 Jahren durfte man mit der Fahrerlaubnis der Klasse 4 ein Kleinkraftrad bis 50 cm3 und 60 km/h fahren. Diese Fahrzeuge waren steuer- und kennzeichenfrei, und die Haftpflichtversicherung kostete gerade einmal 8,50 Mark im Jahr. Niedrigere Einstiegshürden konnte es kaum geben.
Kein Wunder also, dass sich diese Fahrzeuge im ganzen Land durchsetzten. 1975 kamen in der DDR 123 Kleinkrafträder auf 1 000 Einwohner - fast viermal so viele wie im Westen. Ob im Dorf oder in der Stadt, in Schulhöfen oder vor dem Werkstor: Das Knattern eines Simson-Motors gehörte zum Alltag wie das Pfeifen des ABV.
Hergestellt wurden diese Maschinen vor allem in Suhl und Zschopau. Simson fertigte in seiner Geschichte knapp sechs Millionen Kleinkrafträder - in den späten 1980er-Jahren verließen jährlich bis zu 200 000 Fahrzeuge das Werk. MZ in Zschopau wiederum avancierte in den 1960er-Jahren sogar zeitweise zum größten Motorradhersteller Europas. Beide Betriebe produzierten nicht...
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