Schweitzer Fachinformationen
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Ohne den melodiösen Hinweis meines TomTom wäre ich an dem grauen Gemäuer vorbeigefahren. Ich habe diesen Gasthof ausgewählt, weil Ulrichs Klinik von hier aus leicht zu erreichen ist und weil ich hierher oft mit den Kindern gefahren bin. Im Sommer zum Baden, fast vierzig Jahre ist das her.
Heute entspricht nichts, aber auch gar nichts dem idyllischen Bild, das ich in meinem Gedächtnis gespeichert hatte. Die »Taverne am See« machte einen verwahrlosten Eindruck. Keine weiß-blaue Fahne flatterte auf dem Dachfirst, natürlich blühten im Winter keine Kastanien, und der Biergarten war geschlossen. Stattdessen wirbelten Schneeflocken durch die Luft, als ich ankam.
Da war es genau vier Uhr, ein gereizter Gastwirt händigte mir die Zimmerschüssel mit der Information aus, dass er für die nächsten fünf Tage nicht im Haus sei. Frühstück würde ich in der Gaststube bekommen, die aber ansonsten Betriebsferien habe. Ob ich vielleicht morgens seine Katze hinaus- und abends wieder hereinlassen könne? Ich sei im Moment der einzige Gast. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, aber dafür war ich viel zu müde und erschöpft.
Jetzt liege ich in voller Montur in einem eiskalten Bett, von den Zehen bis zum Nacken verspannt. Mit zittrigen Fingern ziehe ich die klamme Bettdecke noch fester um meinen Körper.
Unermüdlich reibe ich Hände und Füße aneinander, aber mir wird nicht richtig warm. Seit meiner Abreise aus Frankreich plagt mich ein hartnäckiger Husten, von dem mein Bauch schon ganz hart und verkrampft ist. An Schlaf ist nicht zu denken. Fünfzig Jahre Ehe rasen im Schnelldurchlauf durch mein Hirn. Mit jedem Detail, das sich aus dem tristen Brei in meinem Kopf herauslöst, wächst meine Panik. Morgen feiere ich goldene Hochzeit und fühle mich dabei wie sechsundachtzig und nicht wie achtundsechzig.
Mit einem heftigen Ruck schleudere ich die Bettdecke zur Seite, setze mich ächzend auf und lasse den Blick durch das triste Zimmer schweifen. Ein Doppelbett, ein Schrank, ein Tisch mit einem Fernseher, ein Stuhl und eine halb verdorrte Topfpflanze. Die geschlossenen Vorhänge vor den beiden Fensterluken tauchen den Raum in trübes Dämmerlicht. Ich stemme mich in die Höhe und werfe einen Blick nach draußen. In der Arktis könnte es nicht trostloser sein. Nichts als Schnee und Eis. Der Wind fegt über das Feld und treibt die Schneeflocken vor sich her. Mein Auto, das einsam und verlassen auf dem Parkplatz steht, hat bereits eine dicke Schneehaube auf dem Dach.
Wieder schüttelt mich ein Hustenanfall. Die Heizkörper sind kalt. An der Stelle des Temperaturreglers sitzt eine dicke Schraube. Nach längerer Suche finde ich direkt über dem Fußboden einen Drehknopf. Schon nach der zweiten Umdrehung schießt heiße Luft durch die Rohre. Ich stelle mir Ulrichs spöttischen Blick vor, der mir signalisiert, dass er schon viel früher auf die richtige Lösung gekommen wäre. Wenigstens wird es jetzt warm. Ich knautsche die Vorhänge zusammen und drapiere sie so auf den Fensterbrettern, dass möglichst wenig Wärme verloren geht. Es ist halb fünf. Was soll ich bis zum Abend in diesem Zimmer machen?
Lesen kann ich nicht, dazu brummt mir der Kopf zu sehr, fernsehen noch weniger. Duschen könnte ich, mir die Haare waschen, die Beine rasieren . Aber frisch geduscht kann ich nicht mehr in die Eiseskälte da draußen, ohne eine Lungenentzündung zu riskieren. Meine Unruhe wächst.
Schließlich stehe ich, vermummt wie ein Eskimo, in Daunenanorak und Pelzstiefeln vor dem Badezimmerspiegel, um mir die Lippen nachzuziehen. Es sind volle Lippen, mit einem Permanent-Tattoo um Ober- und Unterlippe. Mein Gesicht hat ein bisschen Puder nötig, es ist blass, nur die Augen sind von der ständigen Husterei gerötet. Der Kupferton meiner Haare hat an Leuchtkraft eingebüßt. Ich muss mich auf die Suche nach einer Drogerie machen. Auch das nachwachsende Grau verlangt nach Farbe.
Im Flur begegne ich der Katze, sie drückt sich an mich und schnurrt wie verrückt. Ich beuge mich hinunter, um sie zu streicheln, und schiebe sie beiseite, bevor ich die Haustür aufstoße. »Ich kann dich doch nicht raus in diese Kälte schicken!«
Ein eiskalter Wind reißt mir die Kapuze vom Kopf. Eine Weile suche ich vergeblich nach dem »Zentrum« des kleinen Dorfes. Es besteht offenbar nur aus einer Kirche und dem Gasthof mit dem »Geschlossen«-Schild.
Schließlich verweist mich eine alte Frau auf einen Italiener, das einzige Restaurant, das hier im Ort aufhat.
Im Restaurant ist es warm und rauchig. Ich setze mich in die hinterste Ecke, schäle mich aus meiner warmen Hülle und bestelle einen Rotwein und Rigatoni al forno. Schon nach wenigen Bissen vergeht mir der Appetit.
Ulrich sitzt jetzt vermutlich im Speisesaal der Klinik, schweigsam, misstrauisch seine Tischgenossen beäugend und darauf konzentriert, etwas von ihren Gesprächen mitzubekommen. Ich sehe ihn noch einmal in der Eingangstür stehen und mir nachwinken. Als er sich umdreht und geht, schwingt die Tür ein paarmal hin und her.
Dass Ulrich heute Abend an mich denkt, bezweifle ich. Er wird vertieft in den Augenblick sein, involviert in seinen angeschlagenen Zustand. Ich bemühe mich, an etwas Erfreuliches zu denken. Aber was gab es Erfreuliches in den letzten Wochen, Monaten, Jahren? Ich müsste eine geniale Zauberin sein, um aus Stroh ein wenig Gold zu spinnen. Ob Ulrich sich noch an das schüchterne Lächeln der verliebten Achtzehnjährigen erinnert .?
»Hat's nicht geschmeckt?« Die Miene des Italieners verzieht sich besorgt.
Ich schüttele den Kopf und lege meine Hand vielsagend auf den Bauch. Das muss im Moment als Erklärung genügen. »Haben Sie einen guten Rotwein?«
Der Kellner zieht die Augenbrauen hoch. »Ich kann Ihnen einen Montepulciano empfehlen, samtig und weich.« Jetzt lächelt er sogar.
»Gern«, antworte ich und lächele zurück.
Inzwischen ist es draußen dunkel geworden. Vom Kellner erfahre ich, dass es im Ort einen Drogeriemarkt gibt. Das einzige Geschäft, das noch offen sein müsste.
Wieder zwei kleine Schlückchen Wein, und wieder kehren meine Gedanken zu Ulrich zurück. Ich muss an Nietzsche denken und seine These von der Ehe als langes Gespräch. »Glaubst du«, fragt er den Leser, den er sich natürlich als Mann vorstellt, »dich mit dieser Frau bis ins hohe Alter hinein gut zu unterhalten? Alles andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an.«
Oh, wie recht er hat! Die guten Gespräche zwischen mir und meinem Ehemann kann ich an einer Hand abzählen. Wir haben gestritten, nicht geredet. Die Chance, uns wirklich kennenzulernen, haben wir leichtsinnig verspielt. Stattdessen hat Ulrich, frei nach Nietzsche, versucht, mich nach seinem Bilde zu erschaffen. »Der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich danach.«
Ich schuf mir im Gegenzug mein eigenes Weltbild, meine eigene Autonomie. Ein ganzes Eheleben lang nahm einer vom anderen das Falsche an, und so entging uns das Beste. Das zweite Glas Wein war zu viel. Ich spüre, wie sich mir der Magen umdreht, meine Kehle eng wird und der Speichel auf meiner Zunge zusammenläuft. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, lege die Hände beschwichtigend auf den Bauch, wohl wissend, dass jede schnelle Bewegung den Brechreiz verstärken würde. Nach fünf Minuten habe ich mich gefangen, bezahle meine Rechnung und vermumme mich wieder.
Diesmal empfängt mich Eisregen, die vier Stufen zur Straße hinunter sind glitschig. Ich zaudere, drücke mir die behandschuhte Hand vors Gesicht, bemüht, nur durch die Nase zu atmen. Am liebsten würde ich auf direktem Weg zurück in den Gasthof gehen. Mit zwei Plastiktüten bepackt, trete ich keuchend den Heimweg an. Fast alle Häuser sind dunkel. Die schwarzen Fenster der Taverne blinken gespenstisch im Mondlicht, selbst ein Treppenlicht fehlt. Beim Öffnen der Zimmertür schlägt mir heiße, trockene Luft entgegen. Die Heizkörper glühen wie in einer Sauna. Ich reiße das Fenster auf. Der Wechsel zwischen Hitze und Kälte reizt meine Bronchien, und eine Viertelstunde lang mühe ich mich ab, zähen Schleim aus meinen verstopften Lungenflügeln nach oben zu bringen. Die Atemnot ist so schlimm, dass ich glaube ersticken zu müssen.
Ich schalte zur Ablenkung den Fernseher ein, werfe mich erschöpft aufs Bett und schaue Jörg Pilawa bei seinem Ratequiz zu. Nach einer Viertelstunde ist klar, dass ich es allerhöchstens bis zur 15.000-Euro-Frage geschafft hätte, am Thema Fußball oder Popmusik wäre ich unweigerlich gescheitert.
Das Bad ist so klein, dass man sich kaum drehen kann. Ich stelle mich vor den stumpf gewordenen Spiegel, teile mit dem Kamm Strähne für Strähne ab, fahre mit der Tülle der Farbflasche über die Scheitel und reibe mit den Gummihandschuhfingern die Farbe ein. In einer Viertelstunde bin ich durch, zwirbele die Haare zusammen und stecke sie am Hinterkopf fest. Dann schmiere ich mir eine dicke grüne Schicht Feuchtigkeitsmaske ins Gesicht. Ich lasse Mund und Augen frei und grinse...
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