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Julian Hanich / Michael Wedel
Warum noch eine weitere Buchpublikation über Friedrich Wilhelm Murnau? Gibt es nicht genügend Bücher, auf die getrost zurückgreifen kann, wer sich für den neben Fritz Lang bekanntesten Regisseur des Weimarer Kinos interessiert? Nun, wer in Bibliotheken oder Buchhandlungen nach Büchern über Murnau sucht, wird sich verwundert die Augen reiben. Sieht man von einigen verstreuten und mitunter schon recht angestaubten Sammelbänden ab, wurde dem Regisseur im deutsch- oder englischsprachigen Raum seit Lotte Eisners Murnau-Buch von 1964 (vollständige deutsche Übersetzung: 1979) keine Monografie mehr gewidmet. Ein Gegenstück zu Tom Gunnings großer Fritz-Lang-Studie oder Hermann Kappelhoffs Georg-Wilhelm-Pabst-Monografie sucht man vergebens.1 Sicher: Es gibt den über zwanzig Jahre alten Katalog zur Berlinale-Retrospektive von 2003. Und zweifellos sind zu Murnaus Filmen über die Jahre viele Einzelinterpretationen erschienen, vor allem zu seinen bekanntesten Werken NOSFERATU (1921), DER LETZTE MANN (1924), FAUST (1926) und SUNRISE (1927).2 Doch dieses Film-Konzepte- Heft wird mit seinen sieben Beiträgen einen anderen Weg gehen.
Zum einen setzen die hier versammelten Aufsätze nicht bei einzelnen Filmen an, sondern versuchen größere Bögen zu schlagen. Themen, Motive und Konzepte stehen im Vordergrund, nicht Interpretationen einzelner Filme. Zum anderen lenken sie den Blick auf seltener diskutierte Filme wie DER GANG IN DIE NACHT (1921), DER BRENNENDE ACKER (1922), PHANTOM (1922), DIE FINANZEN DES GROSSHERZOGS (1923) oder TARTÜFF (1925).3 Damit befreit das vorliegende Heft Murnau ein Stück weit aus dem Griff bisheriger Interpretationen. Denn deren Bild - so sehr es funkeln, so filigran es auch gezeichnet sein mag - ist in der Summe vermutlich zu einseitig. Schaut man sich die einflussreichsten Skizzierungen des Werks von Murnau etwas genauer an, zeichnen sich vor allem vier Strömungen ab.
Den bis heute größten Einfluss auf die Rezeption Murnaus hatte zweifellos Eisners Murnau-Monografie, zusammen mit den ihm gewidmeten Teilen in ihrem erstmals 1952 auf Französisch erschienenem Buch Die dämonische Leinwand.4 Für Eisner ist Murnau ein Innovationsgenie mit ganz persönlichem Stil.5 Mit kunsthistorischem Scharfsinn erkennt sie »jene für Murnau typischen zarten Nuancen der Licht- und Schattengebung«, »seinen wachen Sinn für Tiefenwirkung« und seine »Freude am Spiegeln von Scheiben«.6 Sie verzeichnet Anspielungen auf Mantegna und Holbein, Chardin und Watteau, Rembrandt und Goya.7 Allerdings bereitet ihr das für die Herstellung von Filmen typische Teamwork argumentative Probleme: Um Murnaus Status als Originalgenie herauszustellen, muss sie ihn gegen die Ansprüche seiner Mitarbeiter verteidigen, die einen Teil der Originalität der Filme für sich selbst beanspruchten. Vor allem der Kameramann Karl Freund und der Drehbuchautor Carl Mayer müssen dabei erhebliche Anteile abtreten.8 Eisner sieht sich dafür die Drehbuchfassungen an, um behaupten zu können, Murnau hätte bereits im Skript alles angelegt, noch bevor Architekten und Kameramänner zum Zuge kamen.9
Zupass kommen ihr dabei die 19-seitigen Erinnerungen des Filmarchitekten Robert Herlth an die Dreharbeiten mit Murnau, die sie dankbar in ihr Buch einbaut.10 Auch bei Herlth erscheint Murnau, dieser »schlanke Herr im weißen Arbeitskittel«, als unermüdlicher Innovationsmotor und optischer Visionär.11 Der Architekt von DER LETZTE MANN, TARTÜFF und FAUST spricht vom »Übermut derer, die sich bewusst waren, etwas Ungewöhnliches zu schaffen«.12 An einer Stelle zitiert er den Produzenten Erich Pommer, der Murnau und sein Team gebeten haben soll: »Erfindet bitte etwas Neues, auch wenn es verrückt sein sollte!«13 Lösungen wurden so lange gesucht, bis Murnau schließlich »Heureka« rief.14 Auch Eisner selbst wird nicht müde, den Aufwand zu betonen, den Murnau für seine Filme betrieb.15 Symptomatisch für dieses Bild des filmischen Stil-Genies ist Eisners Ablehnung der komischen Szenen in DIE FINANZEN DES GROSSHERZOGS, DER LETZTE MANN und SUNRISE, die nicht ins Bild zu passen scheinen.16 Michael Wedel argumentiert in seinem Beitrag entschieden gegen eine solche eindimensionale Sichtweise.
Dem Text von Herlth wäre auch noch eine andere Einsicht zu entnehmen gewesen: nämlich jene, dass ästhetische Innovationen das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung sind, die sich in einem von kulturellen Dispositionen, technischen Möglichkeiten, wirtschaftlichen Erwägungen und gesellschaftlichen Konventionen abgesteckten Rahmen vollzieht. Denn Herlth erinnert sich in Bezug auf die Dreharbeiten zu DER LETZTE MANN auch daran, dass »jeder neue Arbeitstag eine einzige Gelegenheit« gewesen sei, »sich in Erfindungen neuer Tricks zu überbieten«: »Bei jeder neuen Einstellung war man gespannt, was der andere sagen würde, und wie begeistert auch immer darüber - doch auch etwas eifersüchtig, wenn man selbst nicht die Lösung gefunden hatte. (...) Uns schien, als die Arbeit abgeschlossen war, als hätten wir ein neues >optisches< Sehen entdeckt.«17
Abb. 1: Murnau und Emil Jannings bei der Arbeit an FAUST (© Stiftung Deutsche Kinemathek)
Eine unvergleichlich größere Resonanz als diese Passage hat Herlths Bezeichnung Murnaus als eines »Raffael ohne Hände«18 gefunden. In diesem - von Katharina Loew im vorliegenden Heft einer differenzierten Revision unterzogenen - Lob spiegelt sich eine andere weitverbreitete Tendenz der Murnau-Rezeption, die seine Filme bevorzugt im Licht anderer Künste betrachtet. Natürlich ist es zum Teil einer rhetorischen Figur der Filmpublizistik geschuldet, wenn beispielsweise Thomas Koebner Murnau einen »Mies van der Rohe des Films« nennt.19 Andererseits hat man nicht selten das Gefühl, als wären Murnaus Filme für seine Interpreten vor allem durch derartige Vergleiche nobilitierbar. So schreibt Éric Rohmer: »Murnau lässt in seinen Filmen, besonders im FAUST, eine wirkliche und tiefe Kenntnis der Malerei erkennen.«20 Für Rohmer ist Murnau gar von allen Regisseuren »am meisten Maler«.21 Murnau hat dieser Wahrnehmung selbst gelegentlich Vorschub geleistet, als er schrieb: »Die Kamera ist der Zeichenstift des Regisseurs.«22 Neben der Nähe zur Bildenden Kunst gibt es aber auch zahllose Vergleiche mit der Musik, wenn etwa Rohmer FAUST als »eine Art visueller Oper« bezeichnet.23 Auch hier gab Murnau mit Filmtiteln wie NOSFERATU - EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (1921) oder SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS die Richtung vor.
Der bei weitem häufigste Vergleich sieht in Murnau jedoch einen filmischen Lyriker. Schon unter deutschen Kritikern der 1920er und 1930er Jahre wie Frank Maraun, der Murnau als »dichterisch« bezeichnete, war die Analogie verbreitet.24 Es waren jedoch vor allem die jungen französischen Cahiers du cinéma-Kritiker, die den poetischen Charakter von Murnaus Filmen beschworen. So bezeichnete Alexandre Astruc Murnau als »den größten Dichter, den die Leinwand je gekannt hat«, und auch für Jean-Luc Godard bedeutete Murnaus Kino vor allem Dichtung.25 Jahrzehnte später noch spricht Jean-André Fieschi über die »unvermindert poetische Wirkung« von NOSFERATU und hält Thomas Elsaesser Murnau für das »herausragende lyrische Genie des Stummfilmkinos«.26 Was sind die Gründe für diese Häufung von Lyrik-Analogien? Als erstes könnte man die Bedeutung der Natur und der plein-air-Fotografie in Filmen von DER GANG IN DIE NACHT und NOSFERATU bis CITY GIRL (1930) und TABU nennen. Zweitens spielen Atmosphären und Stimmungen eine wichtige Rolle, von SCHLOSS VOGELÖD (1921) und DER LETZTE MANN bis FAUST und SUNRISE. Drittens sind in Murnaus Filmen mit ihrer Betonung auf Komposition und Tiefeninszenierung, Lichteffekten und Kamerabewegung die erzählerischen Ursachen und Wirkungen weniger eng und oft auf nicht unmittelbar kausallogische Weise verknüpft. Und viertens taucht Murnau häufig in die Subjektivität seiner Figuren ein und unterbricht den Fortgang der Handlung mit Momenten psychologischer Selbstreflexion, am markantesten vermutlich in PHANTOM und DER LETZTE MANN. Indem die Beiträge zu diesem Band quer durch Murnaus Werk der Visualisierung von Hör- und Fühlbarem nachgehen (Julian Hanich), der Inszenierung von Gerüchten (Nicholas Baer), dem Zusammenhang von Körperspiel und Stofflichkeit (Kristina Köhler), Wahnsinn und Gesellschaft (Guido Kirsten) sowie Natur und Fantastik (Daniel Illger), schlagen sie neue und zum Teil durchaus unverhoffte Schneisen durch die narrativen Gewebe und das ästhetische Geflecht seiner Filme.
Neben dem Innovationsgenie und dem lyrischen Filmkünstler gibt es in der Murnau-Rezeption einen dritten >physiognomischen< Typus: Murnau, der romantische Melancholiker. Diese Typisierung hat sich bereits zu Lebzeiten Murnaus abgezeichnet und ist anschließend - unter dem Einfluss Eisners - vor allem in Frankreich und im angloamerikanischen Bereich verbreitet...
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