Schweitzer Fachinformationen
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Einleitung
Rituale als Rastplätze des Lebens
Emilia Handke
Das Leben ist eine Reise. Täler und Berge, Wiesen und Auen, Klippen und Dünen, Wüstenlandschaft, Sümpfe, Stromschnellen und ruhige See wechseln einander ab. Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ab und an beschleicht uns das dumpfe Gefühl, auf einem Vulkan zu sitzen oder in der Höhle des Löwen auszuharren. Bisweilen lässt man sich zu der Feststellung hinreißen: Jetzt bin ich definitiv in Absurdistan gelandet!? Und irgendwann nach langen Tagen und durchwachten Nächten dann wieder: grenzenlose Weite und endloses Himmelblau. Das aufatmende Gefühl von Freiheit. Die Wahl zwischen ausgetretenen und unbekannten Pfaden. Das Rauschen der Wellen, der Gesang der Vögel und nachts die Sterne über dir.
Manchmal kommen wir auf dieser Reise nur mit vorsichtigen Trippelschritten voran, ein anderes Mal tragen uns Siebenmeilenstiefel. Mal kriecht man - symbolisch auf dem Zahnfleisch - oder stolpert eher durch die Gegend, dann kann man plötzlich wieder größere Sprünge machen. Ab und an legt man einen Sprint ein - wenn man Strecke schaffen will, wenn der Druck groß ist. Mal ist Kurzstrecke, öfter wahrscheinlich Langstrecke angesagt. In manchen Zeiten sind wir in Begleitung, manchmal aber auch ganz alleine unterwegs .
Wenn wir auf dieser Reise durch abenteuerliche Lebenslandschaften und Gefühlsgemengelagen mit anderen Menschen zusammentreffen und nicht bei einer oberflächlichen Bekanntschaft stehen bleiben, dann erzählen wir einander in der Regel von wichtigen Erlebnissen, von besonderen Momenten auf unserer Lebensreise. Dann wird Leben zur erzählten Zeit. Selten erzählen wir dabei vom Alltag, sondern vielmehr von den Stationen, auf denen uns etwas Wichtiges widerfahren ist. Momente, die sich herausheben aus dem Einerlei des Alltags: in denen wir herausgefordert waren, die sich uns eingebrannt haben, die wir nicht mehr loswerden, aus denen wir leben, die immer bleiben. Sie haben oft mit anderen Menschen zu tun: Wir haben einen Weggefährten getroffen, der unserem Leben eine andere Richtung gegeben hat. Oder wir haben uns auf unserer Wanderschaft von jemandem verabschieden müssen, der von unserer Reise bisher einfach nicht wegzudenken war. Oder wir haben bewusst zueinander gesagt: Lass uns beide ab jetzt besser getrennte Wege gehen! Oder einander das Gegenteil versprochen: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.« (Rut 1,16) Das ist übrigens einer der beliebtesten Hochzeitssprüche aus der Bibel.
Manchmal gibt es auch kostbare Momente, die mit einer größeren Gemeinschaft zu tun haben: besondere Erinnerungen an eine Clique in der Schule, ein Team im Basketball-Club oder an die Fangemeinschaft in der Südkurve, an einen Chor oder eine andere Familie. Es gibt aber auch besondere Momente, die man ganz allein für sich hat: Erkenntnisse, die einem plötzlich aufleuchten; Augenblicke in der Natur, bei denen man am liebsten einfach nur stumm Applaus klatschen möchte; und auch Erfahrungen der Anwesenheit von etwas noch Größerem, das wir in der Kirche »Gott« nennen. Alle diese Momente sind für uns, Meike und mich, die Autorinnen dieses Buches, »heilige Momente«, weil wir glauben, dass Gott immer dabei ist - bei Abschied und Aufbruch und natürlich auch beim Unterwegssein. Manchmal kann man ihn fühlen oder schmecken, manchmal hört sich Gott eher wie ein sanftes Säuseln an. Davon erzählen eigentlich alle Geschichten der Bibel.
Die besonderen Momente auf unserer Lebensreise, die Momente, in denen wir innehalten und von denen wir einander erzählen - genau um diese Momente geht es in diesem Buch. Denn auf unserer Reise brauchen wir immer wieder Rastplätze und Herbergen, an denen wir Pause machen können oder den Zäsuren in unserem Leben Raum geben dürfen.
Rituale mit ihrer Mischung aus alten und neuen Worten wollen genau so etwas sein - Orte, an denen du dich ausruhen und erholen kannst, ein Obdach auf deiner Reise findest. Rituale sind Orte, an denen die richtigen Worte schon bereitliegen. Denn unser Leben braucht immer wieder eine Sprache, die es auslotet, die es auf den Punkt bringt: Wir brauchen Worte, die Auswege zeigen, Dank zum Ausdruck bringen und Segen schenken zum Weitergehen. Manchmal gelingt es uns, diese bergenden und behütenden oder Kraft schenkenden Worte von alleine zu finden - öfter helfen uns geliehene Worte. Manchmal von Menschen aus unserer Nähe und manchmal eben auch aus heiligen Schriften wie der Bibel. Worte, die viele Jahrhunderte älter sind als wir selbst.
Wenn wir Pause machen und die Reise unterbrechen, dann gelingt uns für einen Moment ein kleiner Draufblick auf das, was vor uns, und das, was hinter uns liegt. Von dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard ist der viel zitierte Satz überliefert: »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« Meike und ich glauben, dass da was dran ist: Verstehen lässt sich der eigene Weg oft erst, wenn man sich für dieses Verstehen auch Zeit nimmt, den Lauf des Lebens für einen Moment unterbricht und sich ganz bewusst in Beziehung setzt zu sich selbst, seiner Umgebung und - für uns - auch zu Gott. Mit diesem Rück- und Vorausblick dehnen Rituale die Zeit ein bisschen aus, indem sie einen bestimmten Moment des Lebens - eine Einschulung, eine Hochzeit, einen Abschied und vieles andere mehr - groß machen und ihn feiern, also würdigen und einbetten, ihm im wahrsten Sinne des Wortes »Zeit geben« und die Verbindungen stärken zu allen Menschen, die in diesem besonderen Moment an unserer Seite sind.
So wie Rastplätze und Herbergen kommen Rituale nicht aus dem Nichts. Da ist immer schon ein Baumstamm, auf den ich mich setzen kann, eine gemähte Wiese, auf der ich mein Zelt aufschlagen kann, oder eine Höhle, in die ich mich zurückziehen kann. Rituale transportieren Worte, Werte und Handlungen, die Menschen schon lange vor uns selbst wichtig waren. Zum Beispiel, wenn wir einen toten Menschen bestatten oder den unendlichen Wert eines neugeborenen Kindes feiern, für Speis und Trank danken oder für geleistete Arbeit. Damit stabilisieren sie das Leben, weil sie seinen Widerfahrnissen Fassung und seinen Wegstrecken Würdigung geben. Der Philosoph Byung-Chul Han hat das ziemlich schön auf den Punkt gebracht, indem er schreibt, dass Rituale »das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein [verwandeln]. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. [.] Sie machen die Zeit bewohnbar.«1 Ohne das alles würde sich noch viel stärker als ohnehin schon die Frage stellen, warum wir das alles tun: laufen und kämpfen, sprinten und ausharren, kriechen und springen, arbeiten und ausruhen, sich verbinden und trennen.
Das Kirchenjahr, an dem sich viele unserer Feiertage mit ihren alten Ritualen orientieren, bietet Rastplätze zu ganz unterschiedlichen Themen an: zum Beispiel die Zeit des Wartens im Advent, den Verzicht ab Aschermittwoch, den Dank für die Ernte im Herbst, die Zeit der Trauer im November oder den Ausblick auf unsere großen Hoffnungen am Ewigkeitssonntag. Und natürlich gehören auch Fasching und Karneval oder die Raunächte zu diesen Rastplätzen des Jahreskreises dazu. Ohne solche Rituale, die die Zeit strukturieren und uns Orientierung geben, ist die Zeit bloß »ein unbeständiger Fluss«2 - ohne Inseln, ohne Ankerplätze. Nur rauschendes Getöse. Je mehr jedoch die Selbstverständlichkeit dieser Rituale schwindet, desto schwieriger wird es für eine Gesellschaft, ein gemeinsames Ganzes zu entwickeln und zu verkörpern. Denn die Rituale geben uns auch die Möglichkeit, uns aus unserer Isolation in der Welt herauszuholen, indem sie uns zu einem bestimmten Anlass zusammenführen und dabei zu einer Gemeinschaft werden lassen. Eine bloße Masse von Tourist:innen auf einem Kreuzfahrtschiff ist noch keine Gemeinschaft - dazu braucht es Rituale des Kennenlernens und des miteinander Feierns und einen gemeinsam geteilten Wertehorizont.
Rituale leben von Wiederholungen. Indem wir individuell als Einzelne oder gemeinsam in einer Gesellschaft Worte und Handlungen wiederholen, brennen sie sich uns ein. Das Versprechen »In guten und in schlechten Zeiten .« ist wohl eines der bekanntesten Beispiele dafür. Oder auch Psalm 23 aus der Bibel. Als ich selbst am Totenbett meines Vaters saß, stand für mich die Zeit still. Alle eigenen Worte schienen mir fehl am Platz. Irgendwann nach langer Stille stiegen Worte auf, die ich in meiner Konfi-Zeit einmal auswendig lernen musste. Ich habe mich damals an ihnen festgehalten. Wie viele Menschen sie angesichts großer innerer Not wohl schon gemurmelt haben?
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. [.]
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, so fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich .«
Indem wir Worte und Handlungen wiederholen, lernen wir, sie tiefer zu verstehen - nämlich mit dem Herzen. Die Wiederholung bettet uns ein in die Gemeinschaft derer, die vor uns waren und die nach uns kommen. Wir verbinden uns in diesem Moment mit ihnen - durch alle Zeiten hinweg. Der Soziologe Hartmut Rosa hat das »kulturell etablierte Resonanzachsen« genannt. Sie werden durch Rituale gestiftet: Vertikal verbindet man sich dadurch mit Gott oder den Göttern, dem Kosmos, mit...
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