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Die Viehzuchtanstalt
Gegenwart: 21. April 2011
Nachts kann die Wüste ein furchteinflößender Ort sein. Die Dunkelheit senkt sich unerwartet schnell über die kahle Landschaft. Die Kälte, die die Nacht mit sich bringt, dringt bis in die Knochen. Aber es ist die Stille, die einem am meisten zu schaffen macht. Selbst das kleinste Geräusch wird um das Zehnfache verstärkt, wenn es durch die leeren Weiten hallt. Das Heulen eines einsamen Schakals klingt bedrohlich. Die spärliche Vegetation wirft düstere Schatten, und der pfeifende Wind wirbelt tanzende Staubwolken auf, die im Mondlicht unwirklich scheinen. An einem Ort wie diesem spielt der Verstand den Sinnen Streiche. Mit jeder Gestalt, jedem Geräusch und jedem Schatten kommt auch die Angst.
Das galt besonders für die kleine Gruppe Polizisten, die sich in dieser besonders einsamen Ecke der Nara-Wüste gemeinsam um ein Lagerfeuer drängten. Ihr winziges Camp befand sich zwischen zwei einstöckigen Gebäuden mitten im Nirgendwo. Die nächsten Spuren der Zivilisation fand man zwei Kilometer entfernt hinter der indischen Grenze. Die Bauwerke selbst waren marode und besaßen schon lange keine Türen, Fenster oder anderen Vorrichtungen mehr. Nur bei einem einzigen Raum in dem größeren der beiden Gebäude waren Eisenstäbe am Fenster angebracht worden. Die Straße, die zu dem Feldlager führte, war kaum besser als ein Trampelpfad. Am Eingang des Geländes baumelte ein altes Schild von seinen Scharnieren herab und wies diesen Ort als Viehzuchtanstalt der Abteilung für Forstwirtschaft aus.
Die Sonne war erst vor einer Stunde untergegangen, aber die Wüste war bereits in Finsternis gehüllt. Die einzige Lichtquelle war das Feuer, an dem die Männer saßen. Es war Ramadan, der Fastenmonat, und die Polizisten hatten sich damit begnügen müssen, ihren langen Fastentag mit fadem Naan und aufgeweichten Pakoras zu brechen. Aber sie stärkten sich mit schwarzem Tee, den sie in einem Stahlkessel über offener Flamme gekocht hatten. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass sie ihre Umgebung richtig wahrnahmen.
Den ganzen Morgen waren sie unaufhörlich damit beschäftigt gewesen, das Lager aufzustellen und dem nagenden Hunger zu widerstehen, den die erste Ramadanwoche unvermeidlich mit sich brachte.
Einer der Männer, der größte der Truppe, ein Polizist namens Peeral, schlürfte geräuschvoll seinen Tee aus der rissigen Porzellantasse. »Dieser Ort ist mir nicht geheuer. Ich habe Geschichten über ihn gehört . hier spukt es.«
Die anderen verstummten und sahen sich nervös nach Zeichen übernatürlicher Kräfte um. Beim plötzlichen Geräusch knarrenden Metalls schreckten alle auf, zwei verschütteten ihren Tee. Der Stämmigste in der Runde, ein kräftiger Mann namens Juman, war der Einzige, der sich bei dem Geräusch nicht gerührt hatte. Er lachte. »Ihr verdammten Idioten. Das war nur die Tür des Pick-ups. Ihr wisst doch, dass die immer knarrt, wir wollten sie doch schon seit einiger Zeit reparieren lassen. Ihr alle wisst das, und trotzdem lasst ihr euch von diesem Dorftrottel Angst einjagen. Verratet mir mal, welcher verdammte Geist eine Viehzuchtanstalt heimsuchen sollte!«
Die anderen lachten nervös. Peeral blickte finster drein. »Man darf sich nicht über sie lustig machen. Wir wollen doch nicht, dass ein Geist, der zufällig hier vorbei kommt, sich angegriffen fühlt.«
»Hör mal, Peeral, der einzige Geist, der hier vorbeikommen könnte, wäre der eines geilen Büffels, der gestorben ist, als er gerade eine Kuh bestieg. Kein Geist, der was auf sich hält, würde sich hier jemals blicken lassen.«
Nach Jumans Bemerkung lockerte sich die Stimmung und die Männer lachten nun viel gelassener miteinander. Nur Peeral blieb skeptisch.
»Okay, Juman, angenommen, das sei wirklich eine Viehzuchtanstalt. Das bedeutet noch lange nicht, dass hier nie Menschen waren. Was, wenn einer der Forscher hier gestorben ist und sein Geist immer noch umherwandert?«
»Und wie soll der Forscher bitte gestorben sein? Wurde er vom Blitz getroffen, als er es gerade einem Büffel besorgte? Klar, du hast sicher recht, hier läuft gerade irgendwo ein Geist herum, mit Büffelsperma an den Händen.«
Die Männer lachten wieder und ein anderer von ihnen ergriff das Wort. »Ich mache mir keine Sorgen wegen der Toten, sondern wegen der Lebenden. Arre baba, wisst ihr überhaupt, was wir hier machen? Wen sollen wir bewachen?«
»Einen lebendigen Geist.« Juman trank einen Schluck Tee, damit seine Worte ihre Wirkung entfalten konnten.
»Wer ist es?«
»Kennst du Scheich Uzair?«
»Ja, das ist der, der versucht hat, den Präsidenten umzubringen. Zweimal. Oh Gott, ist er es? Er kommt hierher?«
»Hat er nicht auch vor ein paar Jahren diese weiße Journalistin ermordet? Die, die schwanger war? Aber ich habe gehört, er wäre bei der Belagerung der Sher-Moschee gestorben?«
»Richtig, genau dieser Kerl. Er ist nicht gestorben, er wurde verhaftet. Aber seit der Belagerung ist seine Truppe die größte Jihadistengruppe im ganzen Land. Ihre Rekrutierungscamps sind überall. Letzten Monat kamen sie sogar in mein Dorf und rekrutierten zwei oder drei der Jungs aus dem Ort. Aber dieser Scheich war im Gefängnis in Hyderabad. Warum bringen sie ihn hier nach Nara?«
Juman zündete sich eine bereits zur Hälfte gerauchte beedi an. Der Tabak war stark und er spürte, wie er in seinen Blutkreislauf überging und ihn aus der Lethargie riss, in der er sich nach dem Fastenbrechen befand. »Ich habe gehört, dass im Gefängnis in Hyderabad etwas schiefgelaufen ist. Deswegen mussten sie ihn woanders hinbringen.«
»Aber warum bringen sie ihn ausgerechnet hierher? Das ist kein Gefängnis. Dieser Ort ist nur ein winziges Dreckloch mitten im Nirgendwo. Und warum wir? Wir sind keine Elite-Antiterror-Einheit. Wir sind nur ein Haufen Dorfpolizisten. Jetzt werden seine Jihadi-Freunde uns holen. Ich wusste, dass ich heute nicht hätte kommen sollen. Wäre ich daheim geblieben, würde ich jetzt gemütlich in meinen eigenen vier Wänden sitzen.« Peerals Jammern wurde immer heftiger.
»Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass sie ihn hierher bringen. Weil es so ein Dreckloch ist. Und das ist auch der Grund, warum wir ihn bewachen sollen. Welche Verbindung sollte er zu Bauerntölpeln wie uns schon haben? So hat es mir zumindest der Assistent des ASP Sahibs erklärt.«
»Wo ist der ASP Sahib überhaupt? Ich habe ihn seit dem Iftar nicht gesehen. Er hat sein Fasten mit ein paar Datteln gebrochen und einen ordentlichen Schluck Wasser getrunken, und dann war er verschwunden.«
»Du weißt, wie er ist. Er muss alles fünfhundertmal überprüfen. Er sieht wahrscheinlich noch mal nach dem Stacheldrahtzaun.«
»Aber warum mussten sie ausgerechnet uns aussuchen, yaar? Der ASP Sahib brummt uns immer die schlechtesten Aufträge auf, die man sich vorstellen kann.«
»Halt den Mund und hör auf zu heulen, Peeral. Denkst du, der ASP Sahib hatte in dieser Angelegenheit was zu sagen? Wenn es um Scheich Uzair geht, müssen die Anweisungen von ganz oben gekommen sein. Arre baba, er ist einer der meistgesuchten Männer der Welt. Ich habe gehört, dass die Amerikaner ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt haben, aber die Regierung will ihn vor Gericht stellen. Wie es scheint, setzen sie ihn beinahe auf eine Stufe mit Osama.«
»Was meinst du, wie viel werden die Amerikaner zahlen?«
»Genug, um dir in deinem Dorf ein Stück Land und so viele Kühe zu kaufen wie du willst.«
Von dort, wo er stand, am Rande des Camps, konnte ASP Omar Abassi beobachten, wie die Männer über Jumans unbeschwerte Bemerkung lachten. Er legte seine Hand auf den neuen Maschendrahtzaun und überprüfte, ob er stabil genug war und seine Stacheln ausreichend spitz. Er hatte sich dazu entschlossen, die Umzäunung des Camps noch einmal zu inspizieren, auch wenn er das im Laufe des Tages schon zweimal getan hatte. Aber Omar Abassi war bekannt für seine Gewissenhaftigkeit. Nun ja, manche nannten es gewissenhaft. Andere, die weniger freundlich waren, bezeichneten es als krankhaft ordnungsbedürftig.
Von letzterer Sorte hatte es leider schon immer viele in seinem Leben gegeben. Omar Abassi war noch nie gut darin gewesen, Freunde zu finden. Für Kameradschaft hatte er nie Zeit gehabt, da er sich immer ausschließlich und punktgenau auf die Arbeit fokussiert hatte, die vor ihm lag. Als Sohn eines bescheidenen Dorfschulleiters hatte er sein Leben lang von Stipendien profitiert und einige der prestigeträchtigsten Schulen des Landes besucht, war dabei aber immer ein Außenseiter geblieben. Seine Klassenkameraden, allesamt Sprösslinge reicher und mächtiger Familien, hatten nichts als Verachtung für ihn übrig gehabt. Sie mochten eine Schulbank mit ihm geteilt haben, aber für sie würde er trotzdem immer der Sohn des Dorfschulleiters bleiben, der in der starren Klassenordnung der ländlichen Provinz Sindh kaum besser war als ein Bauer. Sein Vater hatte davon geträumt, dass er ein Arzt werden würde, aber die Stipendien waren im zweiten Jahr seines Medizinstudiums versiegt. Abassi waren...
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