Schweitzer Fachinformationen
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EINS
Das Atmen fiel Samantha schwer. Der Rauch brannte in der Lunge, und die Hitze war unbeschreiblich. Funken flogen durch die Nacht.
Begleitet von Jubeln, wurde ein brennender Wagen an ihnen vorbeigezogen. Die Zuschauer wichen nach hinten aus, soweit ihnen das möglich war. Samantha hielt die Hände vor das Gesicht und wandte sich ab. Erleichtert blickte sie dem Wagen nach, als er sich entfernte. Die Flammen schlugen bis zu den Giebeln der Häuser in der Liestaler Altstadt.
«Und?», fragte Joel.
«Ich weiss nicht», erwiderte Samantha. Seit der Umzug gegen Viertel nach sieben angefangen hatte, war sie hin- und hergerissen zwischen Faszination und Unbehagen.
«Wie, du weisst nicht?» Joel fasste sie an den Schultern und drehte sie zu sich. Er legte seine Hände um ihre Taille und zog sie an sich.
«Ein wilder Brauch.»
«Nun ja, die Fasnacht ist nicht ohne.»
«Ich habe noch nie Bürger gesehen, die hartnäckig versuchen, ihre eigene Stadt abzufackeln.» Samantha deutete auf das Stadttor, durch das gerade mehrere Besenträger gingen. Anhand der Haltung der Träger mussten die überdimensionierten Besen schwer sein. «Das Tor besteht zum Teil aus Holz.»
«Okay, es mag ein wenig speziell sein, weil sich die wohl älteste bekannte Holzdecke des Kantons Baselland ausgerechnet in einem Gebäude befindet, durch das Jahr für Jahr beim Chienbäse-Umzug brennende Besen und Feuerkörbe getragen werden und Feuerwagen durchfahren. Du kannst aber beruhigt sein. Die Feuerwehr sieht zu, dass dem <Törli> nichts passiert.»
Das hatte Samantha bereits bemerkt. Bevor eine Gruppe das Tor passieren konnte, hielten Feuerwehrleute ihren Wasserstrahl auf das Tor gerichtet, damit es feucht blieb.
«Ich bin keine Fasnächtlerin, aber das Ganze ist faszinierend», sagte Samantha.
Joel hatte ihr vor zwei Tagen vorgeschlagen, sich am Sonntagabend den Chienbäse-Umzug anzuschauen. Samantha hatte zunächst damit nichts anfangen können.
«Für mich ist das einer der verrücktesten Bräuche», sagte sie.
«Dafür ist der Chienbäse einmalig.» Joel machte mit seinem Handy ein Foto von einem Feuerkorb, der von acht Männern an ihnen vorbeigetragen wurde.
«Wie lange gibt es ihn schon?»
«Da fragst du mich was. Ich glaube, ein solcher Umzug mit Chienbäse und Pechfackeln wurde zum ersten Mal 1902 bewilligt. Ein Konditormeister soll der Begründer des Umzuges in der heutigen Form sein.»
«Ein Konditormeister?»
«Bäcker brauchten für das Beheizen ihrer Öfen damals fast ausschliesslich Föhrenholz und verwendeten dazu das <Chien>. Das ist speziell harzreiches Holz.»
«Sie bauten dazu diese Wagen?» Mit gemischten Gefühlen schaute sie zum Tor, durch das gerade ein neuer Feuerwagen gezogen wurde. Das Feuer loderte an dem Gebäude hoch, und es schien für einen Augenblick so, als stände es in Flammen.
«Nein, die Wagen kamen später dazu. Am Anfang der dreissiger Jahre kamen junge Burschen auf die Idee, einen Eisenkessel mit Holz zu füllen. Sie zündeten es an und rannten damit durch die Stadt.»
«Und diese riesigen Feuerwagen waren seitdem erlaubt?»
«Nein. Zuerst gab es einen Unterbruch der Fasnachtsveranstaltungen durch den Zweiten Weltkrieg. Danach verbot der Gemeinderat die Wagen. Sie wurden erst nach 1961 wieder erlaubt.»
Der Wagen war nach dem Tor stehen geblieben. Samantha erkannte Zuschauer, die Würste auf Holzstecken spiessten und an die Flammen hielten.
«Hier.» Joel reichte Samantha einen Holzstecken und einen Cervelat.
«Du willst .»
«Warum nicht?»
Der Wagen setzte sich in Bewegung und hielt kurz darauf bei ihnen. Die Hitze war unbeschreiblich. Funken stoben, und Samantha wich ein Stück nach hinten und schirmte mit den Händen ihr Gesicht ab. Da das nichts nützte, stellte sie sich hinter Joel und presste ihren Kopf gegen seine Schulter. Joel steckte seine Wurst auf den Ast und tat das Gleiche mit Samanthas. Gemeinsam mit den Leuten, die rechts und links neben ihnen standen, hielt er beide an das Feuer.
«Wo kommt überhaupt das ganze Holz her?», fragte Samantha und war froh, als der Wagen unter lautem Klatschen des Publikums weitergezogen wurde.
«Das stellt Liestal zur Verfügung.» Joel biss in seinen Cervelat. «Je nach Grösse werden zwischen einem halben bis sechs Ster Holz aufgeladen. Die Wagen werden nach dem Beladen durch das Feuerinspektorat auf Höhe, Breite und Art der Ladung geprüft und danach offiziell freigegeben. Es ist also sicher.»
«Na ja, relativ», wandte Samantha ein. Trotz der wachsenden Faszination konnte sie das Unbehagen nicht gänzlich zur Seite schieben.
«Schau mal, da kommen sie.» Joel legte seinen Arm um Samantha, zog sie zu sich und deutete auf das Tor. «Mein Vater und seine Gruppe.»
Samantha fragte sich, wie Joel ihn erkennen konnte. Für sie sahen alle Besenträger, die abwechselnd mit den Wagen und den Trägern von Feuerkörben in einer Kolonne am Umzug mitliefen, gleich aus. Sie trugen feuerfeste Kleidung und entsprechende Kopfbedeckung. Obwohl die vielen Feuer genügend Helligkeit verbreiteten, war es schwer, einzelne Personen zu erkennen. Samantha steckte den letzten Bissen Wurst in den Mund und beobachtete die Gruppe, die sich näherte. Die Besen loderten. Funken stoben knisternd in den Abendhimmel. Nun meinte Samantha, Beat zu erkennen. Es war ein lang gehegter Wunsch von Joels Vater gewesen, einmal am Chienbäse-Umzug, der in diesem Jahr Anfang März stattfand, mitzulaufen. Dieses Jahr hatte er ihn sich erfüllt. Mit seinen Jassfreunden hatte er beschlossen, sich einer Gruppe Besenträger anzuschliessen. Samantha musste lächeln, als sie an die kindliche Freude dachte, wenn Beat davon erzählte, wie er seinen Besen zusammengebaut hatte. Samantha hatte bis heute Abend keine Vorstellung gehabt, wie so ein Besen aussah. Sie bewunderte die Männer, die diese zwanzig bis hundert Kilo schweren Besen die ganze Strecke durch die Altstadt auf der Schulter trugen.
Die Gruppe näherte sich und hatte Samantha und Joel fast erreicht, als ein Knall das Geknister, den Applaus und die Pfiffe übertönte. Samantha schaute sich irritiert um. Einer der Männer, die vor Beat liefen, strauchelte. Bevor jemand reagieren konnte, sackte er auf den Boden. Sein Besen kippte direkt auf Samantha und Joel zu. Es war für Samantha, als würde er sich im Zeitlupentempo auf sie zuneigen. Samantha starrte auf die Flammen, die sie fast erreichten. Weg, schrie es in Samantha. Sie hob die Hand, um sich zu schützen, aber die Beine weigerten sich, den Befehl des Kopfes auszuführen.
«Achtung!», hörte sie Joels Aufschrei.
Sie wurde am Arm gepackt und auf die Seite gezogen. Keine Sekunde später landete der Besen auf dem Boden. Genau an der Stelle, an der Samantha eben gestanden war.
***
«Möchtest du nicht lieber zum Arzt?», fragte Verena.
Joels Mutter schraubte den Deckel auf die Tube und legte sie auf den Tisch. Anschliessend beugte sie sich über Samanthas linke Hand. Ihre braunen Haare, die einen Schnitt vertragen konnten, fielen in ihr Gesicht, und Samantha bemerkte den grauen Ansatz.
Zwar hatte Joels rechtzeitiges Eingreifen verhindert, dass der brennende Besen gegen Samantha gefallen war, aber er hatte ihre Hand gestreift. Die Verbrennungen stufte Samantha für nicht gefährlich ein, obwohl die Haut spannte und schmerzte.
«Es hat zwei Brandblasen gegeben.» Verena deutete auf Samanthas Handrücken.
«Blasen würde ich diese beiden kleinen Gebilde nicht nennen.»
«Sag doch mal was, Joel», rief Verena. «Sie sollte das einem Arzt zeigen.»
«Vreni, lass es gut sein», kam Samantha Joel zuvor. Sie legte die Hand auf Verenas Arm. «Wenn es schlimmer wird, gehe ich sofort zum Arzt. Versprochen.» Verena musste nicht wissen, wie stark die Haut spannte. Sobald etwas ihren Handrücken berührte, brannte es höllisch. Immerhin linderte die Salbe, die Verena aufgetragen hatte, den Schmerz und kühlte.
«Du bist Linkshänderin und brauchst die Hand.»
«Meine rechte ist funktionstüchtig, und das reicht für den Moment.»
Inzwischen hatte Samantha sich von dem Schrecken erholt. Sie liess den Vorfall Revue passieren. Nachdem der Mann zu Boden gefallen war, waren Feuerwehrleute herbeigeeilt und hatten die Umstehenden gebeten, den Bereich sofort zu verlassen. Anschliessend hatten sich Sanitäter um den Mann gekümmert und ihn fortgebracht. Dabei hatten weder Joel noch sie erkennen können, wer der Mann war und ob er ernsthaft verletzt war. Zum Glück war der brennende Besen schnell gelöscht gewesen, und es hatte keine Panik gegeben. Die Leute, die neben ihnen standen, vermuteten einen Herzinfarkt, und Joel war zu dem gleichen Schluss gekommen. Der Umzug war danach weitergegangen. Samantha war froh gewesen, dass es keine weiteren Zwischenfälle gegeben hatte. Am Ende waren sie den Leuten aus dem Stedtli gefolgt.
Samantha war mit Joel eine Viertelstunde zu Fuss zum Haus seiner Eltern gegangen, wo sie das Auto abgestellt hatten. Geplant war ein gemeinsames Nachtessen nach dem Umzug. Verena hatte angekündigt, es gäbe Mehlsuppe und Liestaler Käsewähe.
Die Zeit war verstrichen, ohne dass Beat gekommen war oder sich gemeldet hatte. Samantha schielte zur Uhr. Beat hatte angekündigt, er würde länger brauchen, bis er heimkomme, aber mit mehr als einer Stunde hatte sie nicht gerechnet.
«Ich schau nach dem Essen», sagte Verena.
Samantha hörte die Haustür ins Schloss fallen. Beats Gesicht tauchte im Türrahmen auf. Er war blass, und seine Haut und seine vollen grauen Haare waren russverschmiert. Er sah hagerer aus als sonst. Beat betrat das...
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