Schweitzer Fachinformationen
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Ich entschloss mich, alle Texte wegzulegen, an denen ich in den letzten Wochen gearbeitet hatte: Einen Zyklus von fünf Gedichten, »Genesis«, der mein Ausgetriebenwerden aus Dunkelheit und Leere in die Labyrinthe der Stadt thematisierte, und ein Dialogstück »Brahm«, in dem die Macht aus der immer wieder neu geschöpften Hoffnung ihres Gegenspielers erwächst. Mit beiden Arbeiten war ich nicht zufrieden, hatte sie mehrmals umgeschrieben, ohne wirklich voranzukommen. Beide Stoffe hatten mit der Vergangenheit zu tun, die Gedichte mit der Zeit ohne Veronique, nach dem Ende meiner ersten Liebe; das Dialogstück mit dem Ruin meines Vaters durch die Machenschaften eines Geschäftspartners. Ich aber hatte gegenwärtige Probleme. Die Beschäftigung mit dem Zeichen KAN liess mich bewusst werden, wie sehr mein Leben und Arbeiten gestaut und nicht in Fluss war. Den Band Märchen, an dem ich die letzten Jahre gearbeitet hatte, würde kein Verlag herausbringen wollen. Aus Trotz hatte ich mich in eine Arbeitswut gesteigert, in der ich nichts mehr um mich wahrnahm, vor allem nicht, dass ich im Begriff war, meine jetzige Freundin Pippa zu verlieren. Sie war eine Nacht nicht nach Hause gekommen. Seither wusste ich nicht, wie es mit uns weitergehen sollte. Ich fand keine Kraft mehr zu arbeiten, die Texte waren tot, und ich lag auf dem Bett, versuchte zu lesen, doch die Wörter blieben stumm, drangen nicht in mich ein. Pippa hatte Probe im Theater, und ich wusste, dass sie dort auch den Kollegen wieder traf, bei dem sie die Nacht verbracht hatte. Die Eifersucht lähmte mich, ich war aber auch traurig und selbstmitleidig, haderte und quälte mich, versuchte, mir klar zu werden, wie ich mich Pippa gegenüber verhalten sollte. Da schoss aus dem linken Augenwinkel ein Traumbild hoch, stand gewaltig über mir: Eine riesenhafte, dunkle Gestalt, wie ein Geist oder Dämon aus den Märchen. Dieser hatte langes, zottliges Haar, einen Bart um den offen stehenden Mund, in dem spitze, entstellte Zähne standen wie bei den hölzernen Masken aus dem Lötschental. Erschreckend waren die leeren Augen, schwarze Höhlen, die dennoch giftig glänzten, mich mit einem Blick ansahen, den ich nicht ertrug. Während ich ihm auswich, sah ich über dem Dämonenhaupt eine junge Frau aufsteigen. Ihr Haar, das Gesicht, die Körperhaltung ließen keinen Zweifel: Es war Pippa, und sie lächelte mitleidig und traurig zu mir herab. Sie stieg höher und höher, ließ zuoberst die Griffe in den Falten eines Theatervorhangs los, wich ein wenig zur Seite, als habe sie etwas ohne Absicht berührt oder wollte sich dafür entschuldigen, breitete die Arme aus, schwebte einen Augenblick lang im Zustand dieser Überhöhung. Sie würde stürzen, wenn ich mich nicht endlich bewegte, ausbräche aus dem lähmenden Brüten. Ich schreckte hoch. Mein Herz hämmerte, »wie ich es noch nie in meinem Leben verspürt habe«.
Ich fuhr mit der Straßenbahn in die Stadt, lief durch die Straßen, ziellos und schon leicht enttäuscht, dass sich wieder nichts Befreiendes einstellen würde, »kein Gefälle«, dem ich folgen könnte, wie das Wasser seinem Weg. Aus Gewohnheit und auch Langeweile betrat ich ein Antiquariat, stand nach dem Klingeln der Türglocke in einem von Neonlicht beleuchteten Raum. Ein Gefühl des Bedauerns beschlich mich: Statt wie erhofft Menschen zu begegnen, war ich durch meine Flucht in die Stadt nur wieder bei Büchern angelangt. Jetzt müsste ich wohl oder übel ein paar Regale durchsehen, und so fragte ich den älteren Mann, der im Hintergrund an einem Pult saß und bei meinem Eintreten hochgeblickt hatte, ob ich mich umsehen dürfe. Ohne seine Antwort abzuwarten, entzog ich mich seiner Beobachtung, trat zwischen die Regale, ließ den Blick über die Reihen meist schon vergilbter Umschläge gleiten. Ich schaute flüchtig die Abteilungen Philosophie und Psychologie durch, verweilte etwas länger bei den Romanen und Erzählungen. Seit ich Antiquariate besuchte, galt meine besondere Aufmerksamkeit dem stets schmalen Segment mit den dünnsten Bänden. Gerade dort hatte ich Funde gemacht, die mich prägten: Die Gedichte Robert Walsers und Alexander Xaver Gwerders. Auch jetzt verweilte ich etwas länger vor dem Regal, das zwischen den Abteilungen »Literatur« und »Theologie« eingeklemmt war, sah die Rücken durch, nahm einzelne Bändchen zur Hand, um Autor und Titel zu lesen. Ich achtete besonders auf die etwas älteren Ausgaben, waren sie doch oftmals schön gestaltet, hatten eine Radierung oder eine Lithographie auf dem Vorsatzblatt, und solch einen Band zog ich jetzt aus dem Regal. Ich schlug ihn an einer beliebigen Stelle auf, las den Titel des auf Büttenpapier gedruckten Gedichtes, und war versucht, den Band augenblicklich zurückzustellen. »Der Kuss«, so lautete der Titel. Das gewohnte Durchsuchen der Lyrikregale hatte mich gelehrt, dass ein Großteil der vor sich hin alternden Bändchen von ebenso gealterten Gefühlsüberschwängen zeugten, und es war nicht so sehr Interesse als die Genugtuung, den Dichter mit solch einem Kitschtitel scheitern zu sehen, die mich die erste Strophe lesen ließ:
Ich liebe dich und glaub' dich nicht zu kennen.
Ich halte dich und weiß das kaum zu nennen,
Was deine Wangen schlaff und fröhlich macht,
Es ist des Geistes innigste Empfängnis
Von Mensch zu Mensch in Lust und in Bedrängnis
Nur wie ein Ruf von Wandrern durch die Nacht.
In den beiden Anfangszeilen war ein Klang, der mich berührte und einen Widerhall in den beiden Schlusszeilen fand. Trotz der verunglückten dritten Zeile war ich gespannt auf den Namen des Dichters, klappte den Band zu, las in Goldprägung und Kapitalen: »Adrien Turel, Es nahet gen den Tag« und stutzte. Den Namen hatte ich gehört, und als ich am Abend meinen Jugendfreund Fredi, dem ich zufällig in Zürich wiederbegegnet war, in der Bodega traf, erzählte ich ihm, dass ich mich beim Anblick der Prägeschrift auf dem Buchdeckel plötzlich erinnert habe. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich bei Frau Bürdeke in der ehemaligen Buchhandlung gearbeitet. An einem Abend standen wir vor der Ladentür, und sie begann von der Witwe eines Schriftstellers und Philosophen zu erzählen. Frau Bürdeke, die selbst Gedichte schrieb, schaute über die Kirchgasse hinweg in den abendlichen Himmel, das Gesicht von einem inneren Bild für einen Moment reglos, bevor sie sich mir zuwandte und weitersprach:
- Sie müssen dort hingehen, Sie müssen das gesehen haben. Tausende von Manuskriptseiten, Stapel von Entwürfen, Notizbüchern, Skizzen, Abhandlungen - in Kasten und Regalen angehäuft. Adrien Turel war ein Verrückter, ein Besessener, der all die Jahre weiter- und weitergeschrieben hat, obwohl er kaum noch ein Buch publizieren konnte. Sie müssen seine Witwe besuchen und sich diesen Wust an Papier ansehen!
Mit Fredi hatte ich archäologische Entdeckungen, Grabungen und Forschungen gemacht, und ein wenig fühlten wir uns an die urgeschichtlichen Exkursionen in der Jugendzeit erinnert, als wir uns über den Stadtplan beugten, nach der Venedigstraße suchten, in der Turel gewohnt hatte und seine Witwe noch immer lebte. Gäbe es einen Fund von nationaler Bedeutung zu machen, wie damals die neolithische Grube am Goffersberg bei Lenzburg? Oder stießen wir auf das Geschreibsel eines verwirrten Geistes in einem engen, hohen Verlies voll Papierstapeln, Mappen, Schachteln, erhellt von einer nackten Birne, die an ihrem Draht von der Decke baumelt?
Mit der Straßenbahn fuhren wir zur »Enge«, einem Quartier am linken Rand des Seebeckens. Das Wetter war kalt und regnerisch. Unweit der Haltestelle bogen wir in ein kurzes Straßenstück, standen schließlich vor einem Haus der Belle Epoque, dessen Balkone mit Säulen und Rundbogen italienische Stilelemente zitierten.
Frau Turel empfing uns an der Wohnungstür, führte uns durch einen breiten Flur in ein Zimmer, das früher einmal der Salon oder das Speisezimmer gewesen sein mochte, jetzt als Arbeitsraum diente. Von zwei Seiten fiel das Nachmittagslicht herein, spiegelte auf dem Parkett und sammelte sich in einem Erker hell um einen Topf mit Farnfächern. Rechterhand, vor einem Schrank aus Nussbaumholz, stand am Fenster ein Pult. Es sei der Arbeitsort Turels gewesen, erklärte seine Witwe, an dem seit seinem Tod niemand mehr geschrieben habe. Schräg davor und gegen die Mitte des Zimmers hin bedeckten Stapel maschinenbeschriebener Manuskriptseiten einen Tisch, auf dem auch Schere und Leim, Lineal sowie Farb- und Bleistifte lagen: Dies sei ihr Arbeitstisch, an dem sie das Werk bearbeite.
Frau Turel trug einen Wollrock, dazu eine Bluse und leichte Strickjacke. Ihre Begrüßung an der Tür war knapp, ohne Herzlichkeit gewesen, und die Art, wie sie ins Zimmer voranging - etwas nachlässig und ohne uns noch weiter zu beachten - ließ uns eine distanzierte Überlegenheit spüren, die einen höflichen, gar herzlichen Empfang unnötig machte. Sie hieß uns am Tisch Platz nehmen, brachte aus der Küche ein Tablett mit Teekanne und Tassen, schob Manuskriptbündel zur Seite, und während sie einschenkte, fiel ihr Haar vom Mittelscheitel über die ausgemergelten Wangen zum Kinn.
Niemand wolle heute noch etwas von Turel wissen, sagte sie, schob mit beiden Mittelfingern die Strähnen zur Seite, schüttelte kurz den Kopf, dass ihr Haar in den Nacken fiel. Mit diesem großen Werk sitze sie allein da, arbeite Tag und Nacht an den Manuskripten, die sie lesbar machen müsse.
Turel sei auch heute noch seiner Zeit voraus. Selbst ein Künstler wie Max Bill, der zur Avantgarde gehöre und mit dem sie seit der gemeinsamen Zeit an der Kunstgewerbeschule befreundet sei, habe keinen Zugang gefunden und...
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