Schweitzer Fachinformationen
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Der leitende Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen blinzelte in die Polarsonne, die tief über dem langgestreckten Horizont stand. Ganz hinten, dort, wo Himmel und Eis miteinander verschmolzen, leuchtete die Welt in klaren Pastellfarben grün und blau, als wollte die Natur zum Ausdruck bringen, dass es weit dort hinten eine freundlichere Welt gab als diejenige, in der sie sich befanden. Was für ein verrückter Ort, um sein Leben auszuhauchen! An einer solchen Stelle ermordet zu werden kam ihm vollkommen verrückt und deplaziert vor. Er versuchte den Gedanken beiseitezuschieben - er war sinnlos und dumm -, denn diese Frage konnte dem Opfer egal sein. Eine Zeitlang betrachtete er seinen langgezogenen Schatten vor sich auf dem Eis. Er streckte den Arm aus und fuhr mit dem Schatten ein paar dünne Spalten im Eis ab, bis sein Arm müde wurde und er ihn wieder sinken ließ. Dann blickte er in die fahle Sonne, die eher Kälte als Wärme auszustrahlen schien. Irgendwie war ihm unwohl. Die Sonne sollte auf- und untergehen und nicht monoton am Himmel kreisen und Tag und Nacht vermischen. In einem vergeblichen Versuch, die Müdigkeit zu verdrängen, riss er die Augen auf und drehte sich in den Wind. Alles zusammengerechnet, hatte er in den letzten zwei Tagen nicht viel mehr als drei Stunden geschlafen, und es kam ihm vollkommen widersinnig vor, dass schon wieder ein neuer Tag angebrochen war. Er rieb sich langsam über das Gesicht und genoss für einen Augenblick die Dunkelheit. Ob sie an Frühlingsblumen gedacht hatte, an warme, weiße Sandstrände oder vielleicht an das Sonnwendfeuer, bevor es aus gewesen war? Wohl kaum. Trotzdem empfand er es fast als demütigend, hier draußen im Nichts sterben zu müssen, an einem Platz, an dem die Welt viel zu groß war und kein lebendes Wesen etwas verloren hatte. In gewisser Weise hatte ihr Mörder sie damit gleich doppelt geschändet.
Er sah auf seine Uhr: es war kurz nach halb acht, dänische Zeit. Wie spät es hier in Grönland war, konnte er nicht sagen. Er unterdrückte ein Gähnen und dachte, dass er eigentlich viel zu erschöpft zum Arbeiten war. Am Morgen hatte er vergessen, seine Pillen zu nehmen, oder genauer - warum sollte er sich selbst belügen -, er hatte zum wiederholten Male vergessen, seine Pillen zu nehmen. Und langsam begann er auch die Konsequenzen zu spüren. Er hätte unheimlich gern eine Zigarette geraucht oder wenigstens eine halbe, um die Müdigkeit für einen Moment zu verdrängen, auch wenn er wusste, dass er eigentlich nicht rauchen durfte. Routiniert klopfte er sich auf die Brust, um sich zu vergewissern, dass er eine Schachtel in der Hemdtasche hatte, entschloss sich dann aber, wenigstens noch ein paar Minuten standhaft zu bleiben und die Vorfreude auszukosten. Vor einem Jahr - oder waren es inzwischen zwei? - war Diabetes bei ihm diagnostiziert worden. Diese Krankheit und sein besorgtes privates Umfeld hatten ihn dazu gezwungen, sein Leben umzustellen oder wenigstens den Versuch dazu zu unternehmen.
Eine innere Unruhe ließ ihn noch einmal einen Blick auf die Uhr werfen, doch das Resultat war wie beim letzten Mal dasselbe und half ihm nicht, so dass er sich an seinen Nebenmann wandte und fragte: »Wissen Sie, wie spät es ist?«
Der grönländische Kommissar warf einen kurzen Blick auf die Sonne und antwortete: »Etwa drei.«
Er war ein Mann ohne überflüssige Worte, was ihm das Warten nicht gerade erleichterte. Sein Name war Trond Egede, aber das war auch schon das Einzige, was Konrad Simonsen über ihn wusste.
Er fragte sich, ob er sich noch einmal ins Flugzeug setzen sollte, um ein klein wenig zu schlafen, bis die Kriminaltechniker fertig waren. Die harten, unbequemen Sitze, die er auf dem Flug von Nuuk hierher noch verflucht hatte, erschienen ihm jetzt wie die reinste Verlockung. Ein bisschen Schlaf war besser als überhaupt kein Schlaf, und schließlich machte es ja keinen Sinn, neben einem stummen Kollegen zu stehen und auf vier Menschen zu starren, die deshalb auch nicht schneller arbeiteten. Andererseits konnte es seinen wortkargen Partner verletzen, wenn er ihn einfach stehen ließ, und das wollte er nicht, schließlich war es für die nächsten Wochen essenziell, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei in Nuuk gut und reibungslos vonstattenging. Oder sollte er sich entgegen den Vorschriften den Technikern anschließen? Die Gefahr, den Tatort zu verunreinigen, war sicher nicht groß. Andererseits riskierte er dann, abgewiesen zu werden, was nicht nur erniedrigend sein würde, sondern überdies ein unprofessionelles Signal aussandte. Nein, im Grunde hatte er nur eine Möglichkeit - er musste bleiben, wo er war, wie ernüchternd das auch sein mochte.
Also versuchte er noch einmal, ein Gespräch vom Zaun zu brechen.
»Wie können Sie eigentlich an der Sonne erkennen, dass es drei Uhr ist? Ich meine, Sie haben doch keinerlei Landmarken - oder wie man das nennt -, hier ist es doch so flach, dass sich der Horizont einmal um uns herumzieht.«
Umständlich zog der Mann einen Handschuh aus und schob den Ärmel seiner Windjacke über seine Armbanduhr. Erst als er den Handschuh wieder angezogen hatte, sagte er: »Es ist dreizehn Minuten nach drei.«
»Dann hatten Sie also recht.«
»Ja.«
»Nur anhand der Sonne. Ohne irgendeinen Anhaltspunkt?«
Konrad Simonsen gab es auf und konzentrierte sich darauf, seine eigene Uhr richtig zu stellen. So hatte er wenigstens für ein paar Sekunden etwas zu tun. Auf einmal kam ihm ein unangenehmer Verdacht, eine Skepsis, die an ihm nagte und ihn wie die Unruhe zuvor nicht mehr losließ.
»Also drei Uhr nachmittags?«
Er versuchte seine Frage möglichst beiläufig zu stellen. Trotzdem hörte er selbst, wie angespannt und schrill seine Stimme klang.
Der Grönländer drehte sich zu ihm um und musterte ihn, als er antwortete: »Ja, nachmittags. Haben Sie denn kein Zeitgefühl?«
»Eigentlich schon, aber ., doch Sie haben recht, einen Moment lang war ich verwirrt.«
»Das kann ziemlich unangenehm sein.«
Konrad Simonsen nickte und entspannte sich. Mühevoll kramte er seine Zigaretten hervor, verdrängte all die Warnungen und guten Ratschläge, zündete sich eine an und inhalierte begierig.
Dann fügte er sich der erneuten Stille. Als er zu Ende geraucht hatte, beugte er sich nach unten und drückte die Zigarette sorgsam auf dem Eis aus, bevor er sie in die Tasche steckte. Der Grönländer betrachtete ihn interessiert, und Simonsen versuchte sich erneut an einem Gespräch: »Sagen Sie mal, kommen Sie öfter hierher?«
Der Mann grinste, und sein Gesicht presste sich derart zusammen, dass er wie ein ungezogenes Trollbalg aussah. Konrad Simonsen musste unweigerlich lächeln.
»Das hat dieser Arne auch geglaubt, also Ihr Partner. Ich habe seinen Nachnamen vergessen.«
Er nickte in Richtung Flugzeug.
»Arne Pedersen, er heißt Arne Pedersen.«
»Stimmt, ja. Der dachte auch, dass ich regelmäßig hier aufs Inlandeis komme. Vierhundert Kilometer Anfahrt, um hier eine kleine Runde zu drehen und dann mit frischen roten Bäckchen wieder nach Hause zu kommen.«
Die Ironie des Mannes war nicht bissig, sondern hatte einen munteren Beiklang.
»Okay, ich habe verstanden, dann waren Sie auch noch nicht hier.«
»So ganz stimmt das nicht, ich war ja gestern schon mal hier, aber ansonsten ist das nicht gerade ein Ort, den ich häufiger aufsuche. Warum auch?«
Sie nickten beide, und für einen Augenblick fürchtete Konrad Simonsen, das Gespräch könne erneut versiegen. Dann sagte der Mann: »Arne Pedersen hat gesagt, dass Sie nicht über den Fall sprechen wollen, bevor Sie nicht einen Blick auf das Opfer geworfen haben; das sei so eine Art Prinzip von Ihnen.«
»Ein Prinzip würde ich das nicht gerade nennen, das geht vielleicht zu weit. Aber es stimmt, ich warte lieber, wenn das für Sie in Ordnung ist? Andererseits gibt es natürlich ein paar Punkte, die wir gerne jetzt schon ansprechen können. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich diesen Fall ziemlich abrupt und ohne jede Vorwarnung übernehmen musste.«
Der Mann unterbrach ihn lachend: »Ja, das habe ich gehört. Arne Pedersen sagte, Sie seien auf dem Weg in die Ferien gewesen? In südlichere Gefilde.«
Er lachte wieder.
Konrad Simonsen konnte ihn immer besser leiden.
»Herzlichen Dank für die Erinnerung, aber es stimmt, eigentlich sollte ich jetzt auf dem Weg nach Punta Cama sein - das ist in der Dominikanischen Republik, sollten Sie sich da unten nicht so gut auskennen. Ich wollte mit meiner Freundin am Strand liegen und unter den Palmen ausspannen, bis uns die Legend of the Seas von der Royal Caribbean Cruise Line abholt und . ach, an den Rest will ich gar nicht denken, das tut zu weh.«
»Gern geschehen, war mir eine Freude.«
»Ich weiß nicht, irgendwie hatte bislang niemand richtig Zeit, mir zu sagen, was gestern eigentlich passiert ist. Vielleicht wusste es ja auch keiner, aber ist die Tote wirklich von der deutschen Kanzlerin gefunden worden?«
»Nein, nicht ganz. Als Erster gesehen hat sie ein Gletscherexperte, ein Glaziologe, aber der hat die Kanzlerin dann auf die Leiche aufmerksam gemacht.«
»Waren Sie auch im Flugzeug, als das passiert ist?«
»Nein, aber ich kenne den Handlungsablauf von jemandem, der mit an Bord war. Im Übrigen war das ein Helikopter. Genauer gesagt, einer von drei großen Sikorsky S 61 der Air Greenland. Sie wissen schon, diese legendären roten Riesen, die man auch als Sea King bezeichnet.«
Konrad Simonsen hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete, log aber aus Höflichkeit: »Ja, die sind wirklich...
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