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Ich habe sie mehrmals vor Publikum sprechen hören. Ich habe sie während des Literaturfestivals in Ennis, County Clare, im Old Ground Hotel auf der Bühne erlebt. Ebenso in Aspen, Colorado. Damals war ich zum ersten Mal in den Rocky Mountains, aber ich kannte das Gebirge längst. Ich kannte es aus Filmen, die ich als Junge im Fernsehen gesehen hatte. Ich kannte auch viele Songs, in denen es um diesen Teil Amerikas ging.
Einiges von dem, was sie in Ennis sagte, wiederholte sie in Aspen. Sie war gekommen, um über sich selbst und ihre Familie zu reden. Darüber, wie es früher für eine Frau in Dublin gewesen war. Wie sich alles verändert hatte. Dass inzwischen vieles besser, manches aber verloren gegangen war. Sie war bekannt dafür, aus ihrem Herzen keine Mördergrube zu machen, egal wo, ob in Ennis oder Aspen. Sie war die weltweit einzige Expertin für ihre Kindheit und das, was sich in ihrer Familie abgespielt hatte, und an diesen Tatsachen konnte niemand rütteln. Überall waren die Zuhörer begeistert und sehr daran interessiert, wie es in Irland zuging und warum sie nicht bereit war, ihren Eltern zu vergeben.
Das Problem bestand darin, dass sie vor Publikum immer aufgewühlter und zorniger wurde und am Ende öffentlich weinte. Heutzutage wollen die Leute alles aus erster Hand erfahren, und es machte sie verletzlich, wenn sie in ihre Kindheit zurückkehrte und sich alles wieder vor Augen rief, als wäre es gestern geschehen und würde nie ein Ende nehmen. Jedes Mal, wenn sie vor einem Publikum über diese Themen sprach, schien sie zu glauben, die Sache mit Tränen emotional unterfüttern zu müssen, damit man sie ernst nahm.
Manchmal befürchtete ich, dass sie ihre Geschichte durch das wiederholte Erzählen immer weiter aufblähte. Man kennt das von sich selbst: Wenn jemand so nett ist, einem zuzuhören, neigt man zur übertriebenen Schilderung seiner Erinnerungen. Gut möglich, dass sie alles so schlimm und drastisch darstellte, weil die Zuhörer jedes Mal wie gebannt an ihren Lippen hingen. Oder es ging nur darum, für das Schlimmste die besten Worte zu finden. Sie hatte ein gutes Gedächtnis für schlechte Erinnerungen, wie sie selbst einmal sagte.
Oder stutzt man alles unter Normalmaß zusammen, wenn man darüber spricht?
Damals hatte ich Bedenken und glaubte, sie könnte sich zu sehr in die Sache verbissen haben. Es tat mir weh, sie in der Öffentlichkeit weinen zu sehen. Ich fand es schlimm, wenn sie ein Taschentuch aus dem Ärmel zog oder ihren Tränen freien Lauf ließ, ohne auch nur zu versuchen, sie zu verbergen. Also schlug ich ihr etwas vor, mit besten Absichten und als guter Freund. Im fernen Aspen sprach ich Dinge aus, die mir im heimischen Ennis niemals eingefallen wären. In den Rocky Mountains konnte ich sie vorsichtig auffordern, etwas mehr Verständnis für ihre Eltern aufzubringen. Ich wollte weder, dass sie ihnen vergab, noch wollte ich ihre Geschichte anzweifeln oder ihr unterstellen, dass sie sich alles nur einbildete. Nein, ich wollte ihr vor Augen führen, dass es für sie zu quälend war, immer wieder darüber zu sprechen. Wäre es nicht besser, wenigstens den Versuch zu unternehmen, mit allem abzuschließen?
Damit du endlich zur Ruhe kommst.
Mir ging es ähnlich, da ich mich von meinem Vater verfolgt fühlte. Er lebt nicht mehr, aber Tatsache ist, dass er nie verschwindet. Ich fürchte mich noch heute vor seinen Wutausbrüchen. Manchmal denke ich, dass es besser wäre, so zu tun, als hätte man nie einen Vater gehabt, wenigstens ab und zu Urlaub von seinen Erinnerungen zu machen und nicht wie ein Kind die ganze Nacht in der Befürchtung wach zu liegen, dass er zur Tür hereinkommen könnte.
Sie hörte mir zu. Legte wie üblich den Kopf schief und erlaubte mir, auszureden. Ich glaubte, etwas Kluges zu sagen oder wenigstens Argumente vorzutragen, die eine Überlegung wert waren. Im Grunde wollte ich darauf hinaus, dass einen die Erinnerung an die eigene Kindheit in manchen Punkten trügen kann. Außerdem, sagte ich, solltest du deinem Vater das Recht auf eine Erwiderung zugestehen, auch wenn er sich nicht mehr rechtfertigen kann. Andernfalls wäre es wie ein Militärtribunal. Mehr sage ich gar nicht. Du solltest dich in sie hineinversetzen und ihren Standpunkt verstehen.
Das ist doch Quatsch, Liam.
Sie meinte, die Höhe sei mir offenbar zu Kopf gestiegen. Ich könne nicht mehr klar denken. Ich würde die Dinge zu einfach sehen, vielleicht weil das Hotel oberhalb der Wolken liege und die Luft so sauerstoffarm sei.
Es ist mein Leben, sagte sie.
Ich will dir nur helfen, darüber hinwegzukommen, sagte ich.
Du willst, dass ich meinen Bruder im Stich lasse?
Ich weiß noch, dass sie einen Joghurt aß. In ihrem Zimmer mit Blick auf die Berge. Sie erwiderte, dass ihre Erinnerungen ihre einzige Stütze seien. Erinnerungen verändern sich ständig, und man muss Schritt mit ihnen halten, sagte sie. Der Joghurt war alle, aber sie fand immer noch kleine Reste. Dann leckte sie die Aluminiumlasche ab und widmete sich im Anschluss wieder dem Becher.
So machen das Schriftsteller, sagte sie. Ihr Gedächtnis gleicht einem Labor, in dem sie nach Themen suchen, über die sie schreiben können. Etwas aus dem Nichts zu erschaffen, ist fast unmöglich, sagte sie. Man erfindet nichts. Es ist nur so, dass Dinge, die längst passiert sind, in der Vorstellung noch einmal stattfinden, wenn auch in phantastischer Form.
Sie kratzte mit dem Löffel im Joghurtbecher, als wollte sie darin nach einem Thema suchen, über das sie schreiben konnte.
In dem Becher findest du ganz bestimmt nichts mehr, sagte ich.
Sie starrte mich an. Man wusste nie, wie sie auf solche Worte reagierte – sie konnte lachen, aber sie konnte genauso gut explodieren.
Du lebst doch in einer Phantasiewelt, Liam. Genau das sagte sie zu mir. Glaubst du wirklich, man könnte ohne Erinnerungen durchs Leben gehen? Glaubst du ernsthaft, ein Mensch könnte alles zurücklassen und fortgehen wie aus einer leeren Scheune oder von einem leeren Feld?
Oh, Mann, Úna – ich sage doch nur, dass du nicht alles deinen Eltern anlasten kannst.
Was sie mir daraufhin alles an den Kopf warf! Sie unterstellte mir, ihr die Kindheit wegnehmen zu wollen, ihr alles zu rauben, worüber sie schreibe. Sie klang immer aufgewühlter, als könnte sie die Worte gar nicht schnell genug aussprechen. Ich erinnere mich nicht einmal an die Hälfte dessen, was sie sagte. Sie sprach von Kindern, die ihre Hand in ein Glas mit seidigen Süßigkeiten stecken mussten, damit sie still waren und nicht hörten, was die Erwachsenen redeten. Sie warf mir vor, dass ich behaupten würde, sie wäre ein unsichtbares Kind ohne jedes Interesse an der Welt.
Du bist auch nicht besser als alle anderen, sagte sie. Du willst, dass ich den Mund halte, richtig? Du willst, dass ich so tue, als hätte ich nie miterlebt, was Frauen in ihrem eigenen Zuhause erdulden müssen. Du glaubst, ich wäre bei den Nonnen fröhlich zur Schule gegangen und hätte nachts im Bett die Hände auf der Brust überkreuzt.
Úna – ich bitte dich!
Du denkst, dass ich meinen irischen Akzent nur vortäusche, damit die Leute glauben, ich wäre aus Dublin, stimmt’s?
Das Gespräch begann zu eskalieren, ich verlor die Kontrolle. Sie stellte es so hin, als wäre ich nie ein Kind gewesen. Als hätte ich etwas Unverzeihliches gesagt, gegen alle Kinder, gegen alle Frauen.
Ich will dir nichts wegnehmen, sagte ich.
Glaubst du, ich hätte nie die blutigen Sägespäne auf dem Fußboden der Schlachthöfe gesehen?
Ich stelle deine Kindheit nicht in Frage, sagte ich.
Du bist grausam, Liam.
Úna, hör zu: Ich stehe auf deiner Seite, und zwar voll und ganz. Ich will nur, dass du dich nicht als Opfer siehst.
Als Opfer, sagte sie.
Jetzt hatte sie die Nase voll. Sie sah mich böse an.
Ein Opfer? Sie wiederholte das Wort mehrmals, sprach es in Richtung Tür, als würde sie mit jemand anderem reden oder Zuhörer im Zimmer um die Bestätigung dafür bitten, dass ich kein Mitgefühl hatte. Was ich angedeutet hatte, war grundfalsch, zutiefst verletzend und hochgradig unsensibel: Ich wollte ihr nicht einmal zugestehen, dass sie ein Opfer war. Sie sah mich direkt an und sagte, das sei das typische Schicksal von Opfern – man gebe ihnen das Gefühl, selbst schuld an ihrem Schicksal zu sein.
So habe ich das nicht gemeint, Úna.
Aber so fühlt man sich als Opfer, Liam. Man hat das Gefühl, selbst schuld zu sein.
Ich sage nur, dass du die Ungerechtigkeiten auf sich beruhen lassen solltest.
Wir haben nicht das Recht, etwas auf sich beruhen zu lassen, sagte sie. Wie sollen wir etwas verändern, wenn wir uns nicht mehr erinnern?
Ich möchte jedenfalls kein Opfer sein, sagte ich.
Glaubst du etwa, eine Wahl zu haben, Liam? Meinst du wirklich, frei entscheiden zu können, ob du dich als Opfer fühlst oder nicht? Meinst du, es wäre nur eine Frage der Einstellung? Schau dich doch an. Bist du etwa ungeschoren davongekommen? Denk mal gut nach, Liam. Du bist ein Wrack. Jawohl. Ein Wrack.
Ein Wrack.
Sie wusste, dass sie damit zu weit gegangen war. Ich wartete darauf, dass sie ihre Worte zurücknahm, darauf hinwies, dass jeder ein Wrack sei, nicht nur ich, sondern alle, sie selbst eingeschlossen, aber sie schwieg, und deshalb schwieg ich auch. Sie fuhr mit einem Finger über die Innenseiten des Joghurtbechers. Dann leckte sie den Finger ab und schaute aus dem Fenster auf die Berge.
Ich...
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