Schweitzer Fachinformationen
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Prolog
Edinburgh, Schottland
1987
In der Nacht zuvor hatte es zu schneien begonnen. Der Junge wachte auf dem Fußboden am Feuer auf, wie er es manchmal tat, wenn der Wind zu kalt blies und Mum die Stromrechnung nicht bezahlt hatte. Doch bis zum Morgen war das Feuer aus, nur noch glimmende Asche, und er konnte weder seine Finger noch seine Nase fühlen: Die einzigen Teile, die aus der kratzigen Wolldecke hervorlugten.
Trotz der feuchten Kälte, die in dem kleinen, dunklen Wohnzimmer herrschte, war der Junge froh, als er aufwachte. Heute war sein besonderer Tag. Er wurde fünf, und letztes Jahr an seinem Geburtstag, als er keine Geschenke bekommen hatte, hatte seine Mutter ihm versprochen, fest versprochen, wenn er fünf und ein großer Junge wäre, dürfte er zum Spielzeugladen gehen und sich etwas aussuchen.
Deshalb hatte er während des letzten Jahrs viel in weggeworfenen Katalogen geblättert, die er im Müll der Siedlung fand. (Manchmal musste er am Rand warten, während einige grobe, unberechenbare Gestalten nach Essen oder etwas Verpfändbarem wühlten.) In den Katalogen hatte er nach Spielsachen gesucht, die ihm gefallen würden. Wenn er welche entdeckte, riss er die Seiten raus und nahm sie mit ins Schlafzimmer, das er sich mit seiner Mutter teilte. Dort versteckte er die Blätter in der Innentasche seiner einzigen Jacke.
Hatte er bei den Katalogen kein Glück, blätterte er in den Zeitschriften in der Bücherei. Dort verbrachte er die meiste Zeit. Er ging nicht zur Schule, was er eigentlich sollte, damit seine Mutter ihrer Arbeit nachgehen konnte. Die Bücherei war ihm der liebste Ort. In den chaotischen Slums von Muirhouse fiel niemandem ein kleiner Junge auf, der in zu engen und fadenscheinigen Sachen stundenlang auf dem Fußboden in der Bücherei hockte, sich Zeitschriften ansah und von einem anderen Leben träumte.
Als sein Geburtstag näher rückte, war ihm eigentlich nicht mehr wichtig, was für ein Spielzeug er am Ende bekam. Er wollte einfach etwas, das ihm gehörte. Und obwohl er wusste, dass sich Jungen wie er Spielzeugsoldaten oder Autos wünschen sollten, wollte er einfach etwas Tröstliches. Ein Stofftier zum Beispiel, einen Bären vielleicht oder einen Hund. Er mochte Hunde, sogar die von seinem Nachbarn, die nachts immerzu bellten und beißen wollten, wenn man ihnen zu nahe kam. Auch diese Hunde mochte er.
Der Junge stand auf, fröstelte sogar mit der umgehängten Decke und ging ans Fenster. Seine großen, graugrünen Augen weiteten sich vor Staunen. Aller Dreck und Unrat auf den gottverlassenen Straßen war unter einer weißen Schneedecke verschwunden. Es war der erste Schnee dieses Jahr in Edinburgh, und der Junge konnte nicht umhin zu denken, dass er für ihn war, für seinen besonderen Tag. Mit kalten, ungelenken Fingern zog er sein Kreuz an der Kette unter dem Hemd hervor und küsste es, um Gott zu danken.
Er wollte seiner Mutter von dem Schnee erzählen, deshalb lief er über den dünnen Teppich, der voller Risse und Brandlöcher von Zigaretten war, und zum Schlafzimmer.
Er hätte wirklich anklopfen sollen. In seiner Aufregung vergaß er eine der wenigen Regeln, die seine Mutter ihm auferlegt hatte: »Wenn ich einen Freund hier habe, musst du im Wohnzimmer schlafen« und »Wenn meine Tür zu ist, mach sie niemals auf«.
Doch er öffnete sie.
Das Fenster hatte einen Sprung, durch den der Wind eindrang und die verblichenen Vorhänge bauschte. Unter dem Fenster stand das Bett, in dem seine Mutter in einem fleckigen Nachthemd auf dem Bauch lag und schlief.
Ein nackter Mann stand über ihr und rauchte Pfeife.
Der Junge erstarrte, doch es war zu spät. Der Mann sah ihn, schleuderte wütend die Pfeife weg und war in Sekunden quer durchs Zimmer geeilt, um den Jungen an der Gurgel zu packen.
»Glaubst du, dass du über mich urteilen kannst?«, fauchte der Mann ihm ins Gesicht. Sein Atem roch nach Zwiebeln und Blut.
Der Junge schloss die Augen und schüttelte ängstlich den Kopf.
Er hatte den Mann schon einige Male gesehen - seine Mutter hatte so viele Freunde. Sie alle verschwanden immer im Schlafzimmer, manchmal für Stunden, manchmal für Minuten. Dann hörte er sie husten, lachen und an guten Tagen freudige Rufe ausstoßen. An schlechten Tagen hörte er Gebrüll, das Weinen seiner Mutter und das Poltern von Sachen, die herumgeworfen wurden. An solchen schlechten Tagen hatte seine Mutter hinterher blaue Flecken und Wunden. Dann redete sie nicht mit ihm, ging nicht raus. Er blieb einfach bei ihr und brachte ihr dünnen Tee aus Beuteln, die schon mehrfach benutzt worden waren, weil nichts anderes da war.
»Glaubst du das?«, schrie ihn der Mann wieder an und drückte ihm den Hals zu.
Der Junge konnte nicht atmen. Er dachte, dass ihn dieser schreckliche Mann mit der lila Knollennase und den fiesen Augen umbringen würde.
Und ein bisschen wünschte er es sich sogar.
»Hey«, sagte seine Mutter vom Bett aus, während sie sich langsam regte. »Was ist los?« Ihre Stimme war matt, und sie lallte, als sie sich aufsetzte. »Lass meinen Sohn in Ruhe.«
Der Mann ließ ihn los und drehte sich wütend zu der Frau um. Keuchend griff sich der Junge an den wunden Hals, versuchte zu sagen, dass es ihm leidtat, aber es kam nichts heraus.
Es spielte sowieso keine Rolle. Plötzlich drehte sich der Mann wieder zurück und hieb ihm mit der Rückhand ins Gesicht, sodass abertausend Scherben in seinem Kopf zu explodieren schienen und er rückwärts flog.
Er knallte gegen den Türrahmen und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden. Dort betete er stumm zu demselben Gott, dem er für den Schnee gedankt hatte, dass er nie wieder solchen Schmerz spüren würde.
Doch es war natürlich nicht vorbei. Vorher hatte er noch ein ganzes Leben voller Schmerz durchzustehen.
»Du hältst die Klappe«, brüllte der Mann seine Mutter an.
Sie sah zu Tode verängstigt aus, schaffte es aber trotzdem, ihrem Sohn zu sagen, dass er aufstehen, ins Bad gehen und die Tür verriegeln solle.
Der Junge konnte sich kaum rühren, doch irgendwie bekam er es hin. Er rappelte sich mit pochendem Schädel auf, hustete würgend und ging ins Bad. Der Fußboden war nass von Urin. Linkisch schob er den Riegel vor, setzte sich auf die Toilette und wartete.
Es gab Geschrei, dann noch mehr Geschrei, schließlich knallte eine Tür zu.
Sanftes Klopfen verriet ihm, dass mit seiner Mum alles okay war.
»Mach dich lieber fertig«, sagte sie, als er die Tür einen Spalt öffnete. Bei ihrem Lächeln sah er ihre schiefen, gelben Zähne, und sie zog den Bademantel über ihrem hageren Körper zusammen. Ihre Brustknochen standen vor wie Gitterstäbe. »Heute ist dein Geburtstag, und ich habe nicht vergessen, was ich dir versprochen hatte.«
Bei den letzten Worten kippte ihre Stimme, und sie ging hastig weg, die Schultern eingefallen und den Kopf gesenkt.
Bald waren sie beide angezogen. Sie stapften durch den Schnee zur Bushaltestelle. Der Junge konnte nicht anders, als jedem und allem zuzulächeln, an dem sie vorbeikamen: den unheimlichen Leuten, die auf der Straße schliefen und mit sich selbst redeten, den Hunden, die zitterten und wegliefen, den Ratten, die Aas am Straßenrand fraßen. Nichts davon störte ihn, denn ihm kam die Welt hell und rein vor. Er kickte den Schnee auf und beobachtete, wie er langsam zu Boden rieselte. Und er sagte seiner Mum, so müsste es im Himmel sein, wenn man den ganzen Tag in den Wolken wanderte.
Sie wischte sich eine schwarze Mascara-Träne weg und stimmte ihm zu.
Die Busfahrt dauerte lange, doch am Ende waren sie in einem der riesigen Einkaufszentren. Das war der große Moment, auf den sich der Junge seit einem Jahr freute.
Er bemerkte nicht mal die komischen Blicke, mit denen manche Leute sie beide ansahen. Viel zu sehr war er auf sein Spielzeug konzentriert, und darüber schien ihm die Welt zu entgleiten. Trotz der Beule an seinem Hinterkopf und der geschwollenen Wange, die sich allmählich violett färbte, war dies der glücklichste Tag seines Lebens.
»Also, wir haben nicht viel Zeit«, sagte seine Mutter. »Such dir bitte schnell dein Geschenk aus, und ich bezahle es.«
Der Junge hörte das Drängen in ihrer Stimme, und auf einmal war das alles zu viel für ihn. Hier gab es Action-Figuren, Superhelden, Autos und Lastwagen, Pferde, Puppen, Stofftiere, Baukästen, Malsachen, Lego und eine Million andere Dinge, die er sich wünschte. Vollkommen überwältigt stand er da und blickte sich immer wieder um. Sein Herz pochte wie wild.
»Bitte«, sagte seine Mutter. Sie stand schon an der Kasse, bereit zu bezahlen. Und der Junge bekam solche Angst, dass er gar nichts kriegen würde, wenn er sich nicht das Richtige aussuchte. Gleichzeitig war er alt genug, um zu wissen, dass sie nicht viel Geld hatten, weshalb alles Ausgefallene und Teure nicht infrage kam.
Panisch bewegte er sich auf die Stofftiere zu. Sie steckten alle in einem Karton - Giraffen, Bären, Hunde, Katzen. Alle sahen aus, als bräuchten sie ein neues Zuhause, und es brach ihm das Herz, dass er nur eins mitnehmen konnte.
Aber er musste sich entscheiden. Er wollte schon nach einem Stoffwelpen greifen, als ihm ein Löwe auffiel, der halb in dem Haufen vergraben war, sodass nur seine Katzenaugen und die flauschige gelbe Mähne herausschauten. Dies war kein Ort für solch ein majestätisches Tier.
Der Junge zog den Löwen heraus. Er fühlte sich so weich und kuschelig in seinen Armen an. Mit dem Löwen rannte er zu seiner Mutter und hoffte, dass sie es sich nicht anders überlegt hatte.
Sie sah den Löwen an und lächelte. Er hatte es gut gemacht.
Nachdem sie bezahlt hatte, umfing er den Löwen mit aller Kraft. Es fühlte sich so gut...
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