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Die Serienmörderin saß seit nunmehr zehn Jahren hinter Gittern, weggesperrt und so gut wie vergessen. Es war ein kalter Herbstmorgen, als Detective Inspector Monica Kennedy im Carselang-Gefängnis eintraf. Für einen kurzen Moment schloss Monica die Augen, als die schwere Eingangstür mit lautem Krachen hinter ihr ins Schloss fiel. Ihrer Erfahrung nach klangen zuschlagende Gefängnistüren fast überall auf der Welt gleich. Das Geräusch mochte das gleiche sein, aber die Atmosphäre hier ist unverwechselbar, dachte Monica, als sie die Augen wieder aufschlug und den Blick durch die riesige Eingangshalle schweifen ließ. Die grauen Granitwände sonderten eine Fülle von Gerüchen ab: nach frittiertem Essen, Bleiche, Schweiß und dem beißenden Gestank der Verzweiflung. Kannst du die Verzweiflung riechen? Monica hatte in mehr als zwanzig Jahren Polizeidienst tatsächlich wiederholt diesen unvergleichlichen Geruch an den Kleidern zahlreicher Opfer und Täter wahrgenommen, hatte die Bitterkeit gerochen, die aus deren Poren gedrungen war.
Die Gefangenen hier drinnen haben nichts zu verlieren - trau keinem über den Weg, der so ohne Hoffnung ist. Diese Warnung stammte von Monicas Dad. Er hatte es bei einem ihrer gelegentlichen Wochenendbesuche im Gefängnis gesagt, als sie noch ein Kind war. Die Einrichtung war 1890 erbaut worden, um die gefährlichsten Verbrecher ganz Schottlands unterzubringen, in einem entlegenen Tal, dem Glen Wyvis, ungefähr eine Stunde Autofahrt nordwestlich von Inverness. Ihr verstorbener Vater, »Long« John Kennedy, war Wärter im Carselang gewesen und stolz auf seinen Posten. Liebend gern hatte er vor seiner Tochter damit geprahlt und sie im Gefängnis herumgeführt.
Der Klang von Schritten auf Steinboden ließ Monica aufblicken. Ein Angestellter mit einem Klemmbrett hatte die Eingangshalle betreten, um sie abzuholen. Er trug eine dunkle Uniformhose mit weißem Hemd, darüber einen schweren North-Face-Parka. Ein Zugeständnis an die eisige Luft, die von den Bergen herunterkam - und etwas, das man in der Zeit von John Kennedy niemals geduldet hätte, da war sich Monica sicher. Der Beamte warf einen Blick auf sein Klemmbrett, dann sah er wieder zu ihr auf und betrachtete sie mit Interesse.
»Sie sind DI Monica Kennedy?« Kurz streifte sie der Gedanke, ob er mit ihrem Dad zusammengearbeitet hatte. Doch dann wurde ihr bewusst, dass er dem Aussehen nach um die dreißig war - zu jung also. Noch einmal musterte er sie, die übliche Routine. Monica war über eins achtzig groß, hellhäutig, mit dunklen Haaren und einem intensiven Blick. Sie fiel auf. Zumal sie in jüngster Zeit die Leitung einiger aufsehenerregender Ermittlungen übernommen hatte, nachdem sie fünf Jahre zuvor nach der Geburt ihrer Tochter Lucy aus London in ihre alte Heimat zurückgekehrt war.
Monica nickte und trat näher. Als sie antwortete, kamen kleine Atemwölkchen aus ihrem Mund. »Ich habe einen Termin mit Pauline Tosh.«
Der Gefängnisangestellte sah wieder auf sein Klemmbrett. Die müssen hier doch mittlerweile Computer haben?
»Und ich dachte, ihr hättet sie aufgegeben. Harte Nuss. Vermutlich vergeudete Zeit. Ich bezweifle, dass sie Sie sehen will.« Die Haare des Mannes waren flach an seinen Kopf gedrückt, die Gesichtsfarbe gräulich, die Züge angespannt.
»Sie hat mich kontaktiert«, gab Monica zurück. Sein skeptischer Unterton löste einen Hauch von Gereiztheit in ihr aus. Das Carselang war einzigartig im schottischen Strafvollzug und umfasste im Grunde zwei Einrichtungen an ein und demselben Standort. Der Westflügel des Gebäudes war den männlichen Insassen vorbehalten, während im kleineren Ostflügel Frauen untergebracht waren.
»Sie haben sie eingebuchtet, stimmt's?« Die Stimme des Mannes überschlug sich vor Aufregung, weil er sie jetzt offenbar erkannt hatte. Instinktiv senkte Monica den Blick auf seine Brust auf der Suche nach einem Abzeichen: Es war durch den Parka verdeckt. Ihr Blick entging ihm nicht. »Entschuldigen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein . Mein Name ist Tyler Mitchell.«
»Schon gut.« Monica rang sich ein Lächeln ab und rief sich in Erinnerung, dass es, von ihrem Vater einmal abgesehen, nicht unbedingt jedermanns Traumjob war, mitten im Nirgendwo zu arbeiten, umgeben von einer Horde Schwerverbrecher. Da war es nur verständlich, dass der Beamte auf ein Pläuschchen aus war, um sich die Zeit zu vertreiben. Außerdem war es von Vorteil, sich mit den Angestellten gut zu stellen, wenn man eine Serienmörderin in einem maroden Gefängnis besuchte. Möglicherweise wäre sie auf Tylers Hilfe angewiesen, falls bei dem Treffen etwas schieflief. »Ich war Teil des Ermittlerteams, das sie überführt hat, ja. Ist schon eine Weile her.«
»Richtig«, sagte Tyler. »Ich erinnere mich. Hab damals davon gelesen - 2006 war das, oder irre ich mich? Für vier Morde hat man sie drangekriegt. Denken Sie, sie hat noch mehr auf dem Gewissen? Deshalb sind Sie hier, oder?«
Monica ertappte sich dabei, wie sie gedanklich die Einzelheiten des Falls durchging. Im Großen und Ganzen lag Tyler richtig. Vier Frauen aus der Region Glasgow waren damals ermordet worden, man hatte ihre Leichen an entlegenen Orten entlang der Westküste der südlichen Highlands gefunden. Monica war damals aus London in den hohen Norden gerufen worden, um der hiesigen Polizei beratend zur Seite zu stehen. Sie erinnerte sich, wie sie spätnachts noch im alten Präsidium in der Pitt Street in Glasgow gewesen war, aufgeputscht von Kaffee, als ihr ein scheinbar völlig nebensächliches Detail aufgefallen war - alle vier Fundorte hatten sich im Umkreis weniger Meilen von Campingplätzen befunden. An einem regnerischen Tag hatten sie diese Plätze besucht, um sich nach verdächtigen Männern, Angestellten oder Gästen zu erkundigen. Bei den ersten beiden hatten sie erfolglos wieder abziehen müssen, aber gerade als Monica vom dritten Campingplatz wieder aufbrechen wollte, hatte sie den Betreiber aus einer spontanen Eingebung heraus nach verdächtigen Frauen gefragt. Der Mann wollte schon lachend abwehren, als er stutzte und eine Besucherin erwähnte, die im Sommer fast jedes Wochenende mit ihrem Wohnmobil herkam. Sie traf jedes Mal spätabends ein und brach in aller Herrgottsfrühe wieder auf. Die Frau trug stets Arbeitsoveralls, obwohl sie doch angeblich Urlaub machte. Die Frau hieß Pauline Tosh: ein wenig eigenbrötlerisch und verschroben, aber allem Anschein nach harmlos. Sie war bereits als Zeugin befragt worden. Wie sich herausstellte, ging diese Frau nach dem immer gleichen Muster vor: Sie suchte die Gesellschaft von alleinstehenden, leicht verletzlichen Frauen, um sie bei nächstbester Gelegenheit zu erwürgen.
»Ja, wir nehmen an, dass sie noch mehr ermordet haben könnte«, gab Monica schließlich zu. Es war damals durch die Presse und durchs Netz gegangen, diese Information war also kaum als vertraulich zu bezeichnen. Die Sache mit den Fotos ließ sie allerdings aus. Diese hatten sie unter Toshs Habseligkeiten gefunden - sie waren allesamt in den Neunzigerjahren entstanden und zeigten sie allein neben ihrem Wohnmobil, immer an irgendwelchen abgeschiedenen Orten. Da lag der Verdacht nahe, dass sie zu jener Zeit im Gebiet der Highlands noch weitere Opfer verscharrt oder sich ihrer anderweitig entledigt hatte. Eine Zeit lang soll sie in Inverness gelebt haben.
Tyler nickte bedächtig. »Ich habe davon gelesen. Man konnte ihr nichts anhängen, es gab keine stichhaltigen Beweise.« Offenbar war Tyler noch so ein Fan von Serienmördern. Zu den seltenen Gelegenheiten, da Monica auf Partys oder zu Familientreffen ging, waren es immer die Serienmörder, über die die anderen Gäste mit ihr reden wollten. Das Märchenungeheuer der modernen Zeit. Faszinierend und von einem düsteren Glanz umgeben. Aber im wirklichen Leben waren es nicht selten völlig unscheinbare und langweilige Personen. Monica überlegte, ob der junge Gefängnisangestellte mit einem männlichen Polizeibeamten ähnlich jovial umgegangen wäre. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er ihren Boss, Detective Superintendent Hately, oder ihren Partner, Detective Constable Connor Crawford, derart in die Mangel nahm. Offenbar huschte ihr bei dem Gedanken ein verdrossener Ausdruck übers Gesicht, da Tyler nun hastig hinzufügte: »Verzeihen Sie die vielen Fragen. Ich begleite Sie besser hinein. Pauline fühlt sich gern auf den Schlips getreten, wenn man ihre tägliche Routine durcheinanderbringt.« Damit wandte er sich zur Gegensprechanlage und drückte auf einen Knopf, um sie anzukündigen. Mit einem Summen öffnete sich die zweite schwere Tür für sie; Monica meldete sich bei einem weiteren Beamten an, der ihre Jacke durch einen Scanner schickte und sie ihr dann zurückreichte. Tyler führte sie durch ein Labyrinth aus feuchtkalten Fluren, die nach der weitläufigen Eingangshalle eng und bedrückend auf sie wirkten. »Wir sind chronisch unterbesetzt«, teilte er ihr über die Schulter mit, während er eine dritte schwere Tür aufschloss, diesmal mit einem Schlüssel. »Der Großteil der Überwachungsarbeit läuft mittlerweile automatisch über Kameras. Wir reagieren nur, wenn etwas Außergewöhnliches vorfällt.«
Mit einem Krachen fiel die Tür hinter ihnen zu, und er schloss wieder ab. Ihre Schritte hallten vom nackten Steinboden wider, während sie sich tief in das Gefängnisgebäude hineinbegaben, durch zwei weitere Türen entlang schlecht beleuchteter Korridore. Schließlich machte Tyler vor einer Metalltür mit einem Guckloch halt, das durch eine Klappe verdeckt war.
»Es gibt eine Überwachungskamera, aber falls etwas passiert, ist es besser, wenn Sie den Alarmknopf an...
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