Kapitel 3
Von Menschen, Mäusen und Verzweiflungstaten
Isländische Pampa, 5. Dezember
Flughafenparkplatz Kalima
Der milde Nachmittag, an dem Island mich hätte empfangen sollen, hat sich in eine eisige Nacht verwandelt. Aus der vorerst kleinen Verzögerung im Betriebsablauf wurden vierzig, siebzig, neunzig und schließlich zweihundert Minuten Verspätung, die den letzten Nagel in den Sarg meiner ohnehin lausigen Organisation gehämmert haben. Deshalb war es wenig überraschend, dass ich keinen meiner zahlreichen Anschlussflüge erreichte und nun fast fünfzehn Stunden später auf den kalten Stufen eines verwaisten Provinzflughafens hocke.
Und das seit einer geschlagenen Stunde.
Aber immer noch besser als im Inneren des Flughafens .
Ich starte das dritte Bibi-Blocksberg-Hörspiel - die einzig annehmbare Unterhaltung in der gruseligen Umgebung -, ziehe die Knie enger an meine Brust und presse die Lippen fest zusammen. Ganz davon abgesehen, dass der Flughafen anscheinend kein Interesse daran hat, seinen Gästen ein komfortables Ankommen zu ermöglichen - es gibt nicht mal einen lieblos aufgefüllten Snackautomaten -, wurde der Ort hier mit Sicherheit nicht wegen seiner zentralen Lage ausgewählt. Ich sitze buchstäblich mitten im Wald und stecke damit bis zu den Knien in der Scheiße.
Kein Handyempfang, ein ausgestorbener, WLAN-freier Flughafen im Rücken und eine einsetzende Panik in der Brust. Zusätzlich bin ich am Erfrieren, und langsam bekomme ich es wirklich mit der Angst zu tun. Zu Hause in Kreuzberg fühle ich mich nie so, weil dauerbelebte Straßen selten Anlass dazu geben. Egal ob Nachmittag oder Morgengrauen, immer sind ein paar Hundert Menschen im Umkreis, die einem in stiller Übereinkunft Gesellschaft leisten. Ganz davon abgesehen, dass ich zu jeder Zeit einen Döner mit extra viel Kräutersoße bekomme, wenn ich nur traurig genug aussehe.
Mein grummelnder Magen erinnert mich daran, wie sehr mir das jetzt schon fehlt. Meine letzte Mahlzeit war ein reduzierter Proteinriegel aus dem Duty-Free, der die Konsistenz eines Backsteins hatte. Seitdem sind Stunden vergangen, aber der Brocken dümpelt wahrscheinlich immer noch unzersetzt in meiner Magensäure.
Auf dem beleuchteten Fahrplan, der einzigen Lichtquelle in dieser Dunkelheit, steht in greller roter Schrift, dass die nächsten acht Stunden kein Bus in die Nähe dieses Flughafens kommen wird. Sollte mich theoretisch auch nicht interessieren, schließlich warte ich auf den Mann der Inhaberin des B&B, der mich, wie sie mir versichert hat, »mit Freuden abholen kommen« würde.
Eine Schneeflocke schmilzt auf meiner Stirn und läuft mir als dünner Tropfen über die gerötete Nase. Es sollte mir Sorgen machen, dass sich mein Gesicht abgestorben anfühlt, aber gerade muss ich mich primär dafür hassen, auf eine Betrugsmasche reingefallen zu sein. Bestimmt existiert Helgis B&B nicht einmal. Dabei habe ich alle nötigen Informationen überprüft, die mich Catfish gelehrt hat. Impressum, authentische Kundenbewertungen . Ich habe sogar die Facebookseite gestalkt und ein Familienbild von der vermeintlichen Helgi mit ihrem - ich vermute - Ehemann Aron gesehen. Beide mit dampfenden Tassen in den Händen, in kitschigen Weihnachtspullovern und mit einem dreckig gelben Häuschen im Rücken. Das Motiv hatte was aus einer anderen Zeit - so ein Foto, das man in einer tausendfach geknickten Version aus nostalgischen Gründen in seinem Geldbeutel aufbewahrt. Wie konnte ich darauf nur reinfallen? Wahrscheinlich ist das die Kunst der Betrüger, alles harmonisch und sympathisch wirken zu lassen, dabei hätte doch gerade ich misstrauisch werden müssen. Ganz ehrlich, wer bitte hat denn noch Facebook? Gott, jetzt darf ich mich in Zukunft nicht mal erhaben oder zu schlau fühlen, wenn ich mir diese Heiratsschwindler-Dokus auf YouTube ansehe, in denen Frauen ihrem supermuskulösen Freund im Ausland Geld schicken, weil seine American Express gesperrt ist.
Ich ziehe den Reißverschluss meiner viel zu dünnen Jacke höher und schrumpfe noch mehr in mich zusammen. Ich werde auf diesen Stufen erfrieren, weil es mir wichtiger war, wie ein Teddybär auszusehen, statt diese Jacke auf ihre Funktionalität zu testen.
Der Lachanfall, der sich schon seit Stunden in meinem Bauch sammelt, bahnt sich einen Weg durch meine Luftröhre. Dann entschlüpft er meinen Lippen, steigert sich, bis mein Bauch schmerzt und mir heiße Verzweiflungstränen über die Wangen laufen.
Ich bin so am Arsch. Trotz meiner anhaltenden Lethargie habe ich es geschafft, den virtuellen Shitstorm auf mein gesamtes Leben zu erweitern. Würde mich nicht wundern, wenn statt Schneeflocken plötzlich Fäkalien vom Himmel rieselten. Ich lache lauter, und für ein kurzen Moment sind meine abgehackten Laute das Einzige, was die betäube Stille durchbricht, als ein dunkelgraues Auto auf den ausgestorbenen Parkplatz fährt. Die Reifen mit dicken Ketten eingewickelt, wie ich es sonst nur aus Filmen kenne. Zehn Meter von mir entfernt bleibt es stehen. Meine deprimierenden Gedanken verpuffen und machen meiner grenzenlosen Erleichterung Platz. Innerhalb eines Wimpernschlags werden die Verzweiflungs- zu Freudentränen.
Es ist ein winziges Trostpflaster auf einer viel zu großen Wunde, dass ich doch zu schlau für einen Betrug bin. Jetzt bin ich nur noch halb so doll am Arsch.
Der Fahrer stellt den Motor ab, die Lichter des Autos erlöschen, und ich greife nach dem Geländer, um meinen vereisten Körper hochzuziehen, als meine Hoffnung in derselben Sekunde zerschlagen wird. Obwohl ich nur ein einziges Bild von Vermutlich-Aron gesehen habe, weiß ich mit Sicherheit, dass es sich bei dem Kerl, der gerade aus dem Auto steigt, nicht um meinen Abholservice handeln kann. Lange Beine, die in einer dunklen Jeans stecken, ein blauer Wintermantel, den er sich bis zum Kinn hochzieht, bevor er sich die Kapuze über die blonden Locken stülpt. Ich sinke zurück. Entäuschung legt sich wie ein pelziger Mantel auf meine angeschlagene Lunge.
Jetzt ist es endgültig, amtlich und nachweislich. Ich. Bin. Am. Arsch.
Der Fremde hält auf den Eingang - und damit auf mich - zu, und ich unterdrücke einen frustrierten Aufschrei. Als ich an den Rand des Treppengeländers rücke, um dem Typen den Eingang zum menschenleeren Flughafen zu erleichtern, manövriere ich meinen Hintern in eine riesige Pfütze. Sofort spüre ich, wie meine Leggings bis auf die Baumwollunterwäsche durchweicht wird.
Großartig. Ich kann die kommende Blasenentzündung kaum erwarten. Wäre lautes Wimmern die angemessene Reaktion einer erwachsenen Person in dieser Situation? Und wenn nein, macht es überhaupt einen Unterschied?
Die Schritte werden lauter, und ich ziehe mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. Dann unterbreche ich das Hörspiel, weil ich Bibis weinerlichen Monolog zur Rettung des Pferdehofs nicht mehr ertrage. Sie sollte lieber Geld für mich sammeln. Die Pferde haben doch bereits einen Pferdestall. Ich hingegen habe kein Geld, um nach Hause zu kommen, ich habe kein Geld für eine andere Unterkunft. Zudem will ich auf keinen Fall zurück in das Gebäude hinter mir, dafür nehme ich sogar eine Vereisung auf mich, aber irgendwo hinlaufen kann ich auch nicht. Wieso haben mich weder Schule noch Uni auf eine solche Situation vorbereitet? Wäre ein Survival Training in der wilden Natur nicht sinnvoller gewesen als die fünfzigste durchgekaute Staatstheorie irgendeines weißen Mannes? Ich starre auf den matschigen Asphalt, lasse der Verzweiflung und dem Schluchzen, das mir wie ein übergroßer Tennisball im Hals hängt, freien Lauf.
Plötzlich schieben sich Timberlands in mein verschwommenes Sichtfeld. Ich halte die Luft an und begreife überfordert, dass der Mann nicht an mir vorbeigelaufen ist. Er . steht vor mir. Langsam, als könne ihn eine zu schnelle Reaktion verschrecken, hebe ich den Kopf und sehe in das Gesicht eines Fremden. Eines . wirklich schönen Fremden. Jung, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, aber bestimmt nicht mehr als zwei oder drei. Dunkler Dreitagebart, hohe Wangenknochen, volle Brauen und Lippen, und helle Augen, die sich keine Sekunde lang abwenden und jede Regung in meinem Gesicht aufzufangen versuchen. Eine gefühlte Ewigkeit steht er bloß einige Schritte vor den Treppenstufen und mustert überrascht meine verheulte Gestalt. Vor Verlegenheit wische ich mir grob über die nassen Wangen.
Alles cool, Bro, lauf einfach weiter, ich fühle mich gerade wohl in meinem Selbstmitleid, kein Grund zur Sorge, will ich sagen, als er sich räuspert.
»Ich glaube, ich bin hier, um dich zu retten«, sagt er in perfektem Englisch. Seine Stimme ist warm und tief, und mein Hirn assoziiert diese Eigenschaften direkt mit einem Gefühl von Vertrautheit, weil mein Selbsterhaltungstrieb offensichtlich nicht länger Teil von mir ist.
»Von all den Dingen, die du hättest sagen können, ist deine Wahl ausgerechnet auf diese Phrase gefallen?« Die Worte entweichen mir schneller, als ich hätte Luft holen können. Ich presse beide Handflächen auf meinen Mund und starre ihn mit aufgerissenen Augen an - und er sieht ähnlich perplex und mit geröteten Wangen zurück. Ich weiß auch so, dass ich nicht die besten Entscheidungen treffe, aber einen Fremden bei der Begrüßung zu beleidigen, das erstaunt sogar mich. Dabei sollte ich mir lieber Gedanken darum machen, dass dieser Mann...