Kapitel 1
Etwas Neues probieren
Kristina
»Was?« Kristina schüttelte den Kopf, sodass ihr Pagenschnitt im Takt mit den großen Goldringen in ihren Ohren herumschwang. »Ich habe nicht vor, den Kurs zu leiten.« Sie starrte stur aufs Meer hinter Karl, der in einem der bequemen Sessel auf der Terrasse saß. An diesem klaren Augustnachmittag konnte sie die Insel Ven, die im Öresund zwischen Schweden und Dänemark lag, deutlich sehen.
»Habt ihr diesen Sommer mal nach dem Haus gesehen, du und Erik?«, fragte Kristina. »Ihm würden ein paar freie Tage guttun.«
Die Sorge um Erik war immer präsent. Er arbeitete so hart in der Firma seines Vaters, dass es ihr erschien, als hätte er jedes Mal mehr graue Haare, wenn sie ihn traf.
»Versuch nicht das Thema zu wechseln, Mama.«
»Ich glaube, dass man das Dach ausbessern muss, ehe die Herbststürme über die Insel ziehen.«
Sie sah weiter Richtung Ven. Karl seufzte. Er erhob sich halb aus seinem Sessel und schob sich in ihr Sichtfeld.
»Derjenige, der den Kurs leiten sollte, ist krank geworden, da habe ich an dich gedacht. Meine Freunde vom Auktionshaus Schonen sind verzweifelt. Du kannst so viel und hast Erfahrung im Unterrichten .«
»Erfahrung, die über vierzig Jahre zurückliegt. Ich war fleißig und meine Schülerinnen und Schüler waren interessiert.« Sie erinnerte sich daran, wie gern sie unterrichtet hatte.
»Als ich geheiratet habe, wollte Paul nicht, dass ich weiterarbeite. Weißt du noch, Erik, wie du und ich am Küchentisch zusammen Hausaufgaben gemacht haben?«
Eine alte Erinnerung stieg in ihr auf. Die gemütliche Stimmung wich einer Anspannung, die alle drei am Tisch erstarren ließ. Eine Tür, die geschlossen wurde, und Augen, die flackerten. Blitzschnell, fast reflexartig, wischte sie die Erinnerung fort.
»Du wirst ein super Ersatz. Du hältst den Kurs. Außerdem weißt du wahnsinnig viel über Antiquitäten. Ich habe schon gesagt, dass du den Auftrag annimmst.« Karl sah sie durchdringend an und wich ihrem Blick nicht aus.
Kristina starrte ihn an.
»Das ist nicht witzig, Karl. Du hast einfach für mich entschieden, ohne mich zu fragen. Du weißt genau, wie ungern ich neue Leute treffe.«
Sie stellte ihr Weinglas mit einem Klirren auf den Tisch zurück.
Er lächelte. Das Lachen lauerte schon in seinem Mundwinkel.
»Ich kenne keine Person, die so pädagogisch ist wie du. Du bekommst den Kursplan mit den Vorlesungen und allem. Der Stilkundekurs findet dienstagabends statt, zehnmal im Herbst. Das Personal vor Ort hilft dir bei der Technik. Nun mach schon.«
»Ich fühle mich betrogen.«
Kristina sank mutlos in ihren Sessel zurück. Wie sollte sie es aushalten, vor lauter unbekannten Menschen zu stehen? Eine Vorlesung halten! Was, wenn sie den Faden verlor? Wenn sie die Zuhörenden nicht einmal mitreißen könnte? Als sie noch in der Schule gearbeitet hatte, war sie gut darin gewesen, eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen und ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Aber jetzt, mit erwachsenen Menschen und nach so vielen Jahren fast absoluter Isolation? Wie sollte sie so neue Beziehungen aufbauen?
»Bitte, Mama«, hörte sie Karl wie von weit weg sagen. Das Einzige, das seine Unsicherheit verriet, war das leichte Zittern seiner Hand, als er sich das Rotweinglas an den Mund führte.
»Ich machs, aber du bist echt unmöglich«, hörte sie sich antworten. Sie, die nicht von ihren eingespielten Wegen abgewichen war, seit Paul die Freundlichkeit gehabt hatte, in den frühen Teenagerjahren seiner Söhne zu sterben.
»Ich weiß. Ich schreibe jetzt eine SMS und dann ist die Sache geritzt. Sie rufen dich dann an.«
»Wer genau?«
Karl verdrehte die Augen.
»Das Personal vom Auktionshaus. Dann hast du etwas, wofür du dich engagieren kannst, Mama.«
»Das will ich gar nicht. Das fühlt sich nicht gut an.« Sie schob die Serviette auf dem Tisch hin und her.
»Doch, du wirst das ganz toll machen.« Er stand auf.
»Sollen wir reingehen? Es wird langsam etwas kühl hier draußen.«
Karl hakte sich bei Kristina ein und führte sie durch die Glastüren in die Bibliothek.
»Ich mache uns einen Kaffee.« Er ließ sie auf dem Chesterfieldsofa zurück.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie fühlte sich in die Ecke getrieben. Trotzdem steckte ein Funken Wahrheit in dem, was Karl sagte. Er hatte immer ein feines Urteilsvermögen gehabt. Das war sicher einer der Gründe, warum er so gut malen konnte. Vielleicht war der neue Job ja genau das Richtige für sie? Kristina sah an die Wand über dem offenen Kamin, wo Paul im Goldrahmen hing, mit seinem markanten Kinn, das er so gebieterisch nach vorne schob. Sie erschauderte. Die Angst saß noch immer tief.
»Das Bild ist mit dem Motiv sicher nicht besonders viel wert. Abgesehen davon dreht Erik durch, wenn wir es herunternehmen.« Karl erschien im Zimmer und stellte das Tablett auf den Tisch. Er reichte Kristina eine Tasse, schenkte ihr Kaffee ein und schob ihr den Teller mit den Pralinen hin. Kristina seufzte, als sie in Karls Gesicht sah.
»Liebe Mama, guck nicht so ängstlich. Du musst mal raus und unter Leute kommen. Wir machen uns Sorgen um dich.«
»Wer, wir?« Hatten sie hinter ihrem Rücken über sie geredet? Was hatten sie gesagt? Wie erbärmlich es war, dass sie darauf bestand, weiter in dem alten Steinhaus zu wohnen?
»Erik und ich natürlich. Du wohnst hier ganz allein mit all diesen Erinnerungen.«
»Muss ich ja.«
Kristina verschränkte die Arme vor der Brust. Warum war es für ihre Söhne so schwer zu verstehen, dass es ein Teil ihres Sieges war, hier wohnen zu bleiben? Zu bleiben, statt zu fliehen? Der Sieg über Paul. Aber vielleicht könnte der Stilkundekurs dazu beitragen, dass dieser etwas verstaubte Sieg sich wieder neu anfühlte? Als ob man einen alten Pokal putzen und zum Glänzen bringen würde. Ihre Augen leuchteten auf. Wie es wohl wäre, wieder von jemandem wahrgenommen zu werden?
Sie wusste, dass sie gut aussah. Sie hatte immer gut ausgesehen - und das war wohl auch der Grund dafür gewesen, dass Paul sich damals für sie entschieden hatte. Was er gewollt hatte, war eine Vorzeigefrau. Aber jetzt fingen ihre Lider an zu hängen und unter den Augen hatte sie hässliche Ringe, die sie dauerhaft müde aussehen ließen. Sie musste etwas dagegen tun. Schlicht und einfach, um ihr Selbstbewusstsein wieder aufzubauen, jetzt, wo sie in die Rolle der Kursleiterin gezwungen wurde. So eine Operation könnte wie ein Schutzschild fungieren, wie eine dauerhafte Rüstung. Das perfekte Äußere, das sie über so viele Jahre aufgebaut und gepflegt hatte. Die Klinik am Meer in unmittelbarer Nähe würde sicher eine Lösung für ihr Problem haben. Sie war früher ein beliebtes Tanzlokal gewesen. Ihre Gedanken schwirrten zu einer vergangenen Zeit.
»Worüber lächelst du?« Kristina wurde von Karls Frage zurück in die Gegenwart katapultiert.
»Ich dachte nur an den Strand. Erinnerst du dich an die ganzen Tanzabende?«
»Natürlich, da sind wir ja immer hingegangen.«
»Und ich hatte immer Angst um euch. Ich konnte nie schlafen, bevor ihr wieder zu Hause wart.«
»Ich weiß, besonders um Erik, nehme ich an.« Karl lächelte sie an.
Kristina lachte auf.
»Ich konnte nie sicher sein, in was für einem Zustand er nach Hause kommen würde. Er war immer so unberechenbar.«
»Das hat er von Papa. Plus die Tendenz zum Workaholic.«
Kristina seufzte.
»Die Launen, ja, aber er ist doch deutlich ruhiger geworden. Das ist dein Vater nie.« In den Jugendjahren der Kinder, genau genommen während ihrer ganzen Ehe, hatte sie in der Speisekammer immer Erste-Hilfe-Vorräte gehabt, die einer Notaufnahme gerecht geworden wären.
»Ich bin so dankbar, dass ihr erfolgreich euer eigenes Leben aufgebaut habt, trotz all der durchlebten Schwierigkeiten.« Sie streichelte Karl sanft über die Wange.
»Warum hat er mich nie malen lassen?«
»Er war für Sport, er fand, dass Jungen sich mit Golf und Tennis beschäftigen sollten. Nicht mit so Rumgeschmiere.«
»Erik hat immer ein gutes Ballgefühl gehabt.« Karl sah zu dem Porträt hoch.
»Du auch, Liebling.« Sie tätschelte ihm das Bein.
»Ich war nie gut darin, die Erwartungen zu erfüllen. Das schwarze Schaf.«
»Das darfst du so nicht sagen. Du bist anders. Das ist alles.«
»Danke, Mama, für all die Liebe, die du uns gegeben hast. Du hast alles getan, was du konntest.«
»Das ist der Job einer Mutter.« Kristina räusperte sich. Ihre Stimme brach ihr ein wenig weg. »Die Kinder stehen immer an erster Stelle, das ganze Leben lang.«
Ihre Augen trafen sich in warmer Übereinstimmung. Zwei sehr ähnliche Augenpaare. Dunkelbraun, fast schwarz.
»Das stimmt sicher, aber du musst auch an dein eigenes Leben denken. Für dich. Wir kommen klar.«
Karl blickte sie entschlossen an. Sie versuchte wegzusehen, doch er nahm ihr Gesicht in seine Hände und zwang es zu sich hoch.
»Ich weiß, dass du das nicht gerne hörst, aber Eltern sollten ihr Leben nicht mit dem ihrer Kinder und Enkelkinder ersetzen. Sie sollten ihr eigenes Leben leben. Du musst deinen persönlichen Weg finden, Mama.«
»Aber das ist so schwierig.« Die Tränen brannten hinter ihren Lidern, und sie schluckte schwer, um zu verhindern, dass sie hervordrangen.
»Du musst dir ein eigenes Ziel setzen. Du bist nicht dafür gemacht, allein in einer alten Patriziervilla zu sitzen.«
Karl legte seine Arme um Kristina und sie sog die vertraute Wärme auf. Sie schloss die Augen und versuchte sich den Moment einzuprägen, um ihn...