Schweitzer Fachinformationen
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Heute
Ich lege fuchsienroten Lippenstift auf und vervollständige damit meine Transformation. Alle exzellenten Ideen erscheinen unglaublich naheliegend - nachdem sie einem erst eingefallen sind. Das Gesicht in dem wasserbesprenkelten Spiegel ist das einer Frau mit starkem Make-up und dunkelbraunem Haar, aber mit meinen Augen. Das Halstuch aus Polyester kratzt, und obwohl es ein ungewohntes Gefühl ist, eine Uniform zu tragen, erlaubt es mir der gestärkte Hosenanzug mit den Achtzigerjahre-Schulterpolstern, mich in eine anonyme Flugbegleiterin zu verwandeln. Meine Miene ist neutral und professionell, ruhig und beherrscht. Ein neues Jahr, ein neues Ich.
Amy rümpft neben mir im Spiegel die Nase. »Der Gestank hier drin erinnert mich an die Schule.«
Ich rümpfe ebenfalls die Nase. »Das billige Klopapier und das elende Wassertröpfeln machen es nicht besser.«
Wir halten lauschend ein, zwei Sekunden inne.
Sie sieht kurz auf die Uhr. »Wir sollten los, schließlich wollen wir keinen schlechten Eindruck machen.«
Ich folge ihr nach draußen. Ihr rotbraunes Haar hat sie zu einem so festen Dutt verwebt, dass er schon künstlich aussieht. Ihr blumiges Parfüm wirkt unaufdringlich. Meins ist zu kräftig, der schwere Duft kitzelt schon den ganzen Morgen in meiner Nase. Als wir zu den anderen achtzehn Trainees stoßen, die alle zurück in den Unterrichtsraum wollen, erhebt Brian, einer unserer Trainer, mahnend die offene Hand.
»Ähem.«
Es wird still. Ich frage mich, ob ich hier die Einzige bin, die ständig laut schreien möchte, denn mal ernsthaft: Wie schwer kann dieser Job schon sein? So wie ich es sehe, muss ich nur pünktlich zur Arbeit erscheinen, abheben, ein Tablett mit Essen austeilen, es wieder einsammeln, vielleicht hier und da noch ein Getränk, und damit ist meine Arbeit erledigt. Ich nehme doch an, dass die Passagiere in der Lage sind, sich nach der Fütterung selbst mit dem eingebauten Unterhaltungs-System zu unterhalten. Nach der Landung werde ich, so stelle ich es mir vor, reichlich Zeit haben, an einem Hotelpool zu chillen oder die Märkte der Umgebung zu erforschen.
Ich merke, dass Brian immer noch spricht, also zwinge ich mich, ihm zuzuhören.
». brauchen sich gar nicht erst zu setzen, denn wir gehen gleich in den Simulationsbereich und werden uns dort das Trainings-Equipment ansehen.«
Wir trippeln wieder nach draußen und versammeln uns im Korridor, bevor wir von Brians Komplizin Dawn weitergescheucht werden. Wir folgen ihr nach unten und durch den zentralen Empfangsbereich. Dawn hackt einen Code in ein Tastenfeld, dann betreten wir einen kleinen Raum. An den Wänden sind Haken, an denen Unmengen von schmutzig aussehenden Overalls hängen.
»Bitte hören Sie gut zu. Ziehen Sie jetzt bitte alle einen Overall über Ihre Uniform. Stellen Sie Ihre Schuhe auf den Regalen darunter ab, und streifen Sie die weißen Fußschützer über.«
Ich erstarre. Alle außer mir nehmen schon die Overalls von den Haken und schauen die jeweilige Größe nach. Gott, das schaffe ich einfach nicht. Sie sind eklig. Sie sehen aus, als wären sie zum letzten Mal . nein, noch nie gewaschen worden.
»Juliette? Gibt es ein Problem?« Brians Miene zeigt übertriebene Fürsorge.
»Nein. Kein Problem.« Ich lächle.
Er wendet mir den Rücken zu. »Also, meine Damen, diejenigen unter Ihnen, die einen Rock tragen, sollten sich vergewissern, dass ihre Beine komplett bedeckt sind. Einige Teile in unserem Equipment haben Klettverschlüsse, die jede Strumpfhose ruinieren.«
Scheiße. Ich werde nicht darum herumkommen. Ich greife mir einen Overall, steige ein, schiebe die Arme in die Ärmel, dann schließe ich die Knöpfe. Keine Ahnung, warum ich mir die Mühe gemacht habe, mein Kostüm reinigen zu lassen. In dem sackartigen Overall mit den Elastikbünden um meine Knöchel sehe ich aus wie eine Lachnummer. Mir fehlt nur noch eine Atemschutzmaske, dann könnte man meinen, ich wollte an einem Tatort Spuren sichern. Selbst Amy sieht nicht ganz so makellos aus wie sonst.
»Das wird lustig«, flüstere ich ihr leise zu.
Sie strahlt. »Ich bin schon so gespannt auf die Praxisübungen. Davon habe ich schon als kleines Mädchen geträumt.«
»Im Ernst?«
Wieso sollte irgendein Kind davon träumen, Kellnerin zu werden, wenn auch eine fliegende? Als ich noch jung war, hatte ich Pläne. Große Pläne. Richtige Pläne.
»Wir warten nur noch auf Sie, Juliette.« Brian hält eine Tür auf.
Er geht mir jetzt schon auf die Nerven, und ich muss ihn noch weitere fünf Wochen ertragen. Ich folge ihm in eine riesige Lagerhalle, wo Fragmente von verschiedenen Flugzeugtypen aufgebaut sind; zum Teil ebenerdig, zum Teil auf erhöhten, über Treppen erreichbaren Plattformen. Wir holen die anderen auf ihrem Weg durch das Gebäude ein, als plötzlich die vordere Tür eines Flugzeugs aufplatzt und mehrere Menschen in Overalls herauspurzeln, eine Rutsche hinunter. Ein uniformierter Crew-Mitarbeiter bedient die Tür und bellt über dem schrillenden Alarm Anweisungen: »Springen! Springen!«
Wir eilen vorbei, bis Dawn und Brian neben einer aufgeblasenen, silbriggrauen Masse anhalten, die etwas von einer Kinderhüpfburg hat. Es ist eine als Floß verwendbare Notrutsche. »Also, bevor wir das Slide-Raft besteigen, werde ich Ihnen das Überlebens-Equipment erklären. Eine Notlandung auf Wasser wird als >Wasserung< bezeichnet .«
Ich blende mich aus, und Brians Stimme verschwimmt im Hintergrund. Ich kenne die Statistiken. Sie können behaupten, was sie wollen, aber die Chancen, einen Flugzeugabsturz auf dem Wasser zu überleben, stehen nicht gut.
Um Punkt fünf Uhr werden wir durch den gesicherten Eingangsbereich wieder in die echte Welt entlassen, auf den Flughafenzubringer. Das Röhren der tieffliegenden Flugzeuge und der hektische Verkehr wirken im ersten Moment desorientierend. Ich atme kalte, klare Luft ein. Beim Ausatmen steht eine Dampfwolke vor meinem Mund. Die Gruppe teilt sich in jene auf, die zum Parkplatz gehen, und den Rest, der nach Hatton Cross aufbricht. Ich höre dem angeregten Geplapper nur mit halbem Ohr zu. Dann teilt sich die Gruppe erneut; wer zum Bus muss, biegt vorher ab, während wir übrigen, Amy eingeschlossen, im U-Bahnhof verschwinden. Ich gehe neben ihr her, während wir den Bahnsteig ansteuern.
»Heute nicht den Zug nach Westen?«, fragt sie. »Ich dachte, der Zug nach Reading fährt von Heathrow ab?«
Ich zögere. »Ich besuche noch eine Freundin. In Richmond.«
»Du hast eindeutig mehr Energie als ich. Ich bin hundemüde, ich glaube nicht, dass ich auch nur den Gedanken ertragen könnte, heute Abend auszugehen. Und ich will meine Unterlagen durchgehen.«
»Es ist Freitag«, bemerke ich, nicht ohne einen gewissen Unterton in der Stimme.
»Mag sein, aber ich will alles wiederholen, solange es noch frisch ist«, sagt Amy.
»Sehr gut. Dann weiß ich schon, neben wem ich in der Prüfung sitzen muss.« Ich lächle.
Amy lacht.
Ich tue so, als würde ich mitlachen, dann starre ich aus dem Fenster; das Licht im Zug spiegelt uns in die Dunkelheit draußen.
Amy steigt in Boston Manor aus. Ich winke ihr nach und schaue zu, wie sie zu der Treppe am Ausgang schreitet, aufrecht und stolz in ihrer Uniform.
In Hammersmith steige ich um und bin danach die einzige Uniformierte unter den Fahrgästen. Ich steige in Richmond aus, überquere die Straße und ziehe den Mantel fester um mich. Die Tasche schneidet mir in die rechte Schulter, während ich die vertraute Seitenstraße ansteuere, wo das Klicken meiner Absätze bei jedem zielstrebigen Schritt von den Wänden widerhallt. Ich umgehe eine zerbrochene Flasche und steuere den Rand des Greens an. Vor einem zurückgesetzt stehenden, alten Mehrfamilienhaus halte ich inne, lehne mich an den Zaun und ziehe meine hochhackigen Schuhe aus, um sie gegen Ballerinas zu wechseln. Ich schlage die Mantelkapuze hoch und lasse sie in meine Stirn fallen, bevor ich durch den Vorgarten zur Haustür gehe. Mein Schlüssel gleitet ins Schloss. Ich trete ein, lausche.
Stille.
Ich steige die Treppe in den dritten und obersten Stock hoch und schließe die Tür zu Wohnung 3B auf. Sobald ich eingetreten bin, bleibe ich stehen und atme den angenehmen Duft von Heimat ein.
Mir genügt das Leuchten des Aquariums, ich brauche kein Licht zu machen. Ich lasse mich auf das Sofa sinken und hole die Anziehsachen aus meiner Tasche. Dann ziehe ich mich aus, falte sorgfältig die Uniform zusammen und wechsele in schwarze Jeans und einen Pullover. Mit meinem Handy als Taschenlampe tappe ich barfuß in die Küche und ziehe den Kühlschrank auf. Wie immer ist er praktisch leer bis auf etwas Bier, ein paar Chilis und ein Käsemakkaroni-Fertiggericht für eine Person. Ich lächle.
Auf dem Rückweg zum Wohnzimmer riskiere ich es, eine Stehlampe einzuschalten, und hole aus meiner Tasche ein Foto, das ich auf den Kaminsims stelle. In einer idealen Welt wäre es gerahmt, aber ich habe es gern bei mir, damit ich es immer anschauen kann, wenn mir danach ist. Auf dem Bild stehe ich glücklich lächelnd neben Nate, meinem zukünftigen Ehemann. Ich falte meine Uniform über meinen linken Arm und gehe weiter ins Schlafzimmer. Als Nächstes lege ich Hose, Bluse und Jacke aufs Bett und beuge mich vor, um mein Gesicht in seinem Kissen zu vergraben. Ich atme tief ein, ehe ich den Kopf wieder hebe und den Strahl der Handytaschenlampe durch das Zimmer wandern lasse. Nichts hat sich verändert, seit ich zuletzt hier war. Gut.
Als ich die verspiegelte Schiebetür vor dem...
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