KAPITEL 1
Die Märzsonne meinte es an diesem Tag besonders gut mit der Goldenen Stadt. Sanft vertrieb sie die letzten Schneereste von den Dächern und ließ sie als Wassertropfen wie funkelnde Sterntaler zu Boden fallen. Wer keinen nassen Kragen bekommen wollte, war gut beraten, sich von den Hauswänden fernzuhalten, was im Gedränge Prags kein einfaches Unterfangen war, vor allem, da man gleichzeitig den großen Pfützen ausweichen musste, die sich auf dem noch halb gefrorenen Boden gebildet hatten.
Königin Sophie, Gattin des vierten Wenzel, blickte aus dem Fenster ihres Stadtpalastes ins Freie, wo sich die Bewohner wie bunte Perlen auf den mit hellen Kieseln ausgelegten Wegen tummelten. Nach einem nasskalten Winter genossen auch ihre Untertanen den Duft des sich ankündigenden Frühlings. Der Königin entgingen die leisen Seufzer ihrer jungen Hofdamen nicht, die nichts lieber getan hätten, als ihr Stickzeug beiseitezulegen und hinaus in den Garten zu stürmen. Niemals jedoch hätte es eine von ihnen gewagt, diesen Wunsch laut auszusprechen. Königin Sophie führte ihren Hof mit strenger Hand, so wie sie es vom Haus Wittelsbach, dem sie entstammte, gewohnt war. Sie duldete keinen Müßiggang und brachte nur wenig Verständnis für jugendliche Albernheiten auf. Man lebte in unruhigen Zeiten. Nicht einmal sie als Königin wusste, ob ihr Titel und Stand im nächsten Jahr noch sicher waren.
Ihr Gatte Wenzel hatte sich bislang als in jeder Hinsicht unfähiger und schwacher Monarch gezeigt. Dazu kam sein launisches, unberechenbares Wesen. Des Königs Misstrauen und sein Jähzorn machten vor niemandem Halt. Sophie erinnerte sich mit Schrecken daran, wie er bei einer Jagdgesellschaft seine geifernden Hunde auf den alten Vogt von Weida gehetzt hatte, einen treuen Vasallen, nur weil er es gewagt hatte, unaufgefordert einem Eber den Fangschuss zu geben, den des Königs Speer lediglich verletzt hatte.
Dabei war der Vogt von Weida ein wichtiger Verbündeter, der über die Gefolgschaft zahlreicher niederadeliger Familien in der Grenzgegend wie zum Beispiel der von Dobenecks und der von Zedtwitz' verfügte. Zwar war es der Königin gelungen, den Zorn des Vogts zu besänftigen, dennoch war ein stolzer Mann gekränkt worden. Mit Wenzels Entscheidung, den Vogt auch noch unter das Joch des Hauses Wettin zu zwingen, war weiteres Öl ins Feuer gegossen worden. Seither fürchtete Sophie, der Weida könnte sich Sigismund, dem Halbbruder und Erzrivalen des Königs, anschließen, dem es schon einmal beinahe geglückt war, ihren Gatten Wenzel vom Thron zu stoßen.
Der König hatte eine Menge Zugeständnisse machen müssen, um seine böhmischen Lehnsleute hinter sich zu bringen, damit ihm die böhmische Krone blieb. Doch die Böhmen nutzten des Königs Schwäche gnadenlos aus - ohne ihm eine ehrliche Gefolgsmannschaft zu sein. Privileg um Privileg rangen sie ihm ab. Wohin das führte, sah man an den Folgen des Kuttenberger Dekrets für die Prager Universität. Seit die Böhmen dort das Sagen hatten, vergraulten sie die deutschstämmigen Gelehrten. Einer nach dem anderen packte sein Bündel und zog nach Leipzig. Dann war auch noch Jan Hus Rektor geworden und hatte ungehindert seine ketzerischen Ideen verbreitet. Jetzt war der Hus tot, verbrannt im Konstanzer Feuer, doch Sophie kam es so vor, als wäre sein geistiges Erbe damit nur noch gefährlicher geworden.
Solch dunkle Gedanken trieben die Königin um, während sie aus dem Fenster schaute. Nun aber schüttelte sie kaum merklich den Kopf, trat einen Schritt zurück und wandte sich wieder ihren Damen zu. Die Mädchen beugten sich schweigend über ihre Handarbeiten. Klein war ihr Hofstaat geworden, nur noch fünf Mädchen zur Erziehung und ein enger Kreis von Vertrauten. Die Königin schritt die Reihe ihrer Hofdamen ab, begutachtete die Stickereien und sparte nicht mit Lob, wenn ihr eine Arbeit gelungen schien, aber auch nicht mit Kritik, wenn sich eines der Mädchen nicht genug anstrengte. Sophie hatte sich stets bemüht, jedermann mit gleicher Elle zu messen - egal ob böhmischer oder deutscher Herkunft. In letzter Zeit jedoch schien das selbst an ihrem Hof nicht mehr möglich zu sein. Der stete Konflikt zwischen böhmischen und deutschstämmigen Vasallen schwärte auch unter ihren Damen. Die Töchter der böhmischen Adelsherren empörten sich ständig über angebliche Ungerechtigkeiten und eine Bevorzugung der deutschen Mädchen durch die Königin. Waren die jungen Damen erst einmal in Rage, ließen sie sich kaum mehr besänftigen, beklagten sich bei ihren Vätern, die dann wiederum vor dem König Beschwerde führten. Gleichzeitig jedoch piesackten sie die deutschen Mädchen, wo sie nur konnten.
Königin Sophie hatte anfangs versucht, die Mädchen zur Ordnung zu rufen, aber das schien die Sache nur zu verschlimmern. Zudem war es die Königin leid, sich immer wieder von ihrem Gatten anhören zu müssen, sie solle gefälligst ihren Hof anständig führen und ihm nicht seine treuesten Vasallen verärgern. Diese würden der Königin ihre Töchter in der Hoffnung anvertrauen, dass sie bei Hof mit Achtung behandelt und eine standesgemäße Erziehung durchlaufen würden. So kam es, dass die Königin die Launen der böhmischen Sprösslinge ignorierte, soweit es ging. Trotzdem taten ihr Margarethe von Waldeck und Margot von Bischishausen oft leid, die derzeit einzigen deutschen Mädchen in ihrem Gefolge.
Die Königin schätzte die beiden: Margot war ein hübsches Kind aus bester württembergischer Familie, das mit großer Neugierde und Begeisterung bei der Sache war. Als Tochter des Truchsessen von Stuttgart würde sie später einmal eine glänzende Partie abgeben. Margarethe dagegen kam aus einfacheren Verhältnissen, war anstellig und bescheiden. Mit ihren nun sechzehn Lenzen kam sie ins heiratsfähige Alter. Die Königin nickte kurz, als sie Margarethes geübte, gleichmäßige Stiche auf dem Leintuch begutachtete. Das Herz wurde ihr fast ein wenig schwer, wenn sie daran dachte, wie wenig Interesse Margarethes Vater für seine Tochter aufbrachte. Kaum dass er sich nach ihrem Wohlergehen erkundigte oder gar Interesse am Fortgang ihrer Erziehung zeigte. Oft fragte sich die Monarchin, was wohl aus dem Mädchen werden würde. Vermutlich würde der alte Waldecker sie mit irgendeinem vierschrötigen Waffenbruder verkuppeln. Eine Schande wäre das. Liebend gerne hätte Sophie Margarethe bei sich behalten, doch angesichts ihrer eigenen unsicheren Zukunft war das ein schlechter Plan. Nein, für Margarethe musste es eine andere Lösung geben, eine, die ihren Vater zufriedenstellte und dem Mädchen zugleich eine Zukunft bot. Es war Zeit, sich endlich darum zu kümmern.
Sophie atmete tief durch, klatschte in die Hände und rief: »Lasst mich allein, meine Damen. Hinaus in den Garten mit euch!«
Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen. Wie aufgescheuchtes Federvieh flatterten sie aus dem mit prunkvollen Wandteppichen verzierten Saal. Dabei hatten sie es so eilig, dass die Hofknickse ein wenig ungelenk ausfielen und die Diener kaum rechtzeitig die hohe zweiflügelige Tür mit dem kunstvoll geschnitzten Wappen des Hauses Wittelsbach aufreißen konnten.
Erleichtert atmete Sophie auf. Zumindest diese Stunde war ohne Gezänk vergangen. Sie klingelte nach ihrem Schreiber.
Kurze Zeit später schwärmten die Mädchen durch das mächtige Eichenportal des Schlosses hinaus in den Garten. Sie hatten ihre höfische, mit modischen ornamentalen Mustern verzierte Kleidung gegen leichtere Gewänder aus hellem Leinen getauscht, die keine lästigen Schleppen besaßen. Ihre hellen Stimmen erfüllten den noch winterkahlen Schlossgarten mit überbordender Lebendigkeit, fast so, als würde er endlich wie aus einem langen Schlaf erwachen. Als Gruppe hatten sie das schmiedeeiserne Tor durchschritten, dessen goldene Spitzen in der hoch stehenden Sonne blinkten. Zuerst gingen die Mädchen artig hintereinander her, doch sobald es möglich war, strebten sie auseinander.
Drei Mädchen eilten vorneweg. Sie suchten nach den Bänken, die im Sommer in ausreichender Zahl im Garten gestanden hatten. Doch die hölzernen Sitzgelegenheiten stapelten sich noch in der Werkstatt der Zimmerleute und warteten darauf, gehobelt und mit Bienenwachs versiegelt zu werden. Lediglich zwei schmiedeeiserne Gartenbänke mit gewundenen Füßen hatten den Winter draußen verbracht und boten sich nun den Mädchen zum Verweilen. Die eine stand unter einer Trauerweide und glänzte von den Tropfen, die aus den Zweigen fielen. Die zweite Bank befand sich rechts neben den Rosenbeeten. Auch sie war ein wenig feucht, bot jedoch die einzig annehmbare Sitzgelegenheit weit und breit. Fast hastig strebten die drei Hofdamen an der Spitze darauf zu, breiteten eine Decke aus und nahmen die Bank in einer Weise in Beschlag, dass den beiden anderen nichts anderes übrig blieb, als weiterzugehen. Die Ältere, hoch aufgeschossen und mit kupferroter Lockenpracht, ignorierte das Verhalten der drei Mädchen. Der Jüngeren, die einen Kopf kleiner und kaum dem Kindesalter entwachsen war, schien der Sinn ohnehin nicht nach einer Ruhepause zu stehen. Sie stürmte mit wehendem Haar weiter in den Garten hinein.
Die drei Mädchen auf der Bank schüttelten ungnädig die Köpfe, giggelten und riefen der Rothaarigen hinterher: »He, Margarethe, pass bloß auf! Gleich fällt dein Schützling auf die Nase! Was für ein Benehmen! Der Königin würde es gewiss missfallen.«
Margarethe von Waldeck tat so, als habe sie die Bemerkung nicht gehört, und ließ sich auf einem Stein am Gartenteich nieder. Wie sie diese Sticheleien hasste, vor allem wenn sie sich gegen Margot richteten, die zu jung war, um sich wehren zu können. Am liebsten hätte die Rothaarige den dreien gesagt, was davon zu halten war, das Mütchen an Schwächeren zu...