Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Straße nach Wyoming ist ein einziger Schilderwald. Auf den meisten Schildern wird vor einer Gefahr gewarnt: Achtung Wildwechsel. Achtung Steinschlag. Lastwagenfahrer: Bremsen überprüfen. Auf Straßensperrungen achten. Ab hier auf Elche achten. Schneerutschgebiet, Halten und Parken verboten. Den ganzen Weg von Kalifornien fahre ich in meinem Wagen hinter Mamas Auto her; Jeffrey sitzt neben mir. Und ich gebe mir große Mühe, beim Anblick der ganzen Schilder, die mir zeigen, dass wir in einer unzivilisierten, gefährlichen Gegend unterwegs sind, nicht auszuflippen.
Im Augenblick fahre ich durch einen Wald aus Drehkiefern, was mir total unwirklich vorkommt. Genauso wenig kann ich mich an den Anblick all der Nummernschilder der Autos gewöhnen, die an uns vorbeifahren und von denen viele links die ominöse Zahl 22 aufweisen. Diese Zahl hat uns hierhergebracht, nach sechs kurzen Wochen hektischer Vorbereitung; wir haben unser Haus verkauft, uns von den Freunden und Nachbarn verabschiedet, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte, haben zusammengepackt und sind nun dabei, an einen Ort zu ziehen, an dem wir keine einzige Menschenseele kennen: Teton County, Wyoming; laut Google der Verwaltungsbezirk mit der Nummer 22 und mit einer Einwohnerzahl von etwas mehr als 20000, nicht mehr als fünf Leute pro Quadratmeile.
Wir ziehen zu den Hinterwäldlern nach ganz weit draußen. Und das alles meinetwegen.
So viel Schnee habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Mein neuer Toyota Prius (ein Geschenk meines lieben, aufmerksamen Vaters) müht sich auf der verschneiten Bergstraße ganz schön ab. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Der Typ an der Tankstelle vorhin wollte uns beruhigen und meinte, der Weg über die Berge sei vollkommen sicher, solange kein Unwetter aufziehe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich ans Lenkrad zu klammern und zu ignorieren, dass es nur ein paar Schritte vom Straßenrand entfernt in die Tiefe geht.
Ich erblicke das Schild Willkommen in Wyoming.
«He», sage ich zu Jeffrey. «Jetzt haben wir es geschafft.»
Er antwortet nicht. Er hängt auf dem Beifahrersitz, und aus seinem iPod hämmert wütende Musik. Je weiter wir uns von Kalifornien und seinen Sportkameraden und Freunden entfernen, desto mehr schmollt er. Nach zwei Tagen unterwegs wird es allmählich langweilig. Ich packe das Kabel und reiße ihm die Ohrstöpsel raus.
«Was?», fragt er und funkelt mich wütend an.
«Wir sind in Wyoming, Blödie. Weit haben wir es nicht mehr.»
«O ja, juchhu», sagt er und greift wieder zu den Ohrstöpseln.
Der wird mich noch eine ganze Weile hassen.
Jeffrey war ein total pflegeleichter Junge, ehe er das mit dem Engelszeug herausfand. Aber wenn einer weiß, wie das ist, dann ich. Den einen Moment ist man noch vierzehn und unbeschwert - erfolgreich, beliebt, witzig -, und plötzlich ist man ein Freak mit Flügeln. Das dauert seine Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat. Erst vor einem Monat hat er erfahren, dass ich meine kleine Mission vom Himmel erhalten habe. Und jetzt zerren wir ihn nach Nirgendwo, Wyoming, noch dazu im Januar, mitten im Schuljahr.
Als Mama das mit dem Umzug verkündete, hatte er geschrien: «Ich komme nicht mit!» Er hatte die Fäuste geballt, als wolle er auf etwas einschlagen.
«Und ob du mitkommst!», entgegnete Mama und warf ihm einen kühlen Blick zu. «Und es würde mich nicht überraschen, wenn du in Wyoming auch deine Aufgabe erhältst.»
«Mir doch egal», meinte er. Dann drehte er sich um und funkelte mich auf eine Weise an, die mich heute noch zusammenzucken lässt, wenn ich daran denke.
Mama dagegen scheint total auf Wyoming abzufahren. Sie ist inzwischen schon ein paarmal hier gewesen, hat nach einem Haus gesucht, Jeffrey und mich an unserer neuen Schule angemeldet und hat dafür gesorgt, dass der Übergang von ihrem Job bei Apple in Kalifornien und der Arbeit, die sie nach dem Umzug von zu Hause für die Firma machen wird, reibungslos gelingt. Stundenlang hat sie sich über die wunderschöne Landschaft ausgelassen, die jetzt Teil unseres Alltags sein wird, die frische Luft, die Tiere, das Wetter und wie sehr wir den Schnee im Winter lieben werden.
Deshalb fährt Jeffrey auch bei mir mit. Er hält es einfach nicht aus, wenn Mama ihn damit zutextet, wie toll alles wird. Bei unserem ersten Tankstopp ist er aus ihrem Auto gestiegen, schnappte sich seinen Rucksack, kam zu mir rüber und setzte sich in meinen Wagen. Ohne weitere Erklärung. Ich schätze, er hat beschlossen, dass er sie im Moment mehr hasst als mich.
Wieder reiße ich an den Ohrstöpseln.
«Ich hab das schließlich auch nicht gewollt, weißt du», sage ich zu ihm. «Tut mir leid; mehr kann ich dazu nicht sagen.»
«Ja, ja, klar.»
Mein Handy klingelt. Ich fische es aus meiner Tasche und werfe es Jeffrey zu. Verblüfft fängt er es auf.
«Kannst du mal für mich rangehen?», frage ich zuckersüß. «Ich fahre.»
Er seufzt, klappt das Handy auf und hält es sich ans Ohr.
«Ja», sagt er. «Okay. Ja.»
Er klappt es wieder zu.
«Sie sagt, wir kommen jetzt zum Teton-Pass. Sie will, dass wir an dem Aussichtspunkt halten.»
Wie aufs Stichwort biegen wir um eine Kurve, und vor uns öffnet sich unter einer Kette niedriger Hügel und gezackter blauweißer Berge das Tal, in dem wir bald wohnen werden. Die Aussicht ist phantastisch, wie ein Panaroma auf einem Kalender oder einer Postkarte. Mama biegt ab zum Aussichtspunkt, und ich fahre vorsichtig hinterher, um dann neben ihr zu halten. Sie springt förmlich aus dem Wagen.
«Ich glaube, sie will, dass wir aussteigen», sage ich zu Jeffrey.
Er starrt bloß aufs Armaturenbrett.
Ich mache die Autotür auf und trete hinaus in die Gebirgsluft. Es ist, als betrete ich einen Gefrierschrank. Ich ziehe mir meine plötzlich viel zu dünne Kapuze über den Kopf und vergrabe die Hände tief in den Jackentaschen. Beim Ausatmen sehe ich meinen Atem davonschweben.
Mama geht zu meinem Auto und klopft an die Scheibe, hinter der Jeffrey sitzt.
«Komm raus da!», kommandiert sie in einem Tonfall, der klarmacht, dass sie keinen Widerspruch duldet.
Sie winkt mich zum Hügelkamm, wo auf einem großen Holzschild ein Comic-Cowboy zu sehen ist, der ins darunterliegende Tal deutet. Hallo Fremder, steht auf dem Schild. Dort drüben liegt Jackson Hole. Der letzte Rest vom alten Westen. Zu beiden Seiten eines silbrig glänzenden Flusses liegen verstreut einige Gebäude. Das ist Jackson, unsere neue Heimatstadt.
«Da drüben liegt der Teton- und dort der Yellowstone Nationalpark.» Mama deutet zum Horizont. «Da müssen wir im Frühjahr hin und alles gründlich anschauen.»
Jeffrey tritt zu uns auf den Hügelkamm. Er trägt keine Jacke, nur Jeans und T-Shirt, aber es sieht nicht so aus, als ob er friert. Er ist zu wütend, um zu zittern. Sein Blick ist völlig leer, als er unsere neue Umgebung mustert. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, ein Schatten legt sich über das Tal. Ganz plötzlich fühlt sich die Luft zehn Grad kälter an. Auf einmal bekomme ich Angst, dass nun nach meiner offiziellen Ankunft in Wyoming die Bäume in Flammen aufgehen werden und ich an Ort und Stelle meine Aufgabe erfüllen muss. So viel steht mir an diesem Ort bevor.
«Mach dir keine Sorgen.» Mama legt mir die Hände auf die Schultern und drückt mich kurz. «Hier gehörst du hin, Clara.»
«Ich weiß.» Ich versuche, ein tapferes Lächeln zustande zu bringen.
«Und du», sagt sie und geht zu Jeffrey rüber, «wirst ganz begeistert von den vielen Sportangeboten hier sein. Skifahren und Wasserskifahren und Bergsteigen und alle möglichen anderen Extremsportarten. Du hast meine uneingeschränkte Erlaubnis, dich von Gott weiß wo runterzustürzen.»
«Hab ich mir gedacht», brummelt er.
«Na großartig», sagt sie sichtlich zufrieden. Sie macht schnell ein Foto von uns. Dann geht sie rasch zum Auto zurück. «Jetzt lasst uns fahren.»
Ich folge ihr auf der Straße, die sich den Berg hinunterwindet. Ein weiteres Schild erregt meine Aufmerksamkeit. Achtung, heißt es da, enge Kurven voraus.
Kurz vor der Ankunft biegen wir auf die Spring Gulch Road ein, eine weitere lange, kurvenreiche Straße, diesmal aber mit einem großen schmiedeeisernen Tor, das wir nur nach Angabe einer Codenummer passieren können. So bekomme ich eine erste Ahnung davon, dass unsere Unterkunft ziemlich vornehm sein wird. Die Ahnung bestätigt sich beim Anblick all der riesigen Holzhäuser, die ich halb unter Bäumen versteckt erblicke. Ich folge Mamas Wagen, als sie auf eine frisch angelegte Auffahrt abbiegt und langsam durch einen Wald aus Drehkiefern, Birken und Espen fährt, bis wir zu einer Lichtung kommen, wo auf einer kleinen Erhebung unser neues Haus steht.
«Mein Gott», keuche ich und schaue durch die Windschutzscheibe zum Haus hinauf. «Guck mal, Jeffrey.»
Das Haus ist aus massiven Holzstämmen und Flusskieselstein gebaut, und das Dach trägt eine dicke Decke aus reinem weißem Schnee, wie man sie von Pfefferkuchenhäusern kennt, umso vollkommener durch einige silbern schimmernde Eiszapfen, die an den Ecken herunterhängen. Es ist größer als unser Haus in Kalifornien, aber irgendwie gemütlicher; es gibt eine überdachte, langgestreckte Veranda und riesige Fenster, die eine Aussicht auf den unglaublich spektakulären Anblick der schneebedeckten Bergkette gewähren.
«Willkommen zu Hause», sagt Mama. Sie lehnt sich an ihr Auto und genießt unsere Verblüffung, als wir auf die kreisförmige Auffahrt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.