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WARUM WIR ÜBER LEISTUNGSLUST REDEN MÜSSEN
»Aber in der Beschäftigung selbst
Vergnügen finden - dies ist das
Geheimnis des Glücklichen!«
Sophie Moreau
Würden Sie als Lotto-Millionär noch arbeiten wollen?
Was ist das für eine Frage? Da fällt uns die Antwort doch leicht:
- Auf keinen Fall, dann hätte ich ja ausgesorgt!
- Hm, vielleicht noch ein wenig.
- Ich würde weiterhin arbeiten - mir würde etwas fehlen.
- Meine Arbeit gibt mir auch etwas; warum das aufgeben?
Was haben Sie angekreuzt? Wenn ich diese Frage privat oder im Hörsaal, bei Vorträgen oder bei Unternehmensbesuchen stelle, ist die spontane Antwort oft: »Auf keinen Fall!« Sobald die Leute jedoch über den spontanen Augenblick hinaus nachdenken, was die meisten unweigerlich tun, ändern viele ihre Meinung. Meinungsforscher bestätigen das1.
Sie stellten diese Frage einer repräsentativen Anzahl von Menschen und - was schätzen Sie? Wie viele von ihnen würden auch nach dem Gewinn der Lotto-Million noch arbeiten wollen?
14Es sind erstaunliche 85 Prozent; selbst bei einem Gewinn von mehreren Millionen Euro. Wie verrückt ist das denn: Arbeit ist diesen Leuten wichtiger als mehrere Millionen Euro Lotto-Gewinn? Spinnen die? Von so einem Gewinn träumen wir doch alle!
Einmal im Lotto gewinnen und dann: Keine stressige Führungskraft, keine nervigen Kolleginnen und Kollegen und keine nörgelnden Kundinnen und Kunden mehr! Nur noch jeden Tag Cocktail schlürfend am Strand liegen oder wahlweise im Indoor-Pool - was will man mehr? Wer würde dafür nicht seinen Chef oder Chefin in die Wüste schicken? Antwort: 56 Prozent der Befragten einer zweiten Studie, diesmal von McKinsey2. Die Befragten dieser Studie hatten sogar eine toxische Führungskraft, also eine vorgesetzte Person zum Davonlaufen, der einen in den Wahnsinn treibt. Trotzdem wollten sie weiterarbeiten. Nicht, weil sie das Geld brauchen (wer braucht es nicht), sondern: An Arbeit muss was dran sein (außer Geld). Was?
Ganz gleich, was es auch ist, es muss mächtig sein. Mächtig, stark und hoch attraktiv. Tatsächlich muss es sehr viel attraktiver sein als ein Millionengewinn im Lotto - für viele Menschen, sicher nicht für alle, ganz sicher aber für Sie, sonst wären Sie nicht hier. Arbeit soll mehr wert sein als Millionen? Das will einiges heißen, so scharf wie jeder vernünftige Mensch auf eine schöne Stange Geld ist. Was ist es, das Arbeit entgegen aller Erwartung und sogar im Vergleich zu einem Lotto-Gewinn so attraktiv macht? Eine interessante Frage.
So interessant, dass sich Arbeitgeber, Gewerkschaften, Betriebsräte, Politiker, Forscher und nicht zuletzt wir Arbeitenden selbst brennend dafür interessieren. Was macht Arbeit so außerordentlich attraktiv?
Machen macht glücklich - darum geht es in diesem Buch, das ist das einfache Credo. Aber wie oft hören oder lesen Sie diesen Satz an einem normalen Tag? Null Mal? Was hören und lesen wir stattdessen? Worüber wird in Medien, Politik, WhatsApp-Gruppen und am Stammtisch stattdessen diskutiert?
Über die 4-Tage-Woche, die innere Kündigung, Work-Life-Balance, Homeoffice, »Quiet Quitting«, die innere Emigration am Arbeitsplatz, mehr Perks & Benefits, Workation, Holacracy (Wir brauchen keine Chefs und Chefinnen mehr), agiles Arbeiten, supermoderne Büro- und Schreibtischkonzepte, Homeoffice, Saftbar im Foyer, eigener Barista im Aufenthaltsraum, Mobilitätsbudget statt Firmenwagen, Firmen-E-Bikes, Fressnapf am Arbeitsplatz für Bello, Kinderbetreuung sowieso.
Der Zeitgeist: Weniger Arbeit ist bessere Arbeit
Sind das nicht alles Synonyme für »Arbeit muss nicht unbedingt sein.«? Dieser ganze öffentlich-mediale Anti-Arbeit-Shitstorm läuft letztendlich auf die Empfehlung hinaus: »Lasst uns weniger arbeiten, damit wir glücklicher werden!«, üblicherweise intellektuell vermengt mit Utopien eines bedingungslosen Grundeinkommens. Das neue Credo. Zeitgeist. Kultur.
15Was sagt das alles über die eigentliche Arbeit aus? Arbeit ist ein Übel, eine Last, uncool, stressig, belastend, reiner Gelderwerb, Pflicht, Fron, eines modernen Menschen unwürdig, Maloche und galoppierende Fremdbestimmung. Arbeit ist für einen normalen Menschen heutzutage nur noch mit wenig Arbeitstagen, satter Entlohnung und dem neuesten Tischkicker im Aufenthaltsraum zu ertragen. Ohne Zweifel: So empfinden momentan viele hart arbeitende Menschen ihre Arbeit, ihren Job, ihren Beruf, ihre Beschäftigung. Da herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung ein großer Leidensdruck. Irgendwoher müssen die lauten Forderungen nach weniger Arbeitszeit, mehr Teil- und Freizeit, nach immer neuen Perks & Benefits ja kommen. Vom unerträglich gewordenen Leiden an der Arbeit.
Weniger machen macht glücklich. Angeblich. Zumindest glauben das viele. Viele? Die erschreckende Mehrheit. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt3:
- 73 % der Befragten sind für die 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich.
- 97 % der 4-Tage-Wöchler wollen auch deshalb nur noch vier Tage arbeiten, damit sie mehr Zeit für sich selbst zu haben.
- 89 % wünschen sich mehr Zeit für die Familie,
- 88 % mehr Zeit für Aktivitäten wie Hobbys, Sport, aber auch Ehrenamt.
Warum wollen so viele Menschen weniger arbeiten? Weil sie mehr Zeit mit dem verbringen wollen, was sie wirklich erfüllt. Sie wollen nicht wegen der Arbeit weniger arbeiten (»mieser Chef, schlechter Lohn, schlimme Arbeitsbedingungen«), sondern wegen eines erfüllten Lebens. Sie wollen grob gesagt nicht weniger arbeiten, sondern mehr leben, mehr erleben, mehr sich selbst erleben - und das in ihrer Freizeit, nicht bei der Arbeit. So weit, so bedenklich.
Seltsam ist nur: 17 Prozent der Befragten der Hans-Böckler-Studie tun was? Sie lehnen die 4-Tage-Woche ab. Sakrileg! Warum um Himmels willen wollen die länger als vier Tage arbeiten? Auch das sagt die Studie, was für ihre Seriosität spricht: 86 Prozent dieser befragten 17 Prozent 4-Tage-Ablehner geben an, dass sie Spaß bei der Arbeit haben. Unerhört! Ticken die noch richtig? Sowas darf man doch nicht laut aussprechen. Das ist politisch inkorrekt.
Denn wenn wir ehrlich sind, verspüren wir alle schon seit Jahren einen fortschreitend schleichenden Verlust der Zufriedenheit mit der eigentlichen Arbeit, ein Erschlaffen der inneren Motivation, einen Rückgang der Erfüllung im Job. Das hat einen so einfachen wie tabuisierten Grund:
Wir machen nicht das, was uns glücklich macht (zumindest tagsüber)
Seien wir ehrlich: Die meisten von uns kommen nach einem anstrengenden Tag in der Fabrik, der Werkstatt, auf dem Bau oder im Büro abends ziemlich erledigt heim und freuen sich schon auf Familie, Freizeit und Hobby - da können wir uns richtig erholen, ausleben und wieder auftanken (Ähnliches gilt selbstverständlich für jene, die tagsüber in der Familie arbeiten). Und allein der Gedanke, dass es am nächsten 16Morgen wieder zurück in die Tretmühle geht, verursacht uns mildes Unbehagen bis handfestes Magengrimmen. »Wenigstens wird der Job gut bezahlt!«, trösten sich die Gutbezahlten unter uns mit einer dieser Perks & Benefits-Karotten, ohne die wir Esel den Karren scheinbar nicht mehr ziehen würden. Nur noch mit der Karotte vorm grimmig verkniffenen Maul traben wir die vorgeschriebene Strecke und erledigen die aufgezwungene Arbeit. So von Esel zu Esel: Macht Ihnen das etwa Freude? Sicher nicht. Aber: Uns bleibt ja wohl keine andere Wahl!
Wir brauchen keine Work-Life-Balance, die Work und Life als zwei gegeneinander spielende Gewichte in zwei Waagschalen betrachtet, eine Diskussion, die somit Arbeit immer als negativen Gegenpol zum Leben betrachtet. Work sollte eine faire Chance bekommen, ein erfüllender Bestandteil des Lebens zu sein.
Es klingt paradox, jedoch: Die moderne Arbeitswelt fokussiert auf Prozesse ökonomischer Optimierung (ja, darunter fällt auch fast jeder Change-Prozess zur Digitalisierung des Arbeitsplatzes oder dem Erzeugen von mehr Agilität) und eben nicht auf die Förderung individueller Kompetenzen - und ich sage bewusst nicht: auf das individuelle Wohlergehen. Individuelle Kompetenzen sind aber unsere innersten Antriebe, unseren wichtigsten Motiven allen Machens, und gleichzeitig können die ökonomisch wirken. Aber in der modernen Arbeitswelt ist »individuell« häufig zu aufwändig. Damit verbietet sie Lebensglück und Handeln aus eigenem, innerem Antrieb, aus Kompetenzverwirklichung am Arbeitsplatz.
Ökonomie ist nicht Psychologie
In meiner Beratungstätigkeit höre ich von Führungskräften oft die schlafraubende Frage: »Was kann ich tun, damit meine Mitarbeitenden mit 120 Prozent Leistung bei der Arbeit sind und nicht ständig von Teilzeit und >Paid Time Off< reden?« Das ist die falsche Frage. Die richtige Frage ist: Was kann ich tun, damit meine Mitarbeitenden im Flow sind? Das beantwortet sowohl die erste wie die zweite Frage mit: Lass Sie machen! Nämlich das, was sie wirklich gut können und daher auch gerne machen. Kurz: Was sie gut und gerne machen. Dann hängen sie sich auch mit 120 Prozent rein - wie sie es für ein Hobby tun. Revolutionärer Gedanke. Doch keine Rede davon an modernen Arbeitsplätzen.
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