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Ellen
Für Rolf Wegener war der Dienstag nach Pfingsten, an dem Swetlana die Unterkunft verließ und kurz darauf sterben musste, ein besonderer Tag gewesen: Sein 15. Hochzeitstag und gleichzeitig der Geburtstag seiner Frau, Ellen hieß sie und wurde achtunddreißig. Vor der Trauung hatten sie schon fast drei Jahre lang zusammengelebt. So kamen sie insgesamt auf beinahe achtzehn gemeinsame Jahre.
Ellen war vier Jahre jünger als Rolf Wegener und im Alter von wenigen Wochen ihrer drogensüchtigen Mutter weggenommen worden. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, wusste nicht einmal seinen Namen. Als Baby hatte Ellen, bedingt durch die Abhängigkeit ihrer Mutter, gesundheitliche Probleme gehabt. Vermutlich hatte sich deshalb nie ein adoptionswilliges Paar für sie gefunden. Aufgewachsen war sie bei verschiedenen Pflegefamilien und in Kinderheimen. Dort hatte sie gelernt, für ihre Rechte zu kämpfen, sich nichts gefallen und von keinem die Butter vom Brot nehmen zu lassen, wie sie es ausdrückte.
Zum ersten Mal gesehen hatte Rolf Wegener sie an einem Samstagabend in einer verrufenen Spelunke, in die Ellen, wie er damals fand, überhaupt nicht hineinpasste. Sie war in der Woche zwanzig geworden, hatte den runden Geburtstag am Samstagabend feiern und etwas Außergewöhnliches erleben wollen, erzählte sie ihm später. Zu dem Erlebnis hatte er ihr verholfen.
Er nahm damals als junger Polizist im Wach- und Wechseldienst an einer Razzia teil, und Ellen konnte beziehungsweise wollte sich nicht ausweisen. Sie hatte ihren Ausweis sehr wohl dabei. Aber das erfuhr Rolf Wegener erst, als er sie gegen Morgen heimbrachte. Da war er ihr bereits mit Haut und Haaren verfallen.
Ellens Zuhause bestand zu der Zeit aus einem Zimmer in einer Wohngemeinschaft von acht jungen Leuten: drei Frauen, fünf Männer, die sich unentwegt die Köpfe über schwerwiegende Themen heiß redeten und über Gott und die Welt philosophierten. In den verlotterten Haufen passte Ellen seiner Meinung nach auch nicht hinein.
Ein ausnehmend hübscher Anblick war sie mit ihrem kastanienbraunen, schulterlangen Haar und dem dezenten Make-up, das ihr Gesicht an den richtigen Stellen betonte. Als schrill konnte man es wahrhaftig nicht bezeichnen. Schrill war damals nichts an Ellen. Es war alles perfekt und umgeben von einem betörenden Duft.
Sexuelle Erfahrungen mit Frauen hatte Rolf Wegener bis dahin noch nicht viele gesammelt. Allerdings hatte ihn Achim Schulte, der Nachbarssohn, mit dem er seit der gemeinsamen Schulzeit befreundet war, nur zwei Tage, vielmehr Nächte vor dieser Razzia für einen Abend mit auf eine verhängnisvolle Tour geschleppt.
Achim Schulte stand unmittelbar vor der Hochzeit und wollte seinen Abschied vom Junggesellendasein gebührend feiern, »noch mal richtig auf den Putz hauen«, wie er sagte. Zuerst waren sie in einer Bar gewesen, danach in einem Bordell. Für Rolf Wegener endete dieser Ausflug, der ihm von vorneherein nicht ganz geheuer gewesen war, in einer Blamage mit üblen Folgen. Er stellte sich so ungeschickt an, dass das Kondom platzte und die Frau, mit der er zusammen war, sich von einer Sekunde zur nächsten in eine Furie verwandelte. »Ich hoffe, du bist gesund!«, fauchte sie ihn an.
Selbstverständlich war er das.
Und bei der Razzia war er überzeugt, unverändert gesund zu sein, sonst hätte er sich bestimmt nicht auf Ellens Vorschlag einer Leibesvisitation eingelassen, um ihren Ausweis aufzuspüren. Erst drei Tage danach bekam er Ausfluss und verspürte ein Brennen beim Harnlassen. Er ging sofort zum Arzt, der einen Tripper diagnostizierte. Ellens Frauenarzt stellte bei ihr anschließend dieselbe Infektion fest, was Rolf Wegener entsetzlich leidtat. Natürlich wurden sie beide umgehend behandelt, und damit schien die Sache ausgestanden.
Für Rolf Wegener war Ellen die berühmt-berüchtigte Liebe auf den ersten Blick. Ihr sei es ebenso ergangen, behauptete sie in den ersten Jahren oft, deshalb habe sie das Spiel mit dem vermeintlich vergessenen Ausweis gespielt. Ellen wusste eben schon mit zwanzig Jahren ganz genau, was sie wollte und wie sie es erreichte. Was gut für ihn war, wusste sie auch, holte ihn raus aus Niederfelden, weg von seiner Mutter, unter deren Dach er noch lebte, als sie sich kennenlernten.
Ellen fand in der Kreisstadt Heimberg ein neues Domizil für sie beide: eine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss eines vierstöckigen Mietshauses am Stadtrand, ein Neubau zu der Zeit, gerade erst fertiggestellt. Alleine hätte Ellen sich die Wohnung nicht leisten können. Sie arbeitete in einem Maklerbüro und verdiente nicht schlecht. Aber sie legte großen Wert auf ihr Äußeres: schicke Klamotten, regelmäßige Friseurbesuche, Make-up, teure Cremes und dieses Wahnsinnsparfüm, das auch seinen Preis hatte.
Und er liebte sie ja hübsch und duftend. Er wollte gar nicht, dass sie auf etwas verzichten musste. Also mietete er die Wohnung und kam für die Einrichtung auf. Nur drei Monate nach besagter Razzia zogen sie ein, um festzustellen, ob sie auch im Alltag gut miteinander auskamen. Es war die pure Harmonie.
Wie hatte er Ellen geliebt, mehr als das, vergöttert und angebetet hatte er sie, sich für auserwählt gehalten und gedacht, sie sei genau die richtige Frau für ihn und die einzige, mit der er es bis ans Ende seiner Tage aushalten könne, bei der er all das fand, was er brauchte, um sich im sexten und siebten Himmel gleichzeitig zu wähnen. Er war restlos glücklich mit ihr.
Es gab nie einen Streit, nicht mal dezente Vorwürfe, wenn sein Dienstplan ihnen wieder einen Strich durchs Wochenende oder Feiertage machte. Geld war ebenso wenig ein Thema. Anfangs verdienten sie beide etwa gleich viel. Er zahlte für die Wohnung, notwendige Versicherungen und drei Jahre lang die Raten für die Möbel. Ellen bestritt den Haushalt und organisierte die gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Am liebsten verbrachten sie beide ihre freien Stunden in trauter Zweisamkeit. Dazu gab es hin und wieder einen Kinobesuch oder ein Picknick, bei dem sie ihn mit den besten Häppchen verwöhnte. Waldspaziergänge standen bei Ellen ebenfalls hoch im Kurs, Liebe in freier Natur, damit es nur ja nicht eintönig wurde. Gegen eine Einladung aus seinem Kollegenkreis erhob sie zwar auch keine Einwände. Aber allzu häufig musste das nicht sein.
Auch sieben Jahre nach der Hochzeit hielt Rolf Wegener sich an Ellens Seite noch für so auserwählt wie am ersten Tag. In diesen Jahren war das Heimberger Polizeipräsidium mit der Hauptwache im Erdgeschoss, ein schmuckloser dreistöckiger Betonbau aus den Sechzigerjahren, für ihn ausschließlich sein Arbeitsplatz.
Er wechselte vom Wach- und Wechsel- in den Ermittlungsdienst, hatte zwar anfangs oft Bereitschaft, aber einigermaßen pünktlich Schluss. Wenn nichts dazwischenkam, war er vor Ellen zu Hause. Ihr Chef kannte keinen Feierabend und erwartete von seinen Mitarbeiterinnen dieselbe Einsatzbereitschaft, vor allem in den Abendstunden, wenn Berufstätige Wohnungen oder Häuser besichtigen wollten.
Es konnte durchaus neun Uhr werden, ehe Ellen endlich den Flur betrat und ihre Pumps von den Füßen streifte. Bis dahin hatte Rolf Wegener sich im Haushalt nützlich gemacht. Müll rausgebracht, Fußböden gewischt oder gesaugt, Fenster geputzt, Betten frisch bezogen, Wäsche gewaschen und gebügelt, was eben zu erledigen war. Nur kochen konnte er nicht. Aber wenn es bei Ellen zu spät wurde, um sich noch an den Herd zu stellen, besorgte sie das Abendessen auf dem Heimweg.
Kinder standen in diesen ersten sieben Jahren nicht zur Debatte. Die bekäme man später noch früh genug, sagte Ellen regelmäßig, wenn das Thema angeschnitten wurde, in der Regel von seiner Mutter. Die war für Ellen ohnehin ein rotes Tuch.
Ein monatlicher Pflichtbesuch in Niederfelden, im Höchstfall zwei Stunden, in denen sie sich bei Kaffee und einem Stück Torte die Fragen nach einem Enkelchen, das Jammern der miesepetrigen Alten und deren stete Vorwürfe der Vernachlässigung anhörte, reichten Ellen vollauf, wenn sie überhaupt mitfuhr. Das tat sie extrem selten, nahm lieber ein Bad in der Zeit und bereitete alles vor für den Moment, in dem Rolf wieder zur Tür hereinkam.
Im achten Ehejahr setzte Ellen dann die Pille ab. Sie hatte die Dreißig überschritten und genug von der Tretmühle. Dass sie unzufrieden mit ihrem Job war, sich ausgenutzt fühlte, hatte sie schon vorher häufig anklingen lassen. Nun sprach sie zusätzlich von ihrer biologischen Uhr, ließ sich bei der Hausverwaltung für eine größere Wohnung vormerken und studierte zudem die Angebotspalette ihres Arbeitgebers.
Drei Zimmer, Küche, Diele, Bad, Balkon oder Terrasse wollte sie mieten, sobald sich das freudige Ereignis ankündigen würde. Besser gleich vier Zimmer, damit sie nicht erneut umziehen müssten, wenn ein zweites Kind käme. Ellen fand zwei Kinder optimal, am besten schnell hintereinander, damit der Altersunterschied nicht zu groß war. Rolf Wegener dachte eher an ein eigenes Haus mit Garten in einem der umliegenden Dörfer, natürlich nicht in Niederfelden; es gab noch mehr und kinderfreundlichere Orte im Kreis Heimberg.
Dass Ellen nicht auf Anhieb schwanger wurde, wertete...
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