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Es war ein furchtbarer Tag gewesen, der schlimmste, seit Lukas Hammerstein bei den Hamburg News arbeitete. Er war froh, als er die Redaktion um achtzehn Uhr verlassen musste, um rechtzeitig zum Konzert von Udo Lindenberg auf Kampnagel zu kommen. Lukas hatte sich ohnehin sehr über die Einladung zur Aufnahme des zweiten Unplugged-Albums gefreut, er liebte Udos Musik. Aber nach all dem, was heute passiert war, brauchte er den Sänger noch aus einem anderen Grund: Udo war für Lukas eine Art Antidepressivum, seine bloße Gegenwart hatte ihm schon aus manch dunkler Stunde geholfen. Genau erklären konnte er die Wirkung nicht, die seine Musik und vor allem der Mensch auf ihn hatten, aber wenig verscheuchte seine schlechte Laune oder Ängste aller Art so zuverlässig wie eine Begegnung mit Udo. Darauf baute Lukas auch heute, was blieb ihm anderes übrig?
Vor sechs Wochen war der alte Keil als Chefredakteur der Hamburg News abgelöst worden. Man hätte damit rechnen können - schon vor seinem gerade gefeierten dreiundsechzigsten Geburtstag hatte es innerhalb der Redaktion immer mal Gerüchte gegeben, dass er sich bald zurückziehen könnte und wer dann wohl sein Nachfolger werde. In solchen Gesprächen war auch Lukas' Name gefallen, schließlich hatte er mit seinen Geschichten über die Journalistenmorde und die Vorfälle bei Fridays for Future nicht nur geholfen, schwerste Verbrechen aufzuklären, sondern auch Preise eingeheimst. Lukas wusste nicht, ob er Lust dazu hätte, Chefredakteur zu sein - das schien ihm doch mehr ein Repräsentations- und Verwaltungsjob, und beides lag ihm im Grunde nicht. Er war Journalist geworden, um zu recherchieren und sich wie ein Ermittler in komplizierte Fälle zu stürzen und die Hintergründe öffentlich zu machen. Dass ihm das schon zweimal so gelungen war, dass seine Arbeit von der eines Detektivs oder Kommissars kaum zu unterscheiden war, machte ihn stolz.
Trotzdem freute er sich insgeheim, dass andere in der Redaktion ihm offenbar zutrauten, Keils Nachfolge anzutreten. Und hätte er geahnt, dass der geschätzte Chefredakteur wirklich so kurz vor dem Abschied stand, und vor allem, wer seinen Platz einnehmen sollte, dann hätte Lukas sicher versucht, sich für den Posten ins Spiel zu bringen. Jetzt war es zu spät.
An jenem schicksalhaften Tag sechs Wochen zuvor hatten alle in der Redaktion am frühen Morgen eine Mail erhalten, in der sie gebeten wurden, unbedingt in die große Konferenz um zehn Uhr zu kommen: »Es geht um eine wichtige Personalie.« Was die Geschäftsführung der Hamburg News nicht hätte dazuschreiben müssen - wenn zwischen Einladung und Konferenz gerade einmal zwei Stunden lagen, war klar, dass es brisant würde. Lukas und seine Kollegen hatten in der Kürze der Zeit herauszufinden versucht, worum es ging, und wussten am Ende, dass ein Wechsel in der Chefredaktion bekannt gegeben werden sollte. Doch wer für den alten Keil kommen würde, blieb bis zur Konferenz ein Geheimnis, bei der sich fast hundertdreißig Menschen in einem Raum drängten, der maximal für hundert ausgelegt war.
Die vorhandenen Stühle waren um zehn vor zehn besetzt gewesen, viele Redakteure hatten in den Gängen stehen müssen. Der Geschäftsführer und der Chefredakteur hatten Mühe, sich ihren Weg zum Podium zu bahnen. Dann war alles schnell gegangen: Der Geschäftsführer hatte dem alten Keil für dessen »herausragende« Arbeit gedankt und von einer »Ära« gesprochen, die zu Ende gehe. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten alle gewusst, dass ihr Chefredakteur gleich nicht mehr ihr Chefredakteur sein würde, und Lukas hatte in einigen Augen Tränen gesehen. »Sie wissen, dass ich kein Mann der großen Worte bin«, hatte der alte Keil gesagt, »und ich weiß, dass gute Journalisten in solch einer Situation nicht sonderlich interessiert, wer geht, sondern eigentlich nur, wer kommt. Und Sie alle sind sehr gute Journalisten.« Er hatte den letzten Satz einfach so im Raum stehen lassen, eine Verbeugung angedeutet und das Mikrophon an den Geschäftsführer zurückgegeben. Bevor der damit beginnen konnte, den neuen Chefredakteur vorzustellen, der in einem Nebenraum wartete, standen die ersten Redakteure auf und klatschten. Es dauerte keine zehn Sekunden, und niemand von denen, die einen Platz gefunden hatten, saß noch. Der Applaus erinnerte Lukas an die Glanzzeiten des Hamburger SV, als im Volksparkstadion noch Siege im Europapokal gefeiert worden waren. Es hätte nur noch gefehlt, dass die Redaktion im Chor »alter Keil, alter Keil« gerufen hätte. Lukas und seine Kollegen klatschten sich die Hände wund, und sie hörten auch nicht auf, als der Geschäftsführer nach gefühlt zehn Minuten versuchte, für Ruhe zu sorgen und zum zweiten Teil der Veranstaltung zu kommen. Die Verkündung des neuen Chefredakteurs, der inzwischen das Podium erklommen hatte, ging im Abschied des alten unter, und man sah, dass das dem Neuen nicht gefiel.
Es hätte der Redaktion eine Warnung sein müssen.
Der siebte Chef in der Geschichte der Hamburg News war der erste, der aus dem Ausland kam. Caspar Schreiber war zwar gebürtiger Norddeutscher, geboren und aufgewachsen in Braunschweig, er hatte aber zuletzt bei einer Sonntagszeitung in der Schweiz gearbeitet. Wie man ihn nach Hamburg gelockt hatte, erzählte Schreiber ausführlich in der ersten Konferenz, die er allein leitete - und erwähnte dabei mehrfach, wie sehr sich die Geschäftsführung der Hamburg News um ihn bemüht hatte. Er redete sowieso sehr gern und viel, war nicht nur in diesem Punkt das genaue Gegenteil des alten Keil. Der Übergang vom einen zum anderen war seltsam fließend gewesen, fand Lukas. Nach der Bekanntgabe des Wechsels waren der alte und der neue Chefredakteur zusammen Mittag essen gegangen, und am nächsten Tag hatte Caspar Schreiber einfach die Geschäfte übernommen. Sechs Wochen später war bei den Hamburg News nichts mehr so, wie es einmal war.
Schreiber hatte sich diese Zeit ausbedungen, bevor er der Redaktion seine Strategie für die »nächsten Jahre und Jahrzehnte« präsentieren würde. Er hatte wirklich von Jahrzehnten gesprochen, als hätte er, der Neununddreißigjährige, vor, bis zur Rente hier Chefredakteur zu bleiben. Die Hamburg News sei eine sehr gute Zeitung, hatte er noch gesagt, aber sein Ehrgeiz sei es, sie »zur besten Zeitung Deutschlands zu machen - und wenn das nicht reicht, zur besten der Welt«. Lukas hatte nie zuvor in seinem Arbeitsleben einen Journalisten kennengelernt, der so viele Superlative benutzte.
Schreiber hatte ihn zwei Wochen nach seinem Amtsantritt zu einem Gespräch gebeten. »Mein Starreporter«, hatte er zur Begrüßung gesagt und dann lange über das Büro des alten Keil geredet, aus dem er eine Wand herausnehmen lassen würde, damit es »endlich eine angemessene Größe für den Chefredakteur der Hamburg News hätte.« Lukas wurde das Zusammensein mit dem Typen von Minute zu Minute unangenehmer. Am Anfang hatte er noch versucht, Schreibers Monolog zu unterbrechen, nach einer Viertelstunde gab er auf. Zwischendurch war eine der drei Assistentinnen, die der neue Chef mitgebracht hatte, ins Zimmer gekommen und hatte auf ihre Uhr gezeigt, nach dem Motto: Der nächste Termin wartet, vergessen Sie bitte nicht, wie wichtig Sie sind. Aber Schreiber hatte weitergeredet und Lukas unter anderem berichtet, dass er in der Schweiz zweimal hintereinander zum Chefredakteur des Jahres gewählt worden sei und das jetzt in Deutschland wiederholen wolle, mindestens! Woher nahm dieser kleine Kerl mit der Nickelbrille und den bereits dünner werdenden Haaren bloß sein Selbstbewusstsein?
»Ich weiß, Lukas«, sagte Schreiber nach einer gefühlten Ewigkeit, »dass Sie hier gute Arbeit geleistet haben. Aber Sie wissen auch, dass das künftig nicht mehr reicht, oder?«
Bevor Lukas reagieren konnte, fuhr er fort. Offenbar erwartete der Chef keine Antwort: »Ich habe mehrere große Projekte für Sie, bei denen Sie zeigen können, was Sie wirklich draufhaben, und dabei wird es nicht immer nur um die Abgründe gehen, um die Sie sich bisher gekümmert haben.« Schreiber sprach, ohne Luft zu holen, es war Lukas ein Rätsel, wie das ging. Der ganze Mann war ihm ein Rätsel.
»Die Leser wollen nicht immer nur schlechte Nachrichten, sie wollen nicht immer nur Verbrechen und Katastrophen.«
Als hätte ich nur über so etwas geschrieben, dachte Lukas.
»Wissen Sie, womit wir die Leute erreichen? Womit wir die Auflage der Hamburg News und die Reichweite unserer Internetseite nach oben treiben? Na?«
Schreiber hatte tatsächlich eine Pause gemacht, aber sie war zu kurz, als dass Lukas etwas Nennenswertes hätte antworten können.
»Mit tiefen Einblicken in die Hamburger Society, mit Storys über die Reichen, Wichtigen und Mächtigen, wie es sie noch nicht gegeben hat.«
Schreiber strahlte, als hätte er die Nachricht erhalten, tatsächlich Deutschlands Chefredakteur des Jahres zu sein. Wie kann man nur so eitel sein, dachte Lukas noch, als er Schreiber flüstern hörte: »Sie, Lukas, werden meine neue Lieblingsserie betreuen: >Hinter Hamburgs Türen< .«
Dieses Projekt war auch eines der ersten gewesen, das Caspar Schreiber bei seiner groß angekündigten Strategiekonferenz erwähnte. Er hatte darauf bestanden, dass alle Redakteure dabei sind, weswegen zum ersten Mal in der Geschichte der Hamburg News sämtliche Arbeit für zweieinhalb Stunden ruhte. So lange dauerte die Ansprache, die von einer PowerPoint-Präsentation mit hundertzwanzig Folien untermalt wurde. Wenn Lukas den Redeschwall in wenigen Worten hätte zusammenfassen müssen,...
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