Schweitzer Fachinformationen
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Dahoam.
Der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt.
Was für ein Saustall.
Maries Vorgänger, Dr. Alban Kleindienst, hatte nichts, aber auch gar nichts mehr gemacht seit seinem Entschluss, die Praxis zu übergeben. Sie war ein abgewohnter Albtraum, allerdings in guter Lage, auf der Esplanade, direkt neben dem Museum der Stadt, jenem Haus, in dem sich dereinst Kaiser Franz Josef und seine Sisi verlobt und der Stadt damit auf ewig ihren Stempel aufgedrückt hatten.
Bad Ischl.
Mit 16 hatte sie das »Bad« immer Englisch ausgesprochen und so gegen die vermeintliche Enge und Kleinbürgerlichkeit protestiert. Jetzt, 17 Jahre später, hatte sie ihre Meinung geändert. Nach den aufreibenden Jahren in Salzburg würde sie ab sofort von ihrer kleinen Wohnung in St. Wolfgang aus in die Gegenrichtung pendeln.
Dr. Kleindienst hatte genug davon gehabt, mit fast 70 stets zur Verfügung zu stehen, und sie davon, noch länger auf der stressigen Intensivstation zu bleiben, insbesondere seit Corona.
Zuvor war es ihr leichter gefallen, die vielen Schicksale und den allgegenwärtigen Tod nicht an sich heranzulassen, sie als medizinische Fälle zu betrachten.
Doch dann waren sie gekommen, die endlosen Dienste an der Grenze der körperlichen Leistungsfähigkeit in den höllischen Schutzanzügen, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung. Eine 26-jährige Schwangere, die monatelang gekämpft und ihr Baby nie gesehen hatte, ehe sie gestorben war, Patienten, die man zunächst stabilisiert und die dann doch keine Chance mehr gehabt hatten, weil ihre Organe versagt hatten.
Insbesondere zermürbt hatten sie die Anfeindungen. Wie oft sie ihre Erschöpfungstränen hinuntergeschluckt oder im Stillen geweint hatte! Zuletzt auch noch der Faustschlag eines Unbekannten während der Proteste gegen die Impfpflicht.
Danach hatte sie noch ein halbes Jahr durchgehalten. Sechs durchwachsene Monate, die im Entschluss gipfelten, keine Sekunde länger wie betäubt zu funktionieren und der zunehmenden Gleichgültigkeit zuzusehen. Und als sie von der frei werdenden Ordination am Bad Ischler Traunufer erfahren hatte, hatte sie den ersten Anflug von Hoffnung seit Langem gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, einen radikalen Schnitt zu setzen und den Menschen in anderer Form zu helfen.
Womöglich trotzdem etwas überstürzt hatte sie zugesagt. Dr. Kleindienst hatte sich bereit erklärt, noch so lange zu ordinieren, bis ihre Kündigungsfrist abgelaufen war. Die Übergabe war reibungslos verlaufen, und nun stand sie hier, inmitten von wuchtigen Kirschholz-Grausamkeiten, zerfransten Postern menschlichen Innenlebens, einem Plastikskelett und einem Linoleumboden in der Farbe Rotz.
Eine Woche blieb ihr, um hier alles halbwegs zum Funktionieren zu bringen und eine tüchtige Sprechstundenhilfe zu finden, bisher der Job von Dr. Kleindiensts Frau. Was sie bereits besaß, waren erwartungsvolle Patienten und jede Menge Termine mit Handwerkern.
Ihre bisher schönste Entdeckung in der unmittelbaren Umgebung: die Bäckerei ein paar Häuser weiter, ebenfalls direkt an der Esplanade gelegen, die nicht nur herrlichen Kaffee anbot, sondern auch selbst gebackene Brotsorten, Handsemmeln und typische Bad Ischler Süßigkeiten.
Es war noch früh, doch der erste Morgenansturm hatte sich bereits gelegt. Marie saß an einem der kleinen Tische am Fenster, vor sich den zweiten Cappuccino des Tages, ein Grahamweckerl mit Butter und ihr iPad. Die Liste der zu erledigenden Dinge wurde immer länger. Aufseufzend wuschelte sie durch ihre hellbraunen Locken, das kaum zu bändigende und wenig geliebte Familienerbe.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sich die junge Angestellte zu der Frau am Nebentisch setzte. Flüchtig musterte sie die beiden. Die Bäckerin war sehr hübsch, vielleicht Mitte 20 und über und über tätowiert, die Ältere übergewichtig und unscheinbar und steckte in einem unvorteilhaften braunen Dirndl.
Um nicht neugierig zu wirken, wandte sich Marie wieder ihren Überlegungen zu, doch das Gespräch am Nebentisch ließ sich kaum überhören. »Filo, schau, ich bringe dir noch einen Kaffee. Geht aufs Haus. Hast du schon etwas gefunden?«
Die Mittfünfzigerin mit den dicken Brillengläsern schüttelte den Kopf. »Ach wo, ich bin ein bodenloses Schwarzes Loch am Arbeitsmarkt. Zu alt, zu dick, zu weiblich, zu ungebildet. Ein hoffnungsloser Fall. 40 Jahre Erfahrung als Hebamme zählen nicht. Und jetzt Themenwechsel. Wie geht's dir mit deinem Habschi?«
Die Blondine mit den Dreadlocks begann zu strahlen. »Du weißt ja, dass er sich bisher nie fix auf eine Beziehung eingelassen hat, weil er nicht auf alle anderen Frauen verzichten wollte. Aber gestern hat er gesagt, bei mir sei es anders. Ist das nicht super?«
Ein Schatten glitt über das Gesicht der Älteren.
Erschrocken zupfte die Bäckerin an ihrem Nasenpiercing. »Du kennst mich, seit ich ein Baby war. Sei ehrlich, was denkst du?«
»Kind, schau, vielleicht meint er es wirklich so. Aber offenbar bedeutet es für ihn nicht nur Freude, mit dir zusammen zu sein, sondern auch Verzicht. Was schadet es also, euch Zeit zu geben?«
Die Jüngere verzog das Gesicht. »Wieso kannst du mir nie das sagen, was ich hören will?« Mit diesen Worten stand sie auf und legte die Hand auf die rechte Schulter der Frau. »Danke!«
Als die Frau im Dirndl gegangen war, erhob sich auch Marie. Sie hatte noch einen Termin mit einem Tischler der Attersee-Werkstätten.
»Entschuldigen Sie«, wandte sie sich an die junge Angestellte, »darf ich mich rasch vorstellen? Ich bin Marie Giesinger, die Nachfolgerin von Dr. Kleindienst.«
Ihr Gegenüber lächelte. »Das weiß ich doch schon längst, Frau Doktor. Herzlich willkommen in der Nachbarschaft. Ich bin die Laura Danklmayr. Voll schön, dass Sie jetzt da sind! Der alte Herr Doktor war zwar süß, aber halt schon ein bissl verstaubt.«
Die Buschtrommeln! Wie hatte Marie die bloß vergessen können? Neuigkeiten verbreiteten sich in Ischl wie ein Lauffeuer.
»Laura, wer war denn die Dame, mit der Sie sich eben unterhalten haben?«
Diskretion war Lauras Sache nicht. »Na, die Filo Hemetsberger. Das ist so eine Liebe. Hat früher als Hebamme gearbeitet, aber jetzt . Na ja, sie ist nicht mehr die Fitteste nach dem Schicksalsschlag. Findet keinen Job, dabei ist sie schlau und kennt jeden in Ischl!«
Dermaßen geballte Information in so wenigen Sätzen musste Marie erst einmal sacken lassen. Nachdenklich bedankte sie sich mit einem großzügigen Trinkgeld, ehe sie auf die Straße trat, wo soeben der weiße Kastenwagen des Tischlers einparkte.
Drei Tage später waren die Linoleum-Katastrophe, die grindigen Poster und das Skelett Geschichte, die Möbel beauftragt, die Wände gestrichen und die nötigsten Dinge auf Schiene. Am Nachmittag würde der neue Boden verlegt werden. Danach graute Marie schon vor den Computerleuten. Sie brauchte jemanden, der ihr half, die Datenbank auf den neuesten Stand zu bringen, ein Online-Terminportal einzurichten und sich darauf einzustellen, dass sie wahrscheinlich an die Hälfte der dringend notwendigen Dinge noch gar nicht gedacht hatte. Renovieren ertrug sie ohnehin nur in homöopathischen Dosen - und das hier glich einem Tsunami.
Spontan beschloss sie, das schöne Herbstwetter auszunutzen und mit ihrem E-Bike an der Traun entlang durch den Sisi-Park und Kaltenbach in Richtung Bad Goisern zu radeln. Sport half ihr, Stress abzubauen. Nach ihrem Leben in Salzburg freute sie sich auf mehr Zeit in der Natur und in den Bergen, die ihr seit frühester Kindheit vertraut waren. Eine Skitour bei Vollmond entsprach viel mehr ihrer Vorstellung von Glück als jedes Luxusabendessen.
»Hallo, Frau Dr. Giesinger, sind Sie da?«
Erstaunt lugte Marie zur Eingangstür.
Der Anblick war umwerfend. Die zarte Laura aus der Bäckerei verschwand beinahe hinter der wuchtigen Gestalt, die sie hineinschob und die einen Teller mit kleinen Schokoküchlein und jede Menge Verunsicherung im Gesicht vor sich hertrug.
Ohne zu zögern, legte Laura los. »Höchste Zeit, dass ihr euch kennenlernt. Das ist die Filo. Sie hat unheimlich viel Ahnung vom Backen, von Medizin, vor allem aber von Menschen . und auch von Computern. Das Einzige, was sie nicht kann, ist, sich selbst zu loben und selbstbewusst damit anzugeben. Sie werden keine bessere Sprechstundenhilfe finden. Und keine besseren Ischler Törtchen. Also, was halten Sie davon?«
Perplex huschte Maries Blick zwischen der korpulenten Frau, Laura und den köstlich duftenden Törtchen hin und her. Filos Gesichtsausdruck schwankte zwischen Panik und Hoffnung, Laura strahlte und machte eine auffordernde Geste. Ansonsten herrschte erwartungsvolle Stille.
»Äh«, räusperte sich Marie und pustete die Wangen auf. Das erste Wort, das ihr in den Sinn kam, war: »Computer?«
Filos Miene erhellte sich und ein winziges Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Man musste sie einfach mögen. »Seit Jahren mache ich beim Arbeitsmarktservice jede Fortbildung, die ich kriegen kann, und Zeit habe ich ja. Datenbankverwaltung hatte ich schon ganz zu Anfang, da werden fähige Leute gesucht, außer sie sind so wie ich.« Sie sagte es ohne Bitterkeit und deutete mit einem kleinen Schulterzucken an sich hinab.
Endlich hatte Marie sich gefangen. »Okay, nehmen wir doch mal ein wenig das Gas raus. Noch funktioniert hier nicht viel, aber Kaffee gibt es!« Neugierig deutete sie auf...
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