Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Stadt ist voller Liebespaare. Im Park sitzen zwei Verliebte im Gras, ein Transistorradio spielt. Sie singen die Songs im Radio mit. Laut und überschwänglich. Wie Synchronschwimmer illustrieren sie die Bilder von Bridge Over Troubled Water. Sie bilden mit den Händen eine bogenförmige Brücke. Ihre Finger flattern über die kummervollen Wasser. Sie betten ihre Köpfe auf die verschränkten Unterarme. Das Mädchen lacht dreckig und küsst ihn auf die Wange. Er knurrt heiser und reckt eine Faust.
Es ist Sommer. Ich esse mein Pausenbrot im Beisein der Liebenden im Park - zwei Scheiben brauner Toast, ein Stück Cheddar, ein Klecks Butter aus dem Laden am Eck. Ich lege mich ins Gras und lausche den sanften Stimmen. Der Verkehrslärm klingt, als würde er in einem großen Raum mit Bäumen und Rasenflächen ertönen, umschlossen von Reihenhäusern.
Ich arbeite in einem dieser Häuser, im Keller. Mein Tag findet im Untergrund statt. Wenn ich am Schreibtisch sitze, sehe ich die Füße der Passanten durch ein kleines Fenster über meinem Kopf. Die Neonlichter sind den ganzen Tag an, selbst wenn draußen die Sonne scheint. Ich bin ein junger Mann mit Vollbart und lockigen Haaren, offenen Augen, stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich bin es zufrieden, meine Tage in diesem Keller zu verbringen, nur habe ich mir eine sonderbare, unbekannte Krankheit eingefangen. Ein Virus, ein Pilz, irgendein Parasit ist in meine Adern eingedrungen. Mein Gesicht ist verhärmt. Die Müdigkeit übermannt mich oft, und ich schlafe am Schreibtisch ein. Ich erwache mit geröteten Augen.
Die Organisation, für die ich tätig bin, wurde ins Leben gerufen, um eine Minderheitensprache zu bewahren. Sie war einmal eine Muttersprache, offiziell ist sie eine Amtssprache. Manche Leute nennen sie die tote Sprache. Auf der Straße spricht sie niemand. Aber sie findet sich in der ursprünglichen Schattenschrift auf den Straßenschildern über dem englischen Namen. Unsere Arbeit vollzieht sich ausschließlich in dieser Geistersprache - Gälisch, Irisch.
Ich leite die LP-Abteilung.
Wir haben eine einzigartige Sammlung gälischer Sänger. Mein Job besteht darin, sie vom Bahnhof abzuholen. Ich bringe sie zu einem Hotel, in dem überwiegend Leute vom Lande absteigen, die einander vertraut sind, dort können die Sänger etwas essen und einen Drink nehmen, bevor es ins Aufnahmestudio geht. Vor den Mikros sind sie verlegen, der hinter der Scheibe sitzende Toningenieur starrt sie an, als kämen sie von einem anderen Kontinent. Sie lachen über das aufblinkende rote Licht und die dumpfe Akustik, die sich bemerkbar macht, wenn ihr Gesang zwischen den schalldichten Wänden wieder abgespielt wird. Einer probierte die Kopfhörer aus und meinte, das habe ihn zu einem anderen Menschen gemacht, seine Stimme sei danach nie mehr die alte gewesen.
Manche verschwinden einfach. Ich musste mal die ganze Stadt nach einem Sänger abgrasen und stöberte ihn in einem Haus auf, zusammen mit einer Krankenschwester, halb so alt wie er selbst, sie schlüpfte gerade in ihre blaue Ausbildungsuniform, und er, nackt bis auf die Tweedmütze, stand da und reckte die Fäuste. Manch einer möchte, dass man seine Hand hält, während er singt. Einige sind auch in der amerikanischen Country-Musik versiert, sie beginnen mit einem nasalen Summen, tief in der Kehle, und plötzlich landen sie bei dem Song Wichita Lineman.
Manche weigern sich, die Reise anzutreten, und wir fahren hin, um sie in der heimischen Küche aufzunehmen. Einmal musste ich einem Sänger, der keinen Scheck akzeptieren wollte und darauf bestand, von Angesicht zu Angesicht bezahlt zu werden, das Honorar persönlich vorbeibringen. Ich traf ihn in einer Bar in einem Dorf in Connemara, wo die Geistersprache bis heute landläufig ist, und brachte Bargeld mit. Er wollte das Geld nicht anrühren, er hatte gewaltige Pranken, ein Guinness wirkte in seiner Hand so klein wie ein Fingerhut, und es dauerte drei Tage, bis er voll bezahlt war.
Unser beliebtestes Album wurde in einem Theater in Dublin live aufgezeichnet, im Hintergrund kann man das erregte Publikum hören. Wir haben den Eindruck, dass unsere Zeit gekommen ist, denn unsere Musik ist ungeschliffen und erdverbunden. So, als würde man in die Vergangenheit reisen. Wir leben in einem Land mit weniger Straßen, weniger Rasenmähern, einem Land mit grünen Hügeln, über denen noch viele Bienen summen.
Eines Tages, ich kam gerade bei der Arbeit an, standen alle im Flur und weinten. Der Commander der Organisation lag mit ausgelöschter Miene am Fuß der Treppe. Sein kahler Kopf ruhte auf der untersten Stufe. Ein Arm war ausgestreckt, als wäre er mitten in einer Rede gestürzt. Er trug keine Schuhe, seine Socken waren gelb, mit einem Rautenmuster auf der Seite, als würde er Golf spielen. Was er nie getan hatte, nichts konnte ihm ferner liegen. Die Socken führten uns vor Augen, wie normal und integriert wir waren, obwohl wir uns hingebungsvoll der Restaurierung eines großen Schatzes der Vergangenheit widmeten.
Wir unterhielten uns leise, rühmten seine Weisheit, seine visionäre Kraft, seine Worte, die starke Gefühle in uns weckten. Als der Krankenwagen eintraf, öffnete er die Augen. Er winkte die Sanitäter weg, versuchte, auf die Beine zu kommen und seine Rede dort fortzusetzen, wo er sie unterbrochen hatte. Ganz im Sinne der Sprache, die wir wiederzubeleben trachteten, wurde der Commander durch das Klirren einer Teetasse ins Leben zurückgeholt und anschließend in sein Büro hinaufgetragen. Der Fußboden lag voller Zeitungsausschnitte, ein paar leere Flaschen standen herum, die Schreibtischlampe brannte noch, zugedeckt mit einem Kleidungsstück, das zu kokeln begann. Seine Sekretärin erschien und half dabei, ihn hinzulegen, sie rollte ihre Strickjacke zu einem Kopfkissen auf. Wir legten ihm die Krawatte über die Augen, um sie vor dem Tageslicht zu schützen.
Hier zu arbeiten stimmt mich froh. Die Zugehörigkeit zu einer Randgruppe im Herzen der Stadt gibt mir das Gefühl, verortet zu sein. Eine bedrohte Kultur, die nicht erlöschen will, das hat etwas Ruhmreiches. Wenn ich ringsumher die gefährdete Sprache höre, erinnere ich mich immer an eine Fahrt zu den Inseln. Das Bollern des Motors, das ich in den Schultern spüre, wenn ich an der rostigen weißen Reling der Fähre lehne. Stille Orte, wo Sonnenlicht durch Ritzen in den Steinmauern fällt, grüne und blaue Flecken, weiße Tölpel im Sturzflug, die Wucht, mit der die Wellen gegen die Klippen donnern. Meine Arbeit ist einer stillen Landschaft gewidmet, dem, was verschwindet, dem, was bewahrt wird.
Bei Feierabend räume ich meinen Schreibtisch auf und knipse das Licht aus. Letztes Tageslicht sickert durch die oben in die Wand gesetzten Fenster über die Schattengesichter der Sänger auf den Postern. Im Keller hält der Friede Einzug, der unter der Erde herrscht. Als ich gehe, lächelt mich die Empfangsdame an. Sie ist die Nichte eines Schriftstellers aus Connemara, der einen gälischen Roman über Tote geschrieben hat, die auf einem Friedhof streiten. Ich kann die Tatsache, dass auch ich irgendwie tot bin, nicht mehr verbergen. Vielleicht bin ich ein Untoter. So wie eine tote Sprache, die sich zu sterben weigert.
Ich gehe quer über den Platz zur deutschen Bibliothek. Sie befindet sich in einem Gebäude, das jenem, in dessen Keller ich arbeite, aufs Haar gleicht: die gleiche Fassade, die gleiche Anordnung der Fenster, die auf den Park der Liebenden blicken, die gleiche Eingangstür, nur ist sie rot gestrichen.
Sobald ich eintrete, bilde ich mir ein, zu Hause zu sein, denn ich sehe deutsche Zeitungen und Zeitschriften auf den Tischen im vorderen Raum liegen. Auf dem Weg zur Bücherei im ersten Stock fühle ich mich wie früher, wenn ich als Kind in mein Zimmer hinaufging und die neuesten Erwerbungen auf dem marmornen Kaminsims aufgereiht sah, als hätte ich Geburtstag. Hier läuft die Heizung auf Hochtouren. Ich sitze eine Stunde ohne Jacke da, einen Bücherstapel neben mir, bis mir der Bibliothekar höflich sagt, ich müsse jetzt gehen.
Die Bücher verwandeln mich in einen Romanhelden. Mit jedem Buch, das ich lese, werde ich neu erfunden. Ich bin ein Junge, der nicht groß werden kann. Ich verbringe Wochen in einem Sanatorium. Mich erfasst die Angst eines Torwarts. Ich lese über einen Journalisten, der in Verkleidung schmutzige und gefährliche Jobs macht, etwa Säuretanks putzt, um zu zeigen, wie es Gastarbeitern in Deutschland ergeht. Ich lese die Geschichte über einen Schriftsteller, der sich für eine Preisverleihung einen neuen Anzug kauft und ihn im Anschluss zum Schneider zurückbringt, weil er nicht mehr passt.
Und die Geschichte über den Kindmann, der aus einem Keller flieht, in dem er sein Leben lang eingesperrt war, und stumm durch die Straßen Nürnbergs irrt, bis er das Sprechen wieder erlernt.
Ich bin in einem sprachlichen Albtraum aufgewachsen, mit Deutsch, Irisch und Englisch, und wusste nie genau, zu welchem Land ich gehöre. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater war Ire. Sie kam nach Irland, um Englisch zu lernen, und am Ende lehrte sie meinen Vater Deutsch. Er weigerte sich, Englisch zu sprechen, sie wiederum lernte nie Irisch. Zu Hause bedienten wir uns ihrer Sprache, in der Schule benutzten wir die Geistersprache, und mein Vater war ein Revolutionär, der uns das Englische verbot. Die Folge war, dass jede Sprache zu einem Kampf, einer Festung, einem Versteck wurde. Wenn ich als Kind aus dem Haus ging, hatte ich stets das Gefühl, zu emigrieren. Auf der Straße sah ich ständig über die Schulter, hielt nach Wörtern Ausschau, in denen ich mich heimisch fühlte.
Das Irische wird auch als Muttersprache bezeichnet, die Landessprache, der Dialekt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.