Schweitzer Fachinformationen
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Das erste Siegel wird geöffnet. Das Lamm kommt und öffnet das erste Siegel. Auf einem gehörnten Widder stürmt der Reiter heran. Seine Augen wie Feuerflammen. Es ward ihm gegeben eine Krone und er wird weiden die Völker der Erde und die Herden der Berge. In weißem Leinen angetan werden sie kommen und es werden ihnen folgen die Hirten und Heerscharen, die Herren der zehntausend Schafe.
Virgil, der Hirt, holt die erste Tafel aus der Salzhütte, nimmt Nägel und einen Hammer, rammt den Nagel in den Holzbalken, hängt die Holztafel daran, tritt einen Schritt zurück, einen zweiten, liest die Schrift. Mit der Hand geschrieben. Grob, ungelenk. Fehlerfrei. Er liest laut und geht weiter.
Es ist ein Tal der Sünder, Schneezuhälter, Gletschermörder, der SALIGEN FRAUEN, von Schafen und Schafhirten. Mit dem langen Bergstock schreitet Virgil, der Hirt, aufwärts, vorbei an den letzten Zirbenbäumen, überwechselnd in das tiefgrüne Latschenfeld, vorbei an dreiunddreißig kleineren und größeren Bergbächen, Lawinenstrichen, Baumkrüppeln, auf dem neuen Fahrweg, baggerbewegt, zuschandengerichtet. Es ist der zwölfte Juni.
Ich sehe schon, dass es noch viel Schnee gibt, dass die ersten Gräser nur bis knapp zweitausenddreihundert hinaufreichen, dass die Muren ein paar Schneisen in den Boden gerissen haben, dass hinten im Tal der weiße Similaun voller Schnee herunterleuchtet, wie sich an der Flanke der Nebel hinauffrisst, wie die Nebelfetzen um den Gipfel tanzen, quer zu Mutmal und querend nach Finail. Das alles sehe ich, gemeinsam mit dem Hirten. Seine Schafe erwartet heuer gutes Futter, nicht zu hoch gewachsen, wie sie es am liebsten mögen, und nicht zu knapp, damit sie nicht davonrennen, talauswärts die Weiden der Bauern suchen, dort grasen, sich die Wampen vollfressen, zufrieden wiederkäuend gegen Abend bergaufwärts trotten. Es ist gut so bestellt in diesem Jahr. Es müssten alle eintausendneunhunderteinundachtzig Schafe die beste Sommerweide vorfinden.
Auf der anderen Talseite grüßt die Brutalität der neu erschlossenen Skiabfahrt und der neu gebauten Skihütte, vermehrt von dreißig auf nahezu tausend Sitzplätze. Erst dann werde die Sache rentabel. Der Gstraun baut, dass es brutaler nicht mehr möglich ist. Die Schnee- und Snowherren haben das Maß verloren. Der Gstraun ist der kastrierte Widder. Was er baut und gebaut hat, ist von weitem sichtbar. Gut erkennbar durchziehen braune Streifen in Serpentinen das steile Gelände auf Stablein zu, durchbrochen von Masten, Lawinenschutzmonstern, Dorfschutzsicherungsanlagen aus Stahl und Beton, solche der schlimmsten Sorte, inzwischen dahinrostend, daneben die neuen Kanonen. Die neuen Kanonen. Die Schneekanonen. Der Pfarrer hat sie geweiht. Der Segen ist sicher.
Das mag so sein. Es kann auch anders sein. Der alte Pater hätte die Segnung verweigert. Aber es ist geschehen und niemand hat gegen die Scheußlichkeiten protestiert. Wozu hätten sie sonst zur Anschaffung eines neuen Allerheiligsten, einer Supermonstranz, goldig und edelsteinbesetzt, so viel Geld ausgeben sollen. In ihrer maßlosen Brutalität und ihrem übersteigerten Ausgleich der armen Gehirne und Herzen gegen Geld und Macht und Monstranzspenden haben sie alles andere vergessen. Vom Taleingang zum Snow und hinauf zum Ferner gehört alles ihnen. Sie sind die Besitzer.
Doch halt. Sie sind nur Teilbesitzer. Die von drüben haben hier ebenfalls Eigentum. Seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Deswegen kommen die Hirten und die Schafherden aus Laas, Göflan, Kortsch, Schlanders, vom Sonnenberg. Deswegen geht heute der Hirt mit mir schauen. Die alte Steinhütte hinter der Kaser wird drei Monate lang seine Heimstatt sein, sein Lager, seine Küche, der Hundeplatz für den Waldi, die Ecke für das Hunde-Wasser und das Lager mit neuer Matratze, ohne Strom, ohne Komfort.
Weiter draußen stehen supermoderne Viersternhotels. Mit allem Komfort. Nobler und feiner als in besten Stadtwohnungen. Dreizehn Hallenschwimmbäder in zwanzig Viersternhotels. Wer sonst kann das vorzeigen? Dort der Luxus. Und die inwendige Not. In keiner Zeit der zehntausendjährigen Kultur und Unkultur des Tales ist es so schlimm gewesen mit der Herzens-Kultur, hat der fremde Gast gesagt, mitten ins Gesicht am Abend an der Bar. Der schrecklichste Ort der Ausbeutung und Prostitution sei es geworden.
Aber auf dem Berg der Schafe ist es anders. Der Schäfer ist knapp über dreißig. Ein junger Vinschger. Ein schneidiger Mensch. Dunkelhäutig. Mit durchdringend dunklen Augen. Einem Schnauzer. Stark gebogener Nase. Wie bei den Schnalser Schafen. Der Widderkopf. Wie ein Widderkopf mir seiner Nase. Knapp über einssiebzig. Ich folge ihm knapp. Ich kann ihm kaum folgen. Er geht schnell. Sehr schnell und leichtfüßig und berggewohnt. Nahe den Gletschern. Helle, wache Augen und ein kritischer Blick. Mit einem langen Bergstock, wie ihn die Älpler bis zum heutigen Tag tragen, wie sie ihn seit sechstausend Jahren tragen.
Die meisten leben zufrieden dahin. Bis wieder eine Katastrophe kommt; eine von denen, die seit Jahrhunderten ihr Leben bestimmen. Der halbe Berg kommt herunter. Drei Millionen Kubikmeter Wasser brechen aus und wälzen sich durchs Tal, sechzig Kilometer Zerstörung hinterlassend. Schon tagelang liefen die Warner durchs Tal, von Ort zu Ort, immer lauter schreiend: „Der Ferner* kommt, der Ferner kommt!“ Es ist ein einziger Gletscher gemeint, wenn die Schreienden von Dorf zu Dorf eilen, warnend, rufend, klagend, schreiend, buchstäblich die Seele aus dem Leib schreiend. Es ist nur ein Gletscher gemeint. Das wissen alle im Tal. Der Vernagtferner. Der Ferner zu Vernagt im hintersten Tal, wohin die Landkartenmacher die wildeste Einöde der Alpen hingemalt haben, als sie anno 1604 in die Karte hineinschrieben glacies continua et perpetua und der gross ferner. Riesige zusammenhängende Gletscher- und Eisflächen, nach heutigen Maßen vierhundert Quadratkilometer Gletscherflächen, wie sonst nirgendwo in den Alpen so zusammenhängend, so sich in den breiten Höhenbecken ausbreitend.
Aus dem kleinen Wandschrank in der Schäferhütte holt Virgil, der Hirt, eines seiner Bücher, eines seiner Geheimnisse, greift in die Seiten, schlägt auf und liest. Der weltbeobachtende Mann, das hat er in einem seiner Bücher gelesen und auf einem Zettel notiert. Ein weltbeobachtender Mann, könnte er das sein? Zweifel kommen in ihm auf.
Unstreitig ragten die Gebirge dort am höchsten empor, wo der Alpenhauptkamm hinstrich, und er strich von Nordosten nach Südwesten. Von dort aus trennten die Meere nemlich am ersten von einander. Dort wards am ersten Land. Dort schneit es am ersten, und aus dem Schnee wurd Eis. Diese wurden zusammengeblasen, schmolzen ab und daher begannen die Flüsse, welche die Meere aufnahmen …
Mehrmalen, am öftesten habe ich aber von Norden her diese großen Schnee- und Eislagen gesehen, und mir kamen die, welche um dem Url oder der Wildspitze in Tyrol liegt, als die ausgedehnteste vor; und zwar vorzüglich deßwegen, weil sie weit und breit sich aneinander hängt und in alle Gegenden sich ausleert.
Der weise Pater Plazidus aus dem schweizerischen Kloster wird wohl recht haben. Virgil klappt das Buch wieder zu, geht vor die Hütte und sieht zum ersten Mal die Schrecken des Tales und die inwendige Verheerung, die seine Laster hinterlassen haben in der Verehrung des Goldenen Kalbes. Rundum sieht Virgil die Anzeichen der Verwüstung und der Schäden. Wenn er könnte, würde er sich auf den Felsen stellen und seine erste Felsenpredigt halten. Er hat noch zu wenig Feuer und Mut in sich.
Zuhinterst nennen sie es das Hintere Eis. Hinter den zusammenhängenden und ewigen Eismassen des großen Ferners leben die geheimnisvollsten Bergbewohnerinnen.
Sie leben nicht dahinter, sondern drinnen, unten, im Gletscher, in den weiten, hunderte Meter tiefen Gletscherhallen und Gletschertoren, weit drinnen, wo die Einheimischen vom Kristallpalast erzählen, in dem die Geheimnisvollen wohnen. Es sind die SALIGEN. Manche nennen sie die SALIGEN FRAUEN und andere kennen sie aus der Überlieferung als SALIGE FRÄULEIN. Frau oder Jungfrau, verheiratet, nicht verheiratet, keusch, geschwängert, Mutter, kinderlos, jungfräulich, unbefleckt, rein, unnahbar, zutraulich, wunderschön, rächend, drohend, die Huren der Berge, die Heiligen der Berge, die Lawinenbringerinnen, die Murenhexen, die Helferinnen der Schäfer und Schäferinnen, wunderschön in weißen Kleidern, mit goldenem Strahlenkranz, die Madonna vorweg, der Strahlenkranz über den Häuptern der SALIGEN.
Dort liegt die sommerliche Welt des Schäfers. Romantisch und wildromantisch, Prospekttirol und heile Alpenwelt. Aber auch die verdammte raue Natur, der tagelange Nieselregen, der von den beleidigten SALIGEN heruntergesandte Regen, Nieselregen drei Tage und zwei Nächte und nicht mehr austrocknen, dann der Starkregen und bald darauf der Schnee. Mitten im Sommer, einmal im Juli und zweimal im August der Schnee. Dann das Suchen nach Schafen und Lämmern. Der Hund keucht. Der Schäfer mit...
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