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Lukas Hammerstein hatte einen Platz direkt an der Tür zugewiesen bekommen. Die Tische in der Klasse 10 b waren wie ein U angeordnet, links neben ihm saß Saskia, die wie die meisten Mädchen im Raum ein bauchfreies Oberteil trug und diese weiten Hosen, deren englische Bezeichnung Lukas gerade nicht einfallen wollte. Rechts vor ihm lümmelte sich Johannes, den alle nur Jo nannten und dem die lockigen Haare so ins Gesicht fielen, dass Lukas sich fragte, ob er überhaupt etwas auf der Tafel erkennen konnte. Wobei Tafel das falsche Wort war für das, was da vorn an der Wand hing und Lukas an ein überdimensioniertes iPad erinnerte. Genauso ließ es sich auch bedienen, der Mathelehrer fuhrwerkte einfach mit seiner Hand auf der weißen Fläche herum. Lukas musste unwillkürlich an das Quietschen der Kreide auf der grünen Tafel denken, das seinen Klassenkameraden und ihm früher so in den Ohren wehgetan hatte.
Wo er jetzt saß, hatte er zuletzt vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert gesessen, und er hatte es nicht vermisst. Der junge Lukas Hammerstein war nicht gern zur Schule gegangen, er war dort eher ein Außenseiter gewesen. Um als cool durchzugehen, waren seine Noten einen Tick zu gut gewesen und er selbst zu brav. Lukas hatte weder heimlich auf dem Schulklo noch überhaupt geraucht, sein erstes Bier hatte er erst nach dem Abitur getrunken. Wenn ihn heute jemand fragte, welche Phase in seinem Leben ihm am wenigsten Spaß gemacht hatte, antwortete er, ohne lange zu überlegen: die Schulzeit.
Und trotzdem war er nun hier. Auf die Idee, als Mittvierziger noch einmal in die Schule zu gehen - wenn auch nicht auf die eigene -, war er bei einem Workshop der Hamburg News gekommen. Ein paar der besten Reporter der Zeitung hatten sich auf Geheiß des alten Keil weggeschlossen, um sich fernab des Tagesgeschäfts »wirklich einmalige und einzigartige Projekte« auszudenken. So lautete der Auftrag des Chefredakteurs, und die Kollegen hatten ihn beim Wort genommen: Die meisten Vorschläge für Reportagen oder Serien, die sie vorlegten, bewegten sich zwischen waghalsig und unmöglich; Lukas' Idee gehörte in die zweite Kategorie. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell eine Schule finden würde, die wirklich einen Journalisten wie ihn einen Monat lang am Unterricht teilnehmen lassen würde, Klausuren und Noten inklusive. Und wenn er ehrlich war, hatte ihm der Zufall mächtig geholfen.
Kurz nach dem Workshop war in den Hamburg News ein Interview mit dem Präsidenten der Universität erschienen, in dem der, ein Professor der Erziehungswissenschaften, Eltern davor warnte, ihre Kinder an die renommierten Schulen der Stadt zu schicken. Wörtlich hatte der Uni-Chef gesagt: »Viele Eltern träumen davon, dass ihr Sohn oder ihre Tochter zum Beispiel aufs Elyseum geht, weil diese Institution so einen großen Namen und einen noch größeren Ruf hat. Sie vergessen dabei, dass es dort viel schwerer ist, eine gute Note im Abitur zu erhalten als andernorts. Wir an der Uni schauen aber auf die Note, nicht auf das vermeintliche Prestige einer Schule, von der ein Bewerber stammt. Deshalb kann ich nur sagen: Wirklich schlau ist, wer sein Kind auf eine ganz normale Schule schickt, weil es dort viel leichter ein gutes Abitur machen wird.«
Lukas hätte das Interview kaum wahrgenommen, wenn es nicht eine Flut von Leserbriefen empörter Eltern nach sich gezogen hätte, die alle beim alten Keil landeten. Wie man denn derart herablassend über das Elyseum berichten könne, hieß es darin, und ob der Herr Uni-Präsident wisse, worüber er spreche, und dass eine Stadt wie Hamburg stolz sein müsse, so ein Gymnasium zu haben. Andere bemängelten, das Abitur ihrer Kinder werde durch die Aussagen über andere Schulen entwertet. Am Ende hatte der Chefredakteur sich zu einer Reaktion genötigt gesehen und Lukas gebeten, ein klärendes Interview mit der Direktorin des Elyseums zu führen, das »in etwa so lang sein muss wie das mit dem Herrn von der Uni«.
So war der Kontakt zu Renate Störmer zustande gekommen. Lukas hatte sie in ihrem Büro getroffen, das ihn wie der Rest der Schule an eine Mischung aus Museum und Schloss erinnerte. Die Störmer, erste weibliche Direktorin in der langen Geschichte des Elyseums, eine zierliche Frau mit raspelkurzen Haaren und einer großen Brille mit rechteckigen Gläsern, hatte erzählt, welche Wirkung allein der imposante Säulengang auf die Schülerinnen und Schüler habe, wenn sie das Gebäude betraten: »Sie spüren die Verantwortung, sie spüren die Tradition - und sie werden ehrfürchtig, was ihre eigene Bildung angeht.« Lukas hatte an diese Worte denken müssen, als er an seinem ersten Schultag als Reporter durchs Elyseum schritt. Selbst auf ihn machte die Anlage Eindruck, das war etwas anderes als der quadratisch-praktische Schachtelbau im Süden Hamburgs, in dem er einst sein Abitur gemacht hatte.
Renate Störmer und er hatten sich gut verstanden, das Interview mit ihr war eine wirkungsvolle Replik auf die Bemerkungen des Uni-Präsidenten gewesen - und die Direktorin nach der Veröffentlichung bereit, sich den ungewöhnlichen Wunsch des Reporters anzuhören.
»Sie wollen noch einmal zur Schule gehen, zu uns aufs Elyseum?«, hatte sie gefragt.
»Ja, wenn das möglich ist«, hatte Lukas erwidert und eigentlich nicht mit einer positiven Antwort gerechnet. Aber genau die kam dann: »Warum«, sagte Renate Störmer und klang dabei ziemlich freundlich, »warum eigentlich nicht?«
Und so war der Reporter noch einmal vier Wochen lang zum Zehntklässler geworden. Die Störmer höchstpersönlich hatte für ihn die 10 b ausgesucht, was vielleicht auch daran lag, dass sie dort selbst unterrichtete: Latein, ein Fach, das Lukas immerhin bis zum Abitur gehabt hatte. Was allerdings nichts daran änderte, dass er in der Klassenarbeit, die Renate Störmer schreiben ließ, nur deshalb eine knappe Vier minus bekam, weil es die Direktorin gut mit ihm meinte.
»Mit Journalisten darf man es sich schließlich nicht verderben«, hatte sie gemurmelt, als sie ihm die korrigierte Arbeit zurückgegeben hatte. Saskia hatte eine Zwei minus, Jo eine glatte Drei.
Die Mitschüler - es waren dreizehn Mädchen und neun Jungen - hatten ganz anders auf das »seltsame Experiment« reagiert, wie Lilli Hammerstein die Wiedereinschulung ihres Mannes nannte, als Lukas zuvor angenommen hatte. Am ersten Tag war seine Anwesenheit noch etwas Besonderes gewesen und Lukas begehrtes Subjekt kleiner Filmchen, die anschließend ihren Weg auf Kanäle wie TikTok fanden. Handys waren in der zehnten Klasse des Elyseums erlaubt, solange man sie nicht im Unterricht benutzte; aber es verging keine Stunde, in der Lukas nicht irgendjemanden sah, der unter dem Tisch eine Nachricht las oder schrieb. Fabian, neben dem er im Musikunterricht saß, hatte ihm einmal gezeigt, wie viele WhatsApp er an einem einzigen Tag an seine Freundin geschickt hatte, die in die 10 a ging: Es waren hundertdreiundfünfzig.
»Telefoniert ihr auch noch miteinander?«, hatte Lukas gefragt, und Fabian hatte ihn angesehen, als hätte Lukas um seine Faxnummer gebeten.
Die Welt von Lukas' Mitschülern zerfiel in viele kleine Schnipsel, in Nachrichten und Kurzvideos; sie hätten gar keine Zeit gehabt, sich länger um den Neuen zu kümmern. Außerdem gehörten sie zu einer Generation, die dank Internet alles schon gesehen und gehört hatte - was war da schon ein mittelalter Mann von der Zeitung, der am Unterricht teilnahm? Ab Tag zwei lief Lukas mehr oder weniger nebenher, was ihm ganz recht war. So konnte er sich auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren, auf die große Reportage, die er über das Abenteuer schreiben würde, das die vier Wochen am Elyseum für ihn darstellten. Nicht nur, weil seine eigene Schulzeit schon so weit zurücklag, was er in nahezu allen Fächern spürte, in denen Arbeiten geschrieben wurden; vor allem war das Elyseum weder mit seinem alten Gymnasium vergleichbar noch mit dem Bild von deutschen Schulen, das Lukas sich in seiner Vorbereitung zusammenrecherchiert hatte: Die Toiletten hier waren sauberer als die in der Redaktion der Hamburg News; sämtliche Schüler waren mit Laptops und oft auch Tablets ausgestattet, WLAN gab es in den alten Gebäuden überall. Die Lehrer waren erstaunlich jung, fand Lukas und fragte sich, ob sie hier vielleicht besser bezahlt wurden als anderswo.
Am meisten überraschte ihn aber das große Engagement der Eltern. Der Reporter hatte an einem Elternabend teilnehmen dürfen, nachdem er versprochen hatte, diesen Teil in seiner Reportage auszuklammern. Was Lukas notgedrungen tat, hinterher aber schwer bereute - denn der Elternabend war nicht so abgelaufen wie die Schulelternabende, von denen Freunde von Lukas und Lilli manchmal berichteten. Während an normalen Schulen bei der Wahl der Elternvertreter quälend lange Minuten vergehen konnten, bis sich endlich jemand aufstellen ließ, hatten sich in der 10 b gleich sechs Mütter und drei Väter gemeldet. Es gab eine Stichwahl, geheim noch dazu, und Renate Störmer grinste, als sie im Gesicht des Reporters das Erstaunen darüber sah.
Sie hatte sich mit in den Elternabend gesetzt, was grundsätzlich möglich, aber normalerweise nicht üblich war. Lukas ahnte, dass die Direktorin seinetwegen gekommen war.
Renate Störmer behielt ihn die gesamten vier Wochen im Blick, und sie hatte klare Vorgaben gemacht, was alles nicht in der Reportage stehen durfte. Die Namen der Schüler zum Beispiel und die der Lehrer, Äußerungen, anhand derer sich bestimmte Personen identifizieren ließen, und so weiter. Am Ende wurden die Texte...
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