Schweitzer Fachinformationen
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Als Martin wieder auf der Straße steht, ist es, als sei er aus einem Traum erwacht. Er hat kein Buch gekauft und hat nicht nach dem Weg zum Hotel gefragt. Er nimmt sein Handy und will Google Maps aufrufen, hat aber kein Mobilfunksignal. Du lieber Gott, keine Verbindung. Daran hat er nicht gedacht. Diese Stadt kommt ihm vor wie ein fremdes Land.
Der frühe Aufbruch, die lange Autofahrt und die Hitze haben ihn ausgelaugt, und er fühlt sich wie umnebelt. Der Tag ist inzwischen noch heißer geworden, das Licht vor den Markisen wirkt noch heller. Nichts regt sich außer dem Hitzeflimmern, das von der Straße aufsteigt. Die Temperatur hat bestimmt vierzig Grad erreicht, und es ist völlig windstill. Martin tritt hinaus in die Sonne. Er legt die Hand auf das Wagendach. Es ist heiß wie eine Bratpfanne. Etwas bewegt sich am Rand seines Gesichtsfelds, aber als er sich umdreht, sieht er nichts. Oder - doch, da, mitten auf der Straße: eine Eidechse. Er geht darauf zu. Es ist eine Stummelschwanz-Eidechse, und sie ist totenstill. Asphalt quillt aus den Rissen in der Straße, und Martin fragt sich, ob das Tier vielleicht kleben geblieben ist. Aber dann wieselt es davon; die Hitze hat sein Blut verflüssigt, und es verschwindet unter einem geparkten Auto. Dann hört er ein neues Geräusch. Einen rasselnden Husten. Martin dreht sich um und sieht einen Mann unter den Markisen auf der anderen Straßenseite entlangschlurfen. Es ist der Mann im grauen Mantel. Immer noch trägt er die Flasche in der braunen Papiertüte mit sich herum. Martin geht hinüber und begrüßt ihn.
»Guten Morgen.«
Der Mann hat einen krummen Rücken, und er ist offenbar taub. Er schlurft wortlos weiter.
»Guten Morgen«, wiederholt Martin lauter.
Der Mann bleibt stehen, hebt den Kopf und schaut sich um, als höre er ein fernes Donnern. Dann sieht er Martin an. »Was ist?«
Der Mann hat einen struppigen, graugesträhnten Bart und feuchte Augen.
»Guten Morgen«, sagt Martin zum dritten Mal.
»Weder gut noch Morgen. Was wollen Sie?«
»Können Sie mir sagen, wo hier ein Hotel ist?«
»Gibt kein Hotel.«
»Doch, gibt es.« Martin weiß es; er hat im Flugzeug die Zeitungsausschnitte auf seinem Laptop gelesen, auch Defoes preisgekrönten Artikel, in dem der Pub als das Herz der Stadt beschrieben wird. »Das >Commercial<.«
»Geschlossen. Seit sechs Monaten. Gott sei Dank. Da ist es, da drüben.« Er wedelt mit dem Arm. Martin späht in die Richtung, aus der er gekommen ist. Wie hat er es übersehen können? Der alte Pub, das einzige zweigeschossige Gebäude auf der Hauptstraße, steht an der Kreuzung, hat intakte Schilder und ist von einer einladenden Veranda umgeben. Er wirkt nicht aufgegeben. Eher würde man einen Ruhetag vermuten.
Der Mann rollt den oberen Rand seiner Tüte herunter, schraubt die Flasche auf und trinkt. »Hier. Auch was?«
»Nein danke. Im Moment nicht. Sagen Sie, gibt es sonst eine Übernachtungsmöglichkeit in der Stadt?«
»Versuchen Sie's im Motel. Aber beeilen Sie sich. So beschissen, wie hier alles läuft, macht das vielleicht als Nächstes zu.«
»Wo finde ich es?«
»Woher sind Sie gekommen? Aus Bellington? Deni?«
»Nein, aus Hay.«
»Eine beschissene Fahrt. Na, fahren Sie da runter, wo Sie hergekommen sind. Biegen Sie am Stoppschild nach rechts. Richtung Bellington, nicht nach Deniliquin. Das Motel liegt auf der rechten Seite, am Stadtrand. Ungefähr zweihundert Meter von hier.«
»Cool.«
»Cool? Was sind Sie, ein Scheiß-Yankee? Die reden so.«
»Nein. Ich meinte nur, danke.«
»Okay. Dann verpissen Sie sich.«
Der Penner schlurft weiter. Martin nimmt sein Handy und fotografiert den Mann von hinten, als er davongeht.
Das Einsteigen ins Auto ist keine leichte Aufgabe. Martin befeuchtet seine Finger mit der Zunge, damit er den Türgriff lange genug festhalten kann, um die Tür zu öffnen, und er schiebt ein Bein hinein, damit die Tür nicht wieder zufällt. Im Wageninneren ist es heiß wie in einem Tandoori-Ofen. Er startet den Motor und dreht die Klimaanlage hoch, aber die pumpt lediglich heiße Luft herum. Die Backofenhitze lässt den hässlichen Geruch nach Resten von Erbrochenem eines früheren Mieters aus den Polstern aufsteigen. Die Gurtschnalle hat in der Sonne gelegen und ist so heiß, dass er sie nicht anfassen kann. Martin schnallt sich nicht an. Er schlingt das ehemals feuchte Halstuch um das Lenkrad, damit er es anfassen kann. »Verflucht«, murmelt er.
Er fährt die paar hundert Meter bis zum Motel, stellt das Auto in den Schatten eines Carports neben dem Eingang und steigt aus. Er gluckst leise; seine Stimmung hat sich gebessert. Er zieht sein Handy aus der Tasche und macht Fotos. BLACK DOG MOTEL steht auf der abblätternden Tafel in der Einfahrt. ZIMMER FREI. Und das Beste ist: KEINE HAUSTIERE. Martin lacht. Das ist Gold wert. Wie konnte Defoe das übersehen? Aber vielleicht hat der schlaue Kerl den Pub ja nie verlassen.
An der Rezeption ist es kaum weniger heiß. Martin hört einen Fernseher irgendwo hinten im Gebäude. Auf der Theke ist ein Summer - eine für diesen Zweck angepasste Türglocke. Martin drückt auf den Knopf und hört ein Zirpen aus der Richtung, aus der auch der Fernsehton kommt. Während er wartet, studiert er die Broschüren im Drahtständer an der Wand. Pizza, Kreuzfahrten auf dem Murray River, ein Weingut, eine Zitrusfarm, Paragliding, Gocarts, noch ein Motel, ein Bed-and-Breakfast. Ein Schwimmbad mit Wasserrutschen. Alles nur vierzig Minuten weit entfernt in Bellington, am Murray flussabwärts. Auf der Theke liegt eine Handvoll rot gedruckter Takeaway-Speisekarten. Saigon Asia - Vietnamesisch, Thai, Chinesisch, Indisch, Australisch. Services Club, Rivers End. Martin nimmt einen Flyer und steckt ihn ein. Zumindest wird er nicht verhungern.
Eine schlampig aussehende Frau erscheint in der halb verspiegelten Schwingtür hinter der Theke und bringt einen flüchtigen Hauch von kühler Luft und Putzmittel mit. Ihr schulterlanges Haar ist zweifarbig: hauptsächlich blond, aber ungefähr einen Fingerbreit über der Kopfhaut ist es zu einem Fußmattenton aus Braun und Grau herausgewachsen. »Hi, Schätzchen. Zimmer?«
»Ja, bitte.«
»Kurz pennen oder übernachten?«
»Nein, voraussichtlich drei oder vier Nächte.«
Jetzt schaut sie Martin eingehender an. »Kein Problem. Ich schau mir mal unsere Buchungen an.«
Die Frau setzt sich hin und erweckt einen betagten Computer zum Leben. Martin schaut hinaus. Im Carport steht kein Auto außer seinem.
»Sie haben Glück. Vier Nächte, haben sie gesagt?«
»Ja.«
»Kein Problem. Zahlbar im Voraus, wenn's recht ist. Danach Tag für Tag, wenn Sie länger bleiben.«
Martin reicht seine Fairfax-Company-Karte hinüber. Die Frau betrachtet sie, sieht dann Martin an, versucht, ihn einzuordnen.
»Sie sind von The Age?«
»Vom Sydney Morning Herald.«
»Kein Problem«, brummt sie und zieht die Karte durch das Lesegerät. »Okay, Schätzchen, Sie sind in Nummer sechs. Hier ist der Schlüssel. Warten Sie eine Sekunde, ich hole Ihnen ein bisschen Milch. Schalten Sie Ihren Kühlschrank ein, wenn Sie reinkommen, und vergessen Sie nicht, Licht und Klimaanlage auszuschalten, wenn Sie das Zimmer verlassen. Die Stromrechnung bringt uns um.«
»Danke«, sagt Martin. »Haben Sie WLAN?«
»Nein.«
»Und keinen Mobilfunkempfang?«
»Hatten wir bis zur Wahl. Jetzt ist der Sendemast ausgefallen. Ich nehme an, vor der nächsten Wahl bringen die das wieder in Ordnung.« Ihr Lächeln ist sarkastisch. »In Ihrem Zimmer ist ein Festnetztelefon. Als ich letztes Mal nachgesehen habe, hat es noch funktioniert. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«
»Der Name Ihres Motels. Der ist ein bisschen merkwürdig, oder?«
»Nein. Vor vierzig Jahren war er das nicht. Warum sollen wir ihn jetzt ändern, bloß weil er ein paar Losern nicht gefällt?«
Martins Zimmer ist seelenlos. Nach der Lektüre von Defoes Artikel hatte er sich darauf gefreut, im Pub zu wohnen: Bier mit den Einheimischen, eine Flut von Informationen, die offenherziges Tresenpersonal ihm zukommen ließ, Essen an der Theke, Steak aus der Gegend und zerkochtes Gemüse, eine kurze Treppe nach oben und ab ins Bett. Vielleicht um Mitternacht noch einmal durch den Korridor zum Pissen zur Gemeinschaftstoilette wanken, okay, aber eben ein altes Gebäude mit Charakter und voller Geschichten, nicht die nichtssagende Zweckmäßigkeit dieser Hundehütte: eine nackte Leuchtstoffröhre als Beleuchtung, ein durchgelegenes Bett mit einer braunen Tagesdecke, der chemische Gestank eines Luftauffrischers, ein grunzender Minibarkühlschrank und eine ratternde Klimaanlage. Auf dem Nachttisch stehen ein Telefon und eine Uhr, und beide sind Jahrzehnte alt. Besser, als im Auto zu schlafen, aber nicht viel besser. Er ruft in der Redaktion an, gibt ihnen die Nummer des Motels durch und macht sie darauf aufmerksam, dass sein Mobiltelefon außer Betrieb ist.
Martin zieht sich aus, geht auf die Toilette, spült die toten Fliegen herunter, die sich in der Kloschüssel angesammelt haben, pinkelt und spült noch einmal. Er dreht den Wasserhahn am Waschbecken auf und lässt eins der Gläser volllaufen. Das Wasser riecht nach Chlor und schmeckt nach Fluss. Er dreht die Dusche auf, ohne sich mit dem Heißwasserhahn zu befassen, runzelt die Stirn angesichts des kraftlosen Wasserdrucks, stellt sich unter die Dusche und lässt das Wasser über...
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