Schweitzer Fachinformationen
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Ich heiße Schwester.
Das ist der Name, den man mir vor drei Jahren gab. So haben mich die anderen gerufen. So will ich genannt werden. Mein früherer Name hat nie eine Rolle gespielt. Ich erinnere mich nicht mal mehr an seinen Klang. Weder reagiere ich heute darauf, noch kommt er mir selbst über die Lippen. Ich werde nichts damit unterschreiben. Er ist fort. Ihr werdet mich Schwester nennen.
Ich war die letzte Frau, die sich auf die Suche nach Carhullan gemacht hat.
Ich verließ die Stadt an einem nassen, modrigen Oktobertag. Die Blätter fielen bereits, und auf der Erde lag ihr gelbes Mus. Die letzten Gewitter- und Regenfronten zogen über den Norden hinweg. Der Sommer war auf dem Rückzug, die Luft fühlte sich endlich weniger drückend an, und nachts und morgens kehrte eine neue Kühle ein. Es war eine Erleichterung, nicht mehr schweißgebadet unter dem Leintuch in unserer Kammer der Reihenunterkunft aufzuwachen und mit milchiger Feuchte auf der Brust aus irgendeinem hitzigen Albtraum hochzuschrecken. Schon immer konnte ich im Winter besser schlafen. Als würde mein Puls dann langsamer.
Diese Frische schien auch die Stadt zu reinigen. Abends, wenn die Wolken ausdünnten und die Hitze nachließ, zerstreute sich der bakterielle Geruch der Raffinerie und der Gaskraftwerke. Seit der Zivilen Reorganisation hielt die Schwüle des Sommers jedes Jahr ein wenig länger an, sodass die kälteren Jahreszeiten auf immer weniger Kalendermonate zusammenschrumpften und wir ununterbrochen vom Smog des abbrennenden Rapses und Ölsandes umgeben waren, eng zusammengepfercht wie Fische in einer Räucherkammer.
Der Temperaturumschwung löste Erregung in mir aus, eine Wachsamkeit, die sich nicht nur damit erklären ließ, dass ich nervös war oder an die Risiken dachte, die ich bei vollem Bewusstsein einging. Er war heilsam. Die Kühle erinnerte mich an meine Kindheit. Damals war das Wetter eindeutiger, unterscheidbarer gewesen. Ein paar ältere Kollegen aus der Fabrik meinten, von allen englischen Traditionen, die wir aufgegeben hätten, sei das mit dem Wetter am traurigsten. Als hätte irgendeine Art von Wahl stattgefunden, ein Volksentscheid über diese subtropischen Zustände.
Ich erinnere mich noch gut an das frische Prickeln von Hagel auf dem Gesicht, wenn ich im März auf den Schulbus wartete. An die Herbstwinde, die kleine und große Gegenstände umherpusteten. An den unter die Haut kriechenden Januarfrost, die Hände und Füße taub unter Vlies und Wolle. Wenn man jung ist, hat man keine Angst vor dem, was möglich ist. Man kann sich nicht vorstellen, dass die Welt tatsächlich zu Schaden kommen kann, dass während der eigenen Lebenszeit irgendeine echte Katastrophe eintreten wird.
Sogar der Regen hat sich verändert; launisch und brutal, hat er nichts mehr gemein mit dem anhaltenden grauen Nieseln auf den Postkarten, in den Witzen und Fernsehberichten von damals. Es ist ein Regen, der verletzt wurde. Auf den Fells, den kuppigen Bergen im Nordwesten des Landes, liegt nur noch selten Schnee, doch die Bewohner der Stadt halten aus Gewohnheit danach Ausschau.
Mein Ziel befand sich hoch oben, weit abgelegen, und insgeheim hoffte ich, dass ich die weißen Wehen wieder sehen würde, wenn ich nur lange genug dort blieb.
Ich brach im Morgengrauen auf, damit ich Rith unbemerkt verlassen konnte. Das Gewicht meines Rucksacks hielt sich in Grenzen; ich würde ihn über weite Strecken tragen können, bis hinauf in die Berge. Ich nahm so wenig wie möglich mit - Kleidung, ein paar Konserven und etwas Zwieback, einen Kanister Wasser und ein Erste-Hilfe-Set für den Fall, dass man mir die Vorrichtung entfernte, falls das überhaupt möglich war. Außerdem ein Gewehr aus dem Zweiten Weltkrieg, das ich zwischen Pullover und Regenjacke gestopft hatte; sein kurzer Lauf drückte gegen die Rucksackklappe. Mein Schmiergeld, wenn ich Carhullan erreichte.
Am Abend zuvor hatte ich den Rucksack in einer Gasse hinter dem Gebäude versteckt. Er lag in einer Mauernische hinter der Hauptkammer des Regenwassertanks, wo es dunkel und trocken war. Ich hatte ihn dort verstaut, als die Familien in den anderen Unterkünften zu Abend aßen und mein Mann noch nicht von seiner Schicht zurück war. Vorher hatte ich den Hohlraum mit einem Stock auf Rattennester untersucht.
Am frühen Morgen stand ich aus unserem Bett auf, ohne Andrew zu wecken, und zog mich leise im Gemeinschaftsbad an. Ich holte einen Plastikbeutel aus der Hosentasche. Die unbenutzte Packung Seife auf dem Regal gehörte der Familie von nebenan, doch ich nahm sie mir trotzdem und ließ sie zusammen mit Zahnpasta, Deo, Rasierer und einigen Klingen in die Tüte gleiten. Ich zögerte kurz, bevor ich auch das Medizinschränkchen der Nachbarn öffnete. Darin fand ich etwas Aspirin, eine Packung Binden und ein Pulver gegen Blasenentzündung, das längst abgelaufen war. Ich packte alles ein. Dann ging ich den Flur entlang und die Treppe hinunter.
Vor der Haustür blieb ich einen Augenblick stehen, um sicherzugehen, dass Andrew mich nicht gehört hatte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. In schnellen Schüben pumpte mein Herz mir das Blut durch die Brust. Ich spürte den Puls bis in die Fingerspitzen. Es würde schon alles gut gehen, sagte ich mir. Den letzten Monat über hatte ich mir angewöhnt, früh aufzuwachen, und meine Flucht immer wieder geprobt. Jedes Mal hatte ich das Haus leise und unbemerkt verlassen, war eine Zeit lang durch die dunkle Stadt gestreift, hatte sorgfältig jene Orte gemieden, an denen wilde Hunde streunten, und war dann nach Hause zurückgekehrt. Doch dies war keine Trockenübung. Ich atmete tief ein, atmete aus und wartete. Um jeden Preis wollte ich vermeiden, dass Andrew mir folgte, mich für verrückt erklärte, mir eine Szene machte und die Leute über uns weckte. Nie im Leben hätte er mich mit gepacktem Rucksack ziehen lassen, raus aus den offiziellen Zonen, obwohl zwischen uns mittlerweile entweder Feindseligkeit oder Schweigen herrschte.
Ich war an dieses Gebäude gebunden. Er wusste das, und ich wusste es auch. Für uns gab es keine Alternative. Falls er mich entdeckte, würde er mich nach oben zerren oder mit Gewalt auf der Straße festhalten, bis ein Aufseher der Obrigkeit käme. Vielleicht würde er irgendeine Ausrede für mein Verhalten erfinden, etwa dass ich auf Drogen sei oder schlecht geträumt hätte. Er würde mir einschärfen, die Füße still zu halten. Auch wenn es momentan nicht danach aussehe, werde sich die Lage bald entspannen, und dann könnten wir gefahrlos getrennte Wege gehen.
An die Hauswand gelehnt blieb ich stehen und horchte ein letztes Mal. Doch das einzige Geräusch, wie von Wespen, war das Surren des Stromzählers im Ruhemodus. Ich blickte nach oben. Der Himmel hatte die dunkle Farbe von Pech, ähnlich wie der Ölschiefer, der in der Raffinerie, wo Andrew arbeitete, in den Kesseln rotierte. Da war auch ein weißer Streifen Mond, ein zerfurchtes und trübes Geschwür am Wolkenrand. In Rith brannte kein einziges Licht, und das würde noch bis sechs Uhr so bleiben; dann wurde den Bewohnern das morgendliche Stromkontingent zugeteilt, und sie konnten Wasser und Essen warm machen oder auch die Frühnachrichten schauen, in denen die Losnummern verkündet und vielleicht Meldungen von einer der Fronten gebracht wurden. Doch um die Zeit wäre ich längst fort.
Nachdem ich ein paar Minuten abgewartet hatte, holte ich meinen Rucksack. Jetzt galt es, schnell zu handeln und nicht zu viel nachzudenken. Auch wenn die Stadt um diese Zeit normalerweise wie ausgestorben war, bestand die Möglichkeit, einer Streife der Obrigkeit über den Weg zu laufen. Beim Gedanken daran wurde mir schlecht. Niemals würde es mir gelingen, eine plausible Erklärung für mein Verhalten zu liefern. Auf keinen Fall wollte ich ins Grübeln verfallen und einen Rückzieher machen. Doch mittlerweile war ich mir sicher, dass das nicht passieren würde. Nicht nach den vergangenen Wochen.
Ich ließ die Gemeinschaftsunterkünfte hinter mir und lief durch die Stadt, vorbei an dem alten Einkaufszentrum mit den verbarrikadierten Fenstern, vorbei am Turbinenlager, wo die gestapelten Metallkörper auf ihren Einsatz warteten, und das nun schon seit Jahren. Die Straßen waren verlassen, alles war still. Nur die glasierten Ziegel des alten roten Mauerwerks, die Schieferplatten und der Asphalt warfen überhaupt irgendein Licht zurück und ließen die Siedlung gespenstisch und aus der Zeit gefallen wirken.
Es war schwer, sich die vielen Menschen vorzustellen, die hinter den Backsteinmauern zu zweit oder dritt in einem Zimmer schliefen oder wach lagen und sich unterhielten, leise, um die anderen Familien nicht zu stören. Manche weinten vielleicht, wurden getröstet oder ignoriert. Andere wälzten sich von einem lädierten Körper herunter, während die Wirkung des billigen Aufputschmittels nachließ, und scherten sich nicht darum, ob man sie durch die Wand hörte. Jedes Mal wenn ich mich versuchsweise auf den Weg gemacht hatte, war mir dieses Morgengrauen seltsam leer vorgekommen, als wären die Menschen in Wahrheit ausgedünnt und nicht zusammengepfercht worden.
Am Ende jeder Häuserreihe zeichnete sich die Silhouette eines Zählers ab, kleine summende Zysten, ursprünglich dafür gedacht, die Energieproduktion der Fotovoltaikanlagen zu messen. Nun wurden sie dazu benutzt, die Verteilung des Stroms über das alte örtliche Netzwerk zu regeln. Die Reorganisation hatte nur wenige Verbesserungen mit sich gebracht. Der Zehnjahresplan für den Wiederaufbau erwies sich immer mehr als hoffnungsloser Mythos. Ich zwang mich dazu, mich nicht umzusehen, ob mir nicht doch jemand folgte oder einfach nur dastand und zusah, wie ich ging. Ich redete mir ein, dass ich am ehesten weitergehen würde, wenn...
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