Die Reise nach Kolonos
Das Übersetzen des Ödipus in Kolonos hatte mich vom Mai bis zum September 2002 beschäftigt. Mittendrin nahm ich mir vor, zu dem Kolonos von heute zu reisen. Lange hatte mir der Ort als eine Art Insel vorgeschwebt, wohl auch durch den eingebürgerten deutschen Titel des Dramas, ». auf Kolonos«. Selbst als sich herausstellte, Kolonos sei inzwischen ein Bezirk des jetzigen Groß-Athen, glaubte ich diesen Bezirk weit draußen in der Landschaft von Attika, irgendwo an den Rändern. Auf den mir in der Ferne verfügbaren Athen-Plänen war jedenfalls kein »Kolonos« eingezeichnet. Ein Kenner der griechischen Hauptstadt erzählte mir dann freilich, das Viertel oder der »Demos« Kolonos befinde sich in einer Art Zwischenzone, fast nah dem Zentrum mit der Akropolis, dem Parlamentsplatz und dem Likavitos-Hügel. Er kannte nicht nur das Quartier, sondern auch mehr oder weniger mich und sagte, in Kolonos sei weder etwas zu besichtigen, noch sei dort etwas los (er sprach französisch und meinte »C'est null«), und also werde es mir dort gefallen.
Zu Anfang dieses Jahres 2003 jetzt bin ich endlich nach Kolonos aufgebrochen. Ich habe in seinen Straßen, auf seinen Plätzen und in seinen gar spärlichen »Parks« einen ganzen Tag verbracht, und es wurde mit der Zeit mehr oder anderes als »Gefallen«, was mich in Kolonos bleiben oder verweilen ließ. Am Morgen in Piräus, von wo ich mich auf den Weg machte, rüstete ich mich mit einem riesigen, gar nicht so umstandslos auf- und zuzufaltenden Athen-Plan, in welchem »Kolonos« endlich verzeichnet stand, wenn auch nicht, wie die Touristenstätten alle, mit den allgemein lesbaren lateinischen Lettern unter den originalgriechischen Schriftzeichen: da fand sich allein ??????? in blaßblauer, schwer aufzuspürender Kleinhandschrift, während die Straßennamen ganz Athens schwarze, deutliche Druckbuchstaben hatten. Aber jedenfalls: da war es, unmittelbar angrenzend an die innere Stadt, zur Linken des Peloponnesbahnhofs und seines breiten Gleisfelds, den Beginn des Nordwestens der Kapitale markierend, wozu auch die geradewegs nordwestwärts führende, dabei gar schmale Hauptstraße paßte, samt ihrem Namen Ioanninastraße - die Stadt Ioannina, mit der archaischen Orakelstätte Dodona in der Nähe, liegt ja ziemlich genau in dieser Richtung, vielleicht drei-, vierhundert Kilometer weiter - und ebenso gibt es eine Dodonastraße in Kolonos, mehr stadtauswärts, welche die Ioanninastraße kreuzt.
Es wurde an diesem 3. Januar 2003 bald warm, und ich ging mit dem Mantel über dem Arm. Am Vorabend hatte mich in einem Café ein älterer Mann angesprochen und mir dann Andeutungen zum heutigen Kolonos gemacht: »Nachtleben«; »Albaner« (es war ja auch, von Piräus aus, die Richtung nach Albanien), »Morde«. Zugleich war im Fernseher der Gaststätte der Vorabend-Quiz im Gang, und eine der Fragen, im Mythenteil, lautete, wie der von seinem Sohn Ödipus unwissend am Kreuzweg erschlagene König von Theben und Mann der Iokaste (die, Mutter des Ödipus, später unwissend ihres Sohns Frau und Geliebte werden sollte), geheißen habe. »Laios!« rief einer der Gefragten im TV.
Jetzt am Tage hatte Kolonos vordringlich den Anschein eines, nicht bloß in Athen, erstaunlich stillen, dabei bescheidenen und schön belebten Wohnviertels. Gab es denn keine Läden? Doch, fast jedes Gebäude hatte einen - der aber so unscheinbar war, daß man ihn auf den ersten Blick kaum als das Gemüse- und Früchtegeschäft, die Schusterwerkstatt, die Garage, die Bäckerei, die Fischhandlung sah; erst im Betreten des in der Regel eher licht- und schaufensterlosen Parterreraumes zeigte sich in diesem allmählich das, was zu einem Handel gehörte. Und wie fast eine Regel an neuen Orten: Schon nach den ersten Schritten wurde ich Fremder dort nach dem Weg gefragt, und gleich dann wieder.
Ich hatte erwartet, es werde in Athen-Kolonos bergauf gehen. Aber sämtliche Straßen, in die ich dann vom Hodos Ioanninon abbog, waren fast ohne Steigung und verliefen auch mehr oder weniger geradeaus. Immer wieder schaute ich mich da wie dort um, ob sich nicht einmal im Südosten, wie vom Ödipus in Kolonos vor fast zweieinhalbtausend Jahren beschworen, die Akropolis, die Hohe Stadt, der kalkig-mamorne Felsen mit dem Parthenontempel zeigte. Dieser erschien später, kaum wahrnehmbar weit hinter der breiten Gleisschneise vom Peloponnesbahnhof, im Fluchtpunkt der Häuserzeilen, die, viel höher als die meisten in Kolonos, schon zum anderen Stadtteil namens »Attiki« gehörten. Hier machte ich kehrt: allein das Durchstreifen von Kolonos zählte an diesem Tag. Vorher versuchte ich noch ein Photo der Akropolis von der Stadtteilgrenze aus, mit einer »Einweg«-Kamera, zuvor gekauft in einem kleinen Laden am Platz der Kirche des Heiligen Meletios, wo Kolonos sein Zentrum zu haben schien, mit Cafés (kafeneia), Restaurants (estiatoria), fußballspielenden Kindern, karten- und würfelspielenden Alten - in ganz Kolonos aber nirgends ein Hotel oder auch nur eine Etagenpension? Auch kein Kino? (Auf dem entwickelten Photo dann gab sich der Athener Burgberg nicht zu erkennen.) Auf dem besagten Platz (plateia) fanden sich auch zwei Zeitungskioske, die Journale wie in Griechenland üblich mit Wäscheklammern befestigt; »internationale Presse«? ja, aber nur rumänisch, bulgarisch und albanisch; zwischen den Kiosken ein Gedenkstein für die örtlichen Opfer der deutschen Besetzung von 1941 bis 1944, eins der Opfer mit dem Vornamen Sokrates. »Ruhm und Ehre, time kai doxa!«
Wurde in dem Drama des heimstattsuchenden »Irrsterns« Ödipus nicht einmal erwähnt, daß Kolonos schluchtenreich ist, mit zwei aufragenden Felsköpfen? War im Lauf der Jahrtausende denn auch hier das Land planiert worden? Im Vertrauen, zumindest noch Spuren der einstigen Erhebungen zu finden, kurvte ich in den folgenden Stunden durch die Straßen, kreuz und quer, in sämtliche Himmels- und Windrichtungen; eine der Straßen hieß »Hodos Himarras«; etwa Sturzbachstraße, eine diese kreuzende, sehr lange, »Straße des Nördlichen Epirus« (und in meiner Vorstellung war Ödipus, geführt von seiner Tochter Antigone, da auf seinem Umherstreifen durch Hellas dahergekommen - kein blinder Greis freilich zu erspähen an diesem Januartag - dafür noch und noch alte Männer mit dunklen Brillen und - nicht weißen - Stöcken, jeder alleingehend). Es fand sich auch, an der Westgrenze von Kolonos, eine »Ödipusstraße«, dahinter, parallel zu ihr, eine »Antigonestraße«, und sogar der Bösewicht Kreon, gleich wie die »Blutschänderin« Iokaste, war in Kolonos als Straßenpatron gewürdigt. Doch diese Wege verliefen samt und sonders weiter im Flachen, und ebenso gab es in der Straße, die nach einem Sturzbach hieß, von einem solchen, selbst jetzt im Winter, da es in Attika doch zeitweise regnete, weder Spur noch Nachbild. Dabei rief doch der »Ödipus von Kolonos« deutlich die Quellen, das Wasserrauschen usw. an, ebenso wie die Felsgupfe.
Es zeigte sich endlich eine Art Erhebung, und die Landkarte half mir dabei. Irgendwo stand da »Hügel (lofos) des Verschwundenen Kolonos« (wenn ich das richtig entziffert habe .), und auf dem Weg dahin, welcher sich unversehens San-Franciscohaft wellte, fand sich zu meiner Rechten eine Erhebung, die, jedenfalls so aus der Nähe, mehr schien als ein bloßer Hügel eben der im Drama besprochene Felskopf. Wieder eine Kirche an dessen Fuß, namens Hagios (Hl.) Aimilianos, und obenauf ein Kinderspielplatz und eine Gaststätte, in der Hauptsache aber Dickicht und Unterholz, und der Sockel endlich wie unversehrt, mit Bahnen und Schichten des nackten fast weißen Kalksteins (s. »schimmerndes Kolonos«, Vers 670), und der Name der Klippe, Skuse, kam der von skuseïn = plärren, schreien oder vom altgriechischen Skotia, Finsternis? Von hier oben mußte doch das Athener Zentrum, samt Akropolis, zu sehen sein? Ich, einziger Gast, ging lange auf der Terrasse des Gipfelcafés hin und her, und suchte. Aber der Südosthang da war wohl die bevorzugte Wohnlage von Kolonos, und die Häuser hatten, sehr ungewöhnlich für den Ort, mehrere Stockwerke; schließlich fragte ich das Kind des Wirts, und es zeigte durch die Gebäudebarrieren durch auf Athen-Mitte.
Auch von der zweiten Erhebung aus, dem Hügel des Entschwundenen??(?)...