Schweitzer Fachinformationen
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Der Boden der Tatsachen ist ein wirklich ungemütlicher Ort
Der verurteilende Blick des Drogenspürhundes spricht Bände. Ich senke den Kopf, starre auf meine dreckig weißen Sneaker, die in einer halbkreisförmigen Pfütze Schmutzwasser versinken, und bete dafür, dass er sich ein anderes Opfer sucht. Dürfte nicht allzu schwer sein, weil ein Berliner Flughafenhund doch wirklich ungewöhnlichere Dinge gesehen haben muss als eine Zweiundzwanzigjährige, die um sieben Uhr morgens beim Security-Check einen Schoko-Eisbecher herunterschlingt. Andererseits, für wen hält er sich? Flughäfen sind doch schließlich die vorurteilsfreisten Orte der Menschheitsgeschichte. Grauzonen, in denen alles erlaubt ist: faltenfreie Businessanzüge, ausgebleichte Jogginghosen, Koffeindosen um Mitternacht oder fettige Burger zum Frühstück - alles legitim und nicht so wirklich der Rede wert. Und dennoch . Würde die Flughalle nicht aus allen Nähten platzen und wäre ich nicht sowieso schon dabei, etwas Lebensveränderndes zu tun - aufgrund von Verurteilungen anderer -, würde ich mit Sicherheit versuchen, ihm dieses sehr skurrile Bild zu erklären. Ich würde mich zu ihm beugen und so was sagen wie: Weißt du, Kumpel, ich habe einige zweifelhafte Entscheidungen getroffen, die meine Welt ins Ungleichgewicht gebracht haben, und dachte, ein Becher Eis, den ich auf dem Weg in mein selbst gewähltes Exil vor mich hin mampfe, während ich gedankenverloren und überdramatisch aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs starre, könnte mein selbst verschuldetes Leid verringern. Und, na ja, würde ich fortfahren, irgendwie habe ich mich darauf verlassen, dass ich einen Eisbecher problemlos durch die Sicherheitskontrolle bekomme, weil man ja auch davon spricht, dass man Eis »isst«.
Tja. Überflüssig zu erwähnen, dass meine Theorie erhebliche Lücken aufweist.
»Entweda du isst dit jetzt auf oder dit landet im Müll«, wiederholt der Mitarbeiter, der nicht mal so tut, als würde er mich bemitleiden. Auf dem Namensschild, das mit einer Sicherheitsnadel an sein blaues, ungebügeltes Hemd gepinnt ist, steht Dirk.
»Würde es was bringen, wenn ich Ihnen sage, dass ich Ihre Frisur echt voll cool finde?«, lüge ich hoffnungsvoll und schenke ihm mein Guter Mensch-Lächeln, das ich speziell für Eltern meiner Freunde konzipiert habe. Nach allem, was ich die letzten Tage ertragen habe, wäre es vermutlich ein Kinderspiel, mich bettelnd auf den Boden zu bekommen. Aber es ist Winter und der Boden voll von wässrig dreckigen Fußabdrücken, also vielleicht habe ich doch noch so etwas wie Selbstachtung.
»Nee du, dit würd nich mal wat bringen, wenn du mir die Frise verpasst hättest.«
Ich überlege einige Augenblicke, einfach weiterzuschleimen. Ich könnte ihn einen Ehrenmann nennen - wie mein großer Bruder Jalal, wenn er irgendwen überzeugen will, ihm etwas umsonst zu geben -, oder ich mache ihm irgendein erlogenes Kompliment zu seinem Körperbau, wie meine beste Freundin Sanju, wenn sie einen Mann an der Tankstelle bequatscht, damit sie sich beim Ölwechsel nicht die Hände schmutzig machen muss. Oder ich greife zum altbewährten Trick alter weißer Männer, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen - klassische Bestechung. Aber bei seinem Blick verwerfe ich Option A, B und C. Er macht mit seiner ganzen Person deutlich, dass es ihn nicht juckt, was ich zu sagen habe, und durch rote Centmünzen hat sich wahrscheinlich noch niemand erbarmt, irgendwelche Regeln zu lockern. Ich presse die Lippen zusammen, greife nach dem weißen Plastiklöffel, der neben dem Eisbecher in der roten Tüte liegt, und reiße die Packung theatralisch auf. Nur weil Dirk sich spontan als Verräter entpuppt hat, ändert es nichts daran, dass ich zu geizig bin, diesen überteuerten Eisbecher, der gottlose sieben Euro gekostet hat, wegzuschmeißen. Jalal, der wie fast jeder in Neukölln alles in Dönerpreise umrechnet, würde sagen, dass das zwei Döner sind - also vor der Inflation. Jetzt ist es wahrscheinlich nur noch ein halber. Die fett blinkende rote Digitaluhr über Dirks Kopf verkündet, dass mir vielleicht noch zwanzig Minuten bis zum Boarding bleiben, also schaufele ich das süße Zeug in mich hinein. Die Kälte frisst sich durch meine Zähne und in den Schädel. Menschen, die Eis irgendwann als Genussmittel deklariert haben, würden jetzt mit Sicherheit missbilligend den Kopf schütteln - ähnlich wie der Hund -, doch darauf kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich muss mich dreimal stoppen, nicht Hirnfrost zu brüllen und meine Fingerspitzen auf meine Schläfen zu pressen, aber ich halte mich in letzter Sekunde zurück. Dieser Becher wird mit Sicherheit nicht die Sache sein, an der ich heute - dem Tag, an dem ich mutig genug für diesen längst überfälligen Schritt bin - scheitere. Mein neues, mutigeres Ich ist eine krassere Version von mir, die niemals aufgibt und keine Gefangenen macht. Möglicherweise bereut sie das Ganze in einigen Stunden wegen ihrer winzigen Laktoseintoleranz, aber sonst ist sie knallhart und gönnt Dirk diesen Sieg nicht.
Mit dem schadenfrohsten Lächeln, das meine müden Wangen zustande bringen, werfe ich einige Minuten später den durchgeweichten, aber leeren Becher in den Abfalleimer vor ihm, der beinahe überquillt von halb vollen Wasser- und Deoflaschen. Doch meine Mundwinkel fallen herab, als ich sehe, dass er viel zu sehr damit beschäftigt ist, seinen bunten Irokesen in der spiegelnden Oberfläche des Scanners zu betrachten, statt mich für mein Durchhaltevermögen zu loben. Oder mich für die Zeitverschwendung zu verfluchen. Ich bin trotzdem irgendwie angepisst, dass sich das Ganze ohne seine Bestätigung weniger wie ein Sieg anfühlt. Sanju würde jetzt wahrscheinlich genervt die Augen verdrehen und so was sagen wie: So viel dazu, deine Erfolgserlebnisse nicht mehr von anderen abhängig zu machen. Aber na ja, so was lässt sich leicht sagen als erfolgreicher reicher Mensch mit Anfang zwanzig. Ihr Leben ist es schließlich auch nicht, das sich in den letzten Tagen von durchschnittlich in absolut beschissen verwandelt hat. Ich wende mich ab, weil ich die vorwurfsvollen Blicke der wartenden Personen hinter mir, die meine peinliche Trotznummer miterlebt haben, im Rücken spüre.
»Hat et sich denn jelohnt?«
Dirk zeigt auf den übergroßen braunen Fleck auf meinem weißen, langärmligen Jerseyshirt.
Fantastisch. Absolut großartig.
Doch statt eines Fluches schenke ich ihm ein so breites Grinsen.
»Absolut. Beste Entscheidung meines Lebens«, sage ich komplett unironisch, was er mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert. Mein vermutlich leicht grün angelaufenes Gesicht entlarvt meine offensichtliche Lüge sowieso. Chocolate Fudge Brownie hat es schon einige Male geschafft, meine Laune zu retten, wie nach Klausuren, die ich in den Sand gesetzt habe, oder während meiner dramatischen Liebeskummersessions wegen einer Kurzzeitschwärmerei circa alle zwei Wochen. Aber gerade hat es mich mein physisches Wohlbefinden - das psychische war sowieso bereits im Arsch - gekostet. Mir ist kotzübel. Aber ich werde einen Teufel tun, ihn das wissen zu lassen.
Beruhigend, dass ein bisschen deines Stolzes noch da ist.
Meine innere Stimme hat sich in der letzten Woche von einer leicht sarkastischen zu einer tief zynischen Vorzimmerdame mit schmallippigem Lächeln verwandelt.
Ich greife nach einer der grauen Plastikkisten und fülle sie mit meinen elektronischen Habseligkeiten: Handy, Powerbank, Laptop und zum Schluss die Kamera, die ich normalerweise immer um den Hals trage. Doch gerade erfasst mich bei dem Gedanken eine Übelkeit, die nichts mit dem Eis-Eklat zu tun hat.
Fachmännisch zieht Dirk die Kiste zu sich und nimmt den Laptop aus der Tasche. »Wer soll dit sein?«, fragt er mit Blick auf die Sticker, die fein säuberlich auf dem Laptop kleben. »Sieht'n bisschen aus wie Dieter Bohln zu Modern-Talking-Zeten. Kennste den? Scheri Scheri Ledi?«
Beim Sprechen lösen sich Spucktropfen und verteilen sich auf dem grauen Metall des MacBooks. Ich starre ihn an, ein bisschen angesäuert über den Speichelangriff und den peinlichen Ohrwurm, auf den ich hätte verzichten können.
»Das ist Harry Styles.«
Statt sich von meinem erbosten Tonfall beeinflussen zu lassen, zuckt er bloß mit den Schultern. Die audacity.
»Haste noch irgendwas Spitzes dabei, das als Waffe durchgehen könnte?«, fährt er stattdessen fort und wirft einen gelangweilten Blick über meine restlichen Sachen.
»Sie meinen, außer meinem Killer-Humor?«
Meine Mundwinkel heben sich praktisch von allein, was eine ziemlich milde Reaktion dafür ist, wie witzig das gerade war.
Dirk verharrt in der Bewegung und taxiert mich mit einem Wie peinlich willst du das Ganze für alle Beteiligten noch machen-Blick, bevor er sich kopfschüttelnd wieder der Arbeit auf dem Fließband widmet.
Offensichtlich scheint es ihn nicht zu interessieren, dass ich gerade dabei bin, einen der vielen Tiefpunkte meines Lebens mit Humor zu kompensieren. Zugegebenermaßen nimmt dieser mittlerweile aber auch erschreckende Dad-Jokes-Züge an, also kann ich es ihm nicht mal verübeln. Ein kleiner anerkennender Lacher hätte trotzdem gutgetan.
»Nächste.« Die monotone Stimme der kleinen blonden Mitarbeiterin auf der anderen Seite des Metallbogens reißt mich aus meinen Gedanken.
Als ich Dirk einen letzten Blick zuwerfe, steckt...
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