Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Reiseabenteuer eines Journalisten und seinen drei Begleitern: seiner Verlobten, seiner Zwangsstörung und seiner chronischen Angst
Reiseberichte werden meist von Menschen geschrieben, die sich nach Abenteuern sehnen, unterwegs kein Risiko scheuen und sich schnell in fremde Kulturen integrieren. Aber was, wenn man panische Angst vor Krankheiten hat, unfähig ist, eine Fremdsprache zu lernen und nicht nur das Fliegen hasst, sondern auch das Autofahren, das Radfahren oder den Aufenthalt in praller Sonne? In dieser humorvollen Reisereportage schildert Jeremy Hance seine Erlebnisse als Reisejournalist, während er versucht, seine Karriere mit seinen Zwangsstörungen und Ängsten in Einklang zu bringen. Er entdeckt dabei die Bedeutung von Resilienz, die vielen Möglichkeiten, psychische Erkrankungen in Stresssituationen zu bewältigen, und warum es so wichtig ist, sich trotz täglicher seelischer Probleme ins pralle Leben zu werfen.
Perfekt, um eigene Reiseängste zu überwinden
Im Alter von sechsundzwanzig Jahren wird bei Jeremy Hance nach monatelangen Arztbesuchen eine Zwangsstörung diagnostiziert. Die gute Nachricht ist, er ist nicht sterbenskrank, die schlechte, dass die Zwangsstörung ihn zu einem wirklich schlechten Reisenden macht, der es manchmal kaum bis zur Gepäckaufgabe schafft. Dennoch macht er sich auf den Weg und nimmt uns in diesem Erlebnisbericht mit auf eine Reise in die entlegensten Winkel der Welt, von Kenia, wo Nilpferde das Gras mähen und Paviane Filme klauen, nach Borneo, wo Makaken Balkone überfallen und das letzte männliche Borneo-Nashorn singt, bis nach Guyana, wo fleischfressende Ameisen sich in seiner Hose verstecken und ein betrunkener Reiseführer ihn im Regenwald zurücklässt.
Eine mitreißende und mutmachende Reisegeschichte, die mit viel Humor und Ehrlichkeit zeigt, dass es sich lohnt, gegen die innere Dämonen anzukämpfen, um der eigenen Berufung zu folgen.
SEPTEMBER 2017
In 10 000 Metern Höhe gibt es nur einen Ort, an dem man ein bisschen Privatsphäre finden kann: die Toilette. Ich schiebe den Riegel vor, der gleichzeitig auch das Licht anmacht, setze mich auf den weißen Sitz, lege die Hände aneinander, schließe die Augen, atme tief ein - wobei ich den nahezu überwältigenden Geruch nach Desinfektionsmittel wahrnehme - und versuche mit jedem Quäntchen meines vernunftbegabten Wesens, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Das ist ungefähr so, als wollte ich mich davon abhalten, mich zu übergeben.
Ein einziger Gedanke hämmert mir immer wieder gegen die Schläfen: Du schaffst das nicht.
Ein paar Minuten vorher hatte ich noch auf meinem Sitz gesessen und war damit beschäftigt gewesen, mir einen Film auszusuchen - so viel Auswahl. Dabei schaute ich zufällig auf den Bildschirm eines anderen Passagiers ein paar Reihen vor mir auf der anderen Seite des Gangs. Es lief Vaiana, genauer gesagt die Szene, in der die Titelheldin gerade versucht, der wütenden Magma speienden Göttin Te Fiti ihr grünes, spiralförmiges Herz zurückzugeben. Da ich selbst eine Sechsjährige zu Hause hatte, war mir der Film mehr als vertraut.
Doch genau in dem Moment - als Te Fiti brennende Felsbrocken schleuderte - entschied sich mein schelmisches Gehirn, mir mitzuteilen: Du schaffst das nicht. Du weißt, dass du es nicht schaffst.
Dieser eine Gedanke ließ etwas in mir explodieren. Mein Herz begann zu hämmern, auf meinen Händen bildeten sich Schweißperlen, meine Gedanken wirbelten im Kreis herum und purzelten hinab ins Kaninchenloch. Ich kannte dieses Gefühl sehr gut.
Und trotzdem .
O nein, bitte nicht hier - nicht, wenn ich allein bin. Nicht jetzt. Nicht in einem Flugzeug!
Wir waren erst seit ein paar Stunden in der Luft, und das bedeutete, dass ich immer noch zehn Stunden Flug nach Tokio vor mir hatte. Dann kam der Zwischenstopp. Und dann noch ein Flug, die dritte Etappe, weitere acht qualvolle Stunden bis nach Jakarta, meinem Reiseziel.
Du schaffst das nicht. Du weißt, dass du es nicht schaffst.
Nicht, dass ich heute zum ersten Mal fliegen würde. Beim ersten Mal war ich fünf. Seitdem bin ich auf fünf Kontinenten und in über 30 Ländern gewesen. Wie viele Flüge dabei zusammenkamen, kann ich nicht sagen. Voll besetzte Boeings 747, Propellermaschinen im Amazonas, Maschinen, die in den Winden des North Channel vom Kurs abkommen, aber auch sanfte Landungen auf einer der gefährlichsten Flugrouten der Welt. Auch die Strecke hier war ich schon mal geflogen: von den Vereinigten Staaten über Tokio nach Jakarta.
Herrgott, ich arbeite gerade sogar an einem Buch übers Reisen, verdammt noch mal!
Ich fliehe vor Te Fiti und haste zur Toilette, wobei ich beinahe mit der Flugbegleiterin zusammenpralle, einer sympathischen jungen Japanerin mit einem beruhigenden Lächeln.
Viele Leute haben Angst vor der Flugzeugtoilette, weil es darin so eng ist wie in einem Grab. Aber für mich ist sie der beste Ort in einem Flugzeug, weil sie die einzige Möglichkeit bietet, der erbarmungslosen Menschlichkeit der Economy-Class zu entkommen. Auf dem vorangegangenen Flug habe ich neben einer älteren Dame gesessen, die die ganzen drei Stunden damit verbrachte, sich lautlos in Tüten zu übergeben, die ich stoisch an das Flugpersonal weiterreichte.
Nachdem ich ein paar tiefe Atemzüge genommen habe, versuche ich, mir selbst gut zuzureden. O. k., Jeremy, das ist deine Zwangsstörung, die da gerade spricht. Es ist alles in Ordnung, alles gut, alles paletti. Such dir einfach einen Film aus und bekomm deine Gedanken in den Griff. Immer schön einen Tag nach dem anderen . oder in diesem Fall eine Minute.
»Du weißt, dass du es nicht schaffst«, sagt erneut die Stimme in meinem Kopf. »Diese Reise wird dich definitiv umbringen. Du musst es irgendwie nach Hause schaffen, sonst sterben du oder deine Familie.« Die Stimme gehört Steve.
»Steve« ist der Name, den ich meiner Zwangsstörung gegeben habe. Dadurch wollte ich versuchen, eine gewisse Distanz zwischen meiner chronischen psychischen Erkrankung und meinem gewöhnlichen Selbst herzustellen. Meine Depression habe ich »Maleachi« getauft, weil sie ein harter Brocken biblischen Ausmaßes ist. Steve und Maleachi sind nicht ich, sage ich mir immer wieder selbst. Sie sind die Krankheit.
Doch Maleachi ist wenigstens interessant, während Steve ein gnadenloser Langweiler ist. Er sagt immer und immer wieder dasselbe. Er ist wie eine kaputte Standuhr, die jede Minute schlägt. Ein gelangweilter Elefant im Zoo, der immer wieder denselben Pfad entlangtrottet, bis seine Fußsohlen bluten. Der Freund, der bei jeder Gelegenheit dieselbe Anekdote erzählt. Man könnte fast meinen, Steve wäre besessen.
Und genau so ist eine Zwangsstörung: ein und dasselbe Lied, das in deinem Kopf festhängt und in Endlosschleife läuft.
Leider können Steve und ich nicht den ganzen Flug auf dem Klo bleiben und diskutieren. Die Vakuumspülung der automatischen Toilette macht mich nervös, und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn irgendetwas das Flugzeug rammen würde. Hilfsbereit, wie er ist, erinnert mich Steve daran, dass zwischen mir und der Atmosphäre nichts als ein paar Schichten Aluminium liegen. Wie ein Zauberer beschwört er das Bild eines anderen Flugzeugs herauf, das mit unserem mitten in der Luft zusammenstößt, wodurch die ganze Maschine aufreißt und ich in die eisige Leere geschleudert werde.
Es ist gar nicht der sichere Tod, der mich so sehr beunruhigt, sondern das Grauen, vollkommen machtlos 10 000 Meter in die Tiefe zu stürzen.
Ich kehre zu meinem Sitz zurück und tue so, als wäre ich noch immer allein. Ich krame die nicht gerade kleine Pillendose heraus, die meine Frau mir klugerweise sortiert hat, und nehme eine Lorazepam, ein Medikament gegen Angststörungen. Ich lege sie mir unter die Zunge und schmecke aufkommende Gelassenheit. Die Konsistenz ist kreidig, der Geschmack sogar leicht süß. Ich kenne diese Tabletten gut.
Nehmen wir an, ich schaffe es heute. Nehmen wir einfach für einen kurzen Moment an, dass ich die nächsten 20 oder mehr Stunden überlebe und es ins Hotel in Jakarta und in einen süßen erlösenden Schlaf schaffe. Danach erwarten mich noch zwölf Tage in Indonesien, ohne meine Frau und mein Kind, dafür aber mit 100 000 Dingen, die schiefgehen könnten: Schlangenbiss, Autounfall, Tollwut durch einen herumstreunenden Hund oder eine Höhlenfledermaus, eine kenternde Fähre, ein ausbrechender Vulkan, ein alles zerreißendes und verschlingendes Erdbeben. Ich könnte mir aber auch eine der unzähligen tropischen Krankheiten einfangen, von einem Elefanten zu Tode getrampelt, von einem umstürzenden Baum erschlagen oder vielleicht von einem Tiger gefressen werden - die gibt es da nämlich. Man kann auf so viele Arten umkommen, wenn man nicht zu Hause ist.
Ich rufe die Flugbegleiterin, weil ich hoffe, dass mich ihr Lächeln in die Realität zurückholt. Als sie da ist, bestelle ich ein Glas Wein. Wein mit einem Beruhigungsmittel gemischt - mein Psychiater würde mit mir schimpfen. Aber das ist mir gleich, ich bin verdammt verzweifelt.
Irgendwann suche ich mir schließlich einen Film aus: Er heißt Manchester by the Sea. Ich weiß nichts über diesen Film, nur dass er von der Kritik gelobt wird. Nach einem Drittel schluchze ich vor mich hin. Dieser Film sollte mit der Warnung versehen sein: »Für Menschen mit Panikattacken ungeeignet.« Ich versuche, auf etwas anderes, leichter Verdauliches umzuschalten: Ein Ticket für Zwei - wer sucht diese gottverdammten Filme aus? Diesmal stecke ich schon zu tief in dieser Katastrophe von einem Film drin und quäle mich bis zum bitteren Ende durch.
Ich vermisse meine Tochter und meine Frau. Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut.
Ich will mit jemandem reden, meinem Therapeuten, meiner Frau, einem Freund . ja sogar mit dieser Flugbegleiterin, die so unerschütterlich cool wirkt, während sie in dieser Höllenmaschine durch die Gegend fliegt.
In meinem Kopf sagt Steve gerade wieder sein Mantra auf: »Du weißt, dass du es nicht schaffst. Du weißt, du schaffst es nicht.«
Plötzlich fühle ich mich heiß und klebrig, und mein Magen schnürt sich zu. Herrgott noch mal, nicht jetzt, nicht hier. Jetzt werde ich auch noch krank, und wir sind irgendwo über dem Meer mitten in den Wolken und noch Stunden von Tokio entfernt. Ich rufe erneut die Flugbegleiterin und frage nach einem Thermometer. Sie bringt mir eins, und ich stecke es mir in den Mund.
»Nein, nein«, sagt sie. »Für hier.« Sie deutet auf ihre Achsel.
O, langsam entferne ich das Thermometer aus meinem Mund. Ich lächle und nicke, als ob mir das alles völlig klar wäre und ich nur deshalb an diesem Achselthermometer genuckelt habe, weil ich halt so ein wahnsinnig lustiger Kerl bin. Ich wische es an meinem T-Shirt ab und schiebe es mir unter den Arm. Ich bin sicher, dass es am Ende 38,9 oder 39,5 Grad anzeigen wird. Ich male mir aus, wie mich die lächelnde Stewardess auf die Arme nimmt und in die erste Klasse trägt,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.