Schweitzer Fachinformationen
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Da ist kein Boden zum Aufkommen, weil ich in Luftlöchern stecken geblieben bin
»Du würdest doch zu meiner Beerdigung kommen, oder?«, frage ich mit Blick auf die mit Abstand traurigste Beisetzung, die ich jemals gesehen habe. Also nicht, dass man das ganze Leichen-unter-die-Erde-bringen-Ding fröhlich gestalten könnte. Ausnahmen sind wahrscheinlich solche, wo ein Diktator den Löffel abgibt. Aber die hier ist derart schlecht besucht, dass sie stark an Filmszenen erinnert, in denen ein betrübtes Kind allein auf seiner aufwendig organisierten Geburtstagsparty sitzt. Natürlich gibt es keine Coolness-Skala, nach der man solche Veranstaltungen bewerten könnte, aber wenn ich sterbe und meine Beerdigung so schlecht besucht wäre, wäre das definitiv ein Grund, um Komplexe zu bekommen. Dann könnte ich das ewige Paradies bestimmt nicht genießen, weil ich vorher von dieser Demütigung heilen müsste. Und irgendwie gefällt mir die Vorstellung nicht, die Ewigkeit mit Schokoeis und Selbstliebe-Workshops zu beginnen. Andererseits könnte es ab dem Punkt nur besser werden.
»Wird's bald? Ich bezahl dich nicht fürs Rumstehen und Fragenstellen!«
Ich schrecke hoch, die Schaufel rutscht mir aus der Hand und landet im frisch bepflanzten Blumenbeet auf dem Grab, an dem wir seit über drei Stunden arbeiten. »Ups, sorry.« Ich bücke mich schnell, hebe sie wieder auf und ermahne mich, nicht die zerdrückten weißen Blüten zurechtzuzupfen, weil man das Ganze im besten Fall verschlimmbessert. Dann sehe ich mit gerunzelter Stirn zu Johan, meinem dauerhaft übel gelaunten Ausbilder. »Bezahlt mich nicht die Friedhofsverwaltung oder der Senat? Oder halt jemand, der mehr Geld hat als du?«
Doch er übergeht meine Frage gekonnt, wie so oft, weil ihm seine Machtposition manchmal ein bisschen zu Kopf steigt. Gott bewahre, dass er jemals einen Job als Fahrscheinkontrolleur annimmt. Abgelaufene Monatsmarken von Jugendlichen zu kontrollieren, übt ja auf einige Menschen einen schon fast perversen Kick aus.
»Hast du mir gerade ausnahmsweise mal zugehört?«
Ich nicke, dabei ist das die halbe Wahrheit. Er hat begonnen, mir irgendwas über die Pflege von Efeu zu erzählen, bevor ich abgelenkt wurde. Zu meiner Verteidigung - hier ist so wenig los, dass mich sogar ein herumturnendes Eichhörnchen ablenkt. Ganz davon abgesehen, dass ich die Aufmerksamkeitsspanne einer Fruchtfliege habe, arbeite ich als Gärtnerin auf einem ausgestorbenen, winzigen Gemeindefriedhof. Meine Sinne lechzen schon fast nach so was wie Stimulation. Also, in einer jugendfreien und Über-der-Gürtellinie-Weise.
Johan starrt mich eine Weile an, bevor er sich kopfschüttelnd abwendet. Traurig zuzugeben, aber er ist wahrscheinlich Schlimmeres gewohnt. Also, nicht nur, weil er seit Jahrzehnten auf einem Friedhof arbeitet. Vermutlich, weil diese arme Seele seit über dreißig Tagen mit mir arbeiten muss.
»Findest du das nicht traurig?«, frage ich und zeige auf die Beerdigung neun Gräber weiter. »Stell dir vor, du stirbst, und keiner kommt.«
»Wenn du so viel Wert auf Gesellschaft legst, solltest du dir einen anderen Job suchen«, entgegnet er stumpf, bevor er sich abwendet und die letzte Pflanze aus dem Karren nimmt.
Ich verdrehe die Augen. Ihm wären wahrscheinlich sogar die Maden, die sich irgendwann über seinen aufgedunsenen Körper hermachen, zu viel. Ist das so, wenn man völlig mit sich im Reinen ist? Man hat nicht mehr das Bedürfnis, absolut von jedem gemocht zu werden?
»Ach Quatsch, deine Gesellschaft reicht mir völlig«, necke ich ihn trotzdem.
Doch er sieht nicht einmal auf und gibt mir mit seiner Handbewegung bloß zu verstehen, dass ich endlich arbeiten soll, also vergrabe ich die Pflanze in der Blumenerde. Obwohl ich seine einzige Auszubildende bin, habe ich die dumpfe Befürchtung, nicht sein Liebling zu sein. Ich weiß, schockierend. Ich habe schließlich zwei Wochen gebraucht, um ihn dazu zu bringen, mit mir eine Unterhaltung zu führen, die nicht bloß daraus besteht, enttäuscht den Kopf zu schütteln, wenn ich etwas sage. Aber ich arbeite daran, dass wir irgendwann ein unzertrennliches Team werden. Als ich ihm gestern gebeichtet habe, dass ich mir oft vorstelle, wie wir beide in einer Sitcom als ungleiches Team Verbrechen aufklären, hat er gedroht, mich zu feuern. Das klingt jetzt wahrscheinlich nicht wirklich gut, aber dafür, dass er derart oft davon spricht, mich zu feuern, hat er seine Drohung kein einziges Mal wahr gemacht. Ich wachse ihm wahrscheinlich ans Herz, wie dieses Haustier, gegen das sich Väter immer sträuben und das sie dann aber mehr lieben als ihre eigenen Kinder. Ich bin noch dabei, fleißig Informationen über ihn zu sammeln, aber das Einzige, was ich wirklich mitbekommen habe, ist seine seltsame Obsession mit Vögeln. Ab und zu landen Tauben auf dem Rasen, und Johan tut so, als hätten wir plötzlich hohen Besuch. Nur noch eine Frage der Zeit, bis er verlangt, dass ich mich verbeuge.
»Sind wir für heute fertig mit den Gräbern? Ich hab Hunger.« Ich lasse meinen Blick durch die Reihen wandern und spüre gleichzeitig die Blumenerde nur allzu real unter meinen Fingernägeln und den Schweiß, der mir den Rücken herunterfließt. Es ist Juni, und die Klimaerwärmung ist gnadenlos. Es ist ein heißer und schwüler Tag. Zu schwül und heiß für die Großstadt, die primär aus Asphalt, Warteschlangen vor Bubble-Tea-Läden und Baustellen besteht. Komischerweise ist tolles Wetter nicht halb so geil, wenn man in der prallen Sonne arbeiten muss - oder überhaupt arbeiten. Wahrscheinlich ist es warm genug für Hitzefrei, und alle sitzen bereits schwitzend im Freibad, um sich im Urin von Kleinkindern eine Abkühlung zu verschaffen.
Der Rasen zwischen den sauber gepflegten Gräbern strahlt dennoch in einem knalligen Grün. Die Bäume entlang der langen Allee - die zu der gruseligen Kapelle, die ich niemals bei Dunkelheit betrete - sind groß gewachsen, mit dunkelgrünen Blättern.
»Grabpflege ist für heute durch, aber der Mario, der die Gräber aushebt, kennst du den?«
»Du meinst den Mann, den wir hier jeden Tag sehen? Stell dir vor, Johan, ich kenne ihn.«
»Kann ich doch nicht wissen, ob du hier irgendwas mitbekommst, wenn du auf deiner TakTak-App hängst.«
»TikTok«, berichtige ich ihn und ziehe mir mein Mittagessen, einen kleinen, plastikverpackten schwarzen Lutscher, aus der Hosentasche meines grünen Overalls.
»Was gedenkst du, damit zu tun?«, fragt er und starrt fassungslos auf meine Hände.
Ich sehe mit gerunzelter Stirn zurück. »Ich bin heute besonders wild drauf und hatte vor, ihn zu essen.«
»Das kannst du vergessen.«
»Aber das ist meine Nervennahrung.«
»Dann bekomm halt 'nen Nervenzusammenbruch, ist mir schnuppe.«
Gut, vielleicht wachse ich ihm doch nicht ans Herz.
»Aber .«, krampfhaft suche ich nach den richtigen Worten, »bitte?«
Schwach begonnen und stark nachgelassen.
Er schüttelt den Kopf, ich verziehe das Gesicht. Ein weiterer Mann, um dessen Anerkennung ich lechze. Dieses Daddy-Issues-Ding scheint ein zeitloses Unterfangen zu sein. Wenn ich ihn jetzt weiter nerve, droht mir wahrscheinlich ein Monolog zu meiner verweichlichten Generation. Womit er jetzt nicht unrecht hätte. Ich habe mir gestern die Nägel geschnitten und fast meinen Finger verloren.
»Der Mario ist krank, und für morgen früh ist eine Beerdigung angesetzt, deshalb muss das Grab ausgehoben werden.«
Ich zucke desinteressiert mit den Schultern, bevor mich eine dunkle Ahnung beschleicht. »Wieso erzählst du mir das?«
»Als Friedhofsgärtnerin musst du doch wenigstens einmal ein Grab ausgehoben haben.« Ich reiße die Augen auf, worauf Johan die Brauen provozierend in die Höhe zieht. »Es sei denn, du bemerkst, dass der Job doch nichts für dich ist.«
Ich presse die Lippen zusammen, denn ich weiß, was er versucht. Seit er am ersten Tag einen Blick auf meine rosa Leggins, meine Sneaker mit den aufgemalten Herzen und meinen glitzernden Lipgloss geworfen hat, will er, dass ich von allein erkenne, dass diese Beschäftigung nichts für mich ist. Ich glaube nicht, dass er mich aus Böswilligkeit loswerden will, egal wie grummelig er sich jeden Tag aufführt. Wahrscheinlich hält er mich für ein gelangweiltes Mädchen, das mit seiner Anstellung hier auf Krampf tiefgründig und edgy wirken will. Ich bezweifle, dass er mir ansehen kann, wie es in mir drin aussieht.
Was auch immer es ist, er spielt auf verlorenem Posten. Also recke ich das Kinn. »Ich hebe dir auch gerne zehn Gräber aus, dafür gibt es doch diesen Traktor.«
Der Traktor ist kaputt, aber das halte ich für eine dreiste Lüge. Er will mich ganz eindeutig quälen, auch wenn ich nicht genau checke, wieso. Aber sein Verhalten erinnert mich stark an das von Mitarbeitenden von Fast-Food-Ketten, die immer behaupten, dass die Eismaschine kaputt sei, weil sie keine Lust haben, sie zu reinigen.
»Na, alles gut?« Er steht mit ineinander verschränkten Armen vor mir. Dann lässt er sich sogar dazu herab, mich anzugrinsen.
Ich bin so unendlich geschafft. Die Kurzatmigkeit konkurriert mit dem Stechen in meiner Seite. Meine körperliche Fitness ist mittlerweile zwar ein bisschen besser als lausig, aber um das zu überleben und zu Luft zu kommen, braucht man die Ausdauer eines Leistungssportlers. Ich werfe die Schaufel auf den Rasen, lasse mich in das Gras fallen und versuche, den Gedanken zu verdrängen, dass in wenigen Sekunden einige Käfer ihren Weg in...
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