Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Marie träumte gerade von Dutzenden Läusen, die wie Schneeflocken über das Fell eines von ihr ausgestopften Murmeltiers trieben, als der Staubsaugerlärm ihr in alle Glieder fuhr. Sie schreckte hoch, heftete sofort den Blick auf das Tier, das auf dem obersten Regalbrett auf einem Wurzelstock saß. Staubkörnchen flirrten durch den feinen Streifen Morgenlicht, der auf das aufgerissene Mäulchen fiel. Kein Parasit zu sehen. Maries Kopf sank in die Polster zurück. Sie schloss die Augen, versuchte in den Schlaf zurückzufinden, doch es gelang ihr nicht. Im flirrenden Rot ihrer geschlossenen Lider erkannte sie als tanzenden schwarzen Fleck die Umrisse des Murmeltiers. Marie ächzte, schaute noch einmal hin. Mit gebieterischer Gleichgültigkeit überblickte das Vieh die Werkstatt, unbeeindruckt vom Lärm, der durch die Zimmertür drang. Die Luft war erfüllt vom Haarlack, mit dem sie das Fell des Bären am Vorabend behandelt hatte. Bär . So hatte Onkel Franz männliche Murmeltiere genannt, und Marie machte es ebenso. Die lateinische Bezeichnung war weitaus weniger schmeichelhaft. Mus montis. Bergmaus. Marie presste die Finger auf die Stelle zwischen den Brauenbögen. Sie spürte einen flächigen Schmerz unter der Schädeldecke. Weshalb nur fuhrwerkte Tante Hella in aller Herrgottsfrühe vor ihrem Zimmer herum? Und warum wurde Marie das Gefühl nicht los, dass sie damit nicht nur den Staub, sondern auch sie selbst durch die Ritzen im Türrahmen ziehen wollte?
»Kannst aufhören, ich bin wach.«
Sofort verstummte der Sauger.
»Oje! Hab i di g'weckt?«, erklang Tante Hellas Stimme. »Aber jetzt, wo du auf bist, richt i dir g'schwind ein Frühstück her.«
Marie stellte sich vor, wie sie sich lächelnd entfernte. Sie sah die altersgefleckte Hand ihrer Tante vor sich, die den Staubsauger am gerippten Hals hinter sich herzog. Sie hörte die Hinterrädchen über die Steinfliesen eiern, vernahm den Klangwechsel beim Überqueren des Sisalläufers und das geräuschvolle Drehen bis zur Abstellkammer, wo der Staubsauger von resoluter Hand geparkt wurde. In der Küche angekommen, würde Tante Hella Kaffee aufsetzen, zwei Semmeln der Länge nach durchschneiden, dick mit Butter und Marillenmarmelade bestreichen und Marie zum Essen hinstellen. Wer jeden Morgen zwei gebutterte Semmeln aß, um den brauchte man sich nicht weiter zu sorgen. Die rüstige Tante Hella und ihr verschrobenes Kind. Dabei war Marie nicht wirklich ihr Kind. Doch sie spielten ihre Rollen so lange und gut, dass sie das beide immer öfter vergaßen. Und während ihnen die Männer wegstarben, während das Leben sie in den Abgrund stürzte oder in tausend Stücke zerriss, hielten Marie und ihre Tante trotzig die Stellung. Sie machten einfach weiter.
Marie setzte die nackten Füße auf dem Dielenboden auf, drückte das Kreuz durch und blickte sich um. Schon als Kind hatte sie davon geträumt, in der Werkstatt, diesem Ort der Ruhe, an dem Toten neues Leben eingehaucht wurde, bleiben zu können. Auch und besonders in der Nacht. Gerade dann, wenn das Bewusstsein den Körper für ein paar Stunden verließ, um in der Sphäre zwischen Leben und Tod auf Wanderschaft zu gehen. Nun standen ihr Bett und der mit Wiesenblumen bemalte blaue Bauernkasten tatsächlich hier. Marie arbeitete in der Werkstatt. Sie schlief hier. Und, wenn Tante Hella ihr mit ihrem Dorftratsch allzu sehr auf die Nerven ging, nahm sie hier sogar ihre Mahlzeiten ein.
Jetzt stand sie auf, zog das erstbeste Oberteil aus dem Kasten, ein altes weißes Herrenhemd, angelte nach ihrer Jeans, zog sich an und trat vor den Waschtrog. Wo sie tagsüber ihre blutigen Hände reinigte, ausgeweidete Bälger säuberte, Farben mischte und Chemikalien verdünnte, putzte sie sich die Zähne. Dass es keinen Spiegel über dem ramponierten Emaille-Waschbecken gab, gefiel ihr. Der Anblick des harten Zugs, der sich in den letzten Wochen um ihren Mund gelegt hatte, blieb ihr dadurch genauso erspart wie der ihrer ersten Falten und vereinzelter grauer Haare, die sich in ihre braune lange Mähne geschlichen hatten. Marie bekam noch immer Komplimente für ihr Aussehen, ihre schmale Figur, doch erst seit sie sich nicht mehr jeden Morgen kritisch beäugte, war sie mit sich und ihrem Äußeren im Reinen. Sie rieb ihre Hände an dem fadenscheinig gewordenen Handtuch trocken, kämmte sich und band ihr Haar im Blindflug zum Pferdeschwanz zusammen. Sie griff nach der ledernen Schürze, die einst Onkel Franz gehört hatte, band sie sich um und ging die vier Schritte zum Metallschrank hinüber, wo sie die oberste Schublade öffnete und zwei Spanndrähte herausnahm. Vor dem Frühstück wollte sie noch die Hasenohren nachziehen. Über Tage hinweg musste man sie immer wieder in Form bringen, sonst verloren sie gegen die Schwerkraft, und statt eines Tieres mit aufgestellten Ohren glotzte einen für den Rest der Ewigkeit ein Häufchen heulendes Hasenelend mit herabhängenden Löffeln an. Auf der Werkbank am Fenster standen zwei ausgestopfte Schneehasen auf ihren Hinterläufen, die Mäuler aufgerissen, vertraut wie ein altes Paar. Dabei hatte Marie den Rammler mit einem Schwung Artgenossen erst kürzlich vom Salzburger Zoo bekommen, während die Zibbe schon seit Jahren in einer der Tiefkühltruhen des Onkels auf ihren großen Auftritt gewartet hatte. Marie strich über das seidenweiche Fell und zupfte an der Blume herum, die dem Tier wie ein flauschiger Schneeball am Hintern klebte. So zart und glänzend waren ihr lange keine Hasen mehr gelungen. Sie hätte zufrieden sein können mit der Arbeit, wenn nicht die Augen gewesen wären. Ihre Gestaltung gehörte beim Ausstopfen ohnehin zum Schwersten. Doch die Lichter von Albinohasen naturgetreu nachzubilden - ihr rötliches Flackern zwischen Transparenz und Opazität - war fast unmöglich. Hier hatte sie mit winzigen rot-weiß-gestreiften Murmeln experimentiert, was ihnen ein verschlagenes, geradezu hinterfotziges Aussehen verlieh. Die Tiere lösten ein Unbehagen aus, das sie unter normalen Umständen für den Verkauf unbrauchbar gemacht hätte. In diesem Fall war es anders, ein gewisser Gruseleffekt gehörte bei Wolpertingern einfach dazu. Dem Weibchen würde sie später ein Diadem aus gestutzten Pfauenfedern aufsetzen, einen Entenschnabel verpassen und den Schwanz eines Waschbären annähen. Dem Männchen ein Geweih und die aufgespannten Entenflügel, die Youni ihr vor Monaten von einem Ausflug mitgebracht hatte. Youni . Marie seufzte und versenkte den Blick in der Schneelandschaft des Hasenfells. Ihr gefielen die Tiere ohne den darauf geklatschten Schnickschnack besser. Aber die Kundschaft, vor allem Touristen aus Deutschland und Italien, verlangte danach. Wolpertinger und Haustiere. Andere Aufträge bekam sie nicht. Die heimischen Jäger, die den Kundenkreis von Onkel Franz gestellt hatten, ignorierten sie. Ihre Trophäen, diese Ausweise ihrer Männlichkeit, wollten sie keiner Frau anvertrauen, keiner Frau wie Marie jedenfalls. Blieben also die Wolpertinger. Seit sie das Gewerbe vor einem Jahr übernommen hatte, bildeten sie ihre Haupteinnahmequelle, trotzdem reichte es hinten und vorne nicht. Maries Ersparnisse aus der Zeit beim Radio waren fast aufgebraucht. Das Souvenirgeschäft am Hauptplatz zahlte hundertfünfzig Euro pro Tier. Wenn sie sich geschickt anstellte. Bevor sie die Viecher allerdings in Fabelwesen verwandeln konnte, mussten die Löffel in Form gezogen und fixiert werden. Wie überlange Chicorée-Blätter ragten sie in die Höhe, diese Zauberwerkzeuge, in denen sich noch die leisesten Geräusche verfingen. Winzige Positionsänderungen beim Fixieren der Löffel gaben einem Tier einen völlig neuen Ausdruck. Marie liebte diese Millimeterarbeit und ließ sich viel Zeit dafür, den richtigen Ausdruck für ein Tier zu finden. Lebendig sollten sie wirken, wach, aber nicht angespannt. Wer wollte schon einen Hasen in seinem Wohnzimmer stehen haben, der aussah, als würde er einem gleich an die Gurgel springen? Marie strich mit den Fingerspitzen an den Innenseiten der Ohren entlang. Bei jeder Berührung kroch ihr die Gänsehaut ein Stück weiter den Arm hinauf. Der Anblick der Tiere verschaffte ihr eine nicht zu verleugnende Befriedigung. Der Tod hatte, so schlimm er war, auch seine Vorzüge. Der vom Willen verlassene Körper breitete sich vor Marie aus und wurde zum Material, das sie nach Belieben formen konnte. Vielleicht hatte Younis Tod sie auch deshalb so hart getroffen, weil nichts Greifbares von ihm geblieben war. Wie gern hätte sie wenigstens eine Strähne seiner schwarzen Locken behalten oder seinen Körper in ihrer Nähe gewusst. Sie griff nach den Ohren, befestigte die Metallklemmen an den Spitzen und spannte die geäderte Haut mit einer einzigen kraftvollen Bewegung nach hinten. Gerade so weit, dass sie nicht riss.
Als sie fertig war, trat sie ans Fenster, zog...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.