Schweitzer Fachinformationen
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Es ist Nacht. Er wartet. Das Mikrofon ist auf ihn gerichtet, das Aufnahmegerät angeschaltet. Er hat es Eva versprochen. Nein, so stimmt es nicht, Evas Mann hat er es versprochen. Wenn er »Evas Mann« denkt, muss er sich gleich bewegen, und es raschelt. Das Aufnahmegerät wird auch seinen Atem einfangen, also bemüht er sich, nicht zu seufzen. Auch schreien wäre nicht hilfreich.
Er sitzt in einem dottergelben Haus mit roten Fensterläden und einer roten Tür mitten auf einem zugefrorenen See in den Northwest Territories und wartet. Es ist still hier. Er hätte gedacht, dass das Eis mehr arbeiten würde, aber er hört nur das Feuer im Ofen. Ab und zu knacken und ächzen die Bretter des Hauses. Das Eis ist hier fast zwei Meter dick, da bewegt sich auf der Oberfläche nicht mehr viel. Gestern haben zwei Männer aus dem Ort den ganzen Tag mit dem Bulldozer Eisblöcke für den Eisschnitzwettbewerb aus dem See geholt. Doch das war viel weiter hinten, nicht hier zwischen den Häusern.
Wenn der See aufbricht, schwimmen die Häuser im Wasser, aber jetzt ist März, alles ist gefroren, fest und, trotz der starken Sonne, tief verschneit. Nur auf der Autostraße, die quer über den zugefrorenen See führt, ist der Schnee abgefahren. Das blanke Eis glänzt von Weitem schwarz, doch wenn man näher kommt, ist es hellblau und bis in die Tiefe hinein geädert und durchzogen von Rissen und Streifen und wellenförmigen Schichten. Wie ein abstraktes Gemälde, nur dreidimensional.
Er hätte gedacht, dass die Hausboote trotzdem ein wenig schwanken würden, wenn zwanzig Eisquader von hundertfünfzig mal siebzig mal siebzig Zentimetern Kantenlänge mit einem fast zwei Meter langen Kettenschwert ausgesägt, an Stahlketten gelegt und dann mit einem gewaltigen Baufahrzeug aus dem See gezogen werden. Er hat bei drei Quadern zugesehen, doch nur beim ersten musste er weit in Deckung gehen, als das Wasser in einer enormen Druckwelle aus dem rechteckigen Loch schoss.
Er steht auf, zieht sich den Parka und die Fellschuhe an und tritt hinaus auf die hölzerne Terrasse des Pontons, eigentlich der Bootsanleger, aber jetzt steht sein Mietwagen davor. Er möchte nur kurz frische Luft schnappen, doch es herrschen minus zweiundvierzig Grad, da kann man nicht mal eben in Hausschuhen hinaus. Mal eben geht hier sowieso nichts. Mal eben zum Bäcker, zu Starbucks, mal eben beim Nachbarn ein Ei leihen. Alles ist mit langwierigem An- und Ausziehen verbunden. Doch er muss zugeben, dass er in seinem ganzen Leben noch nie bei einem Nachbarn ein Ei geliehen hat. Wenn überhaupt, hat Eva das Eierleihen übernommen. Er kann sich aber nicht erinnern, dass sie je darüber gesprochen hätten. Warum nicht? Vielleicht hat sie nie Eier gekauft, sondern immer nur welche geliehen, mal von den Leuten über ihnen, mal von den Leuten unter ihnen, mal von denen gegenüber. Er weiß es nicht. Er wird es nie wissen, es sei denn, er fragt die Leute. Vielleicht wird er es tun, wenn er wieder in Hamburg ist. Doch sollte er tatsächlich je ein Ei brauchen, würde er lieber hier danach fragen als zu Hause, selbst wenn er dafür durch die Kälte gehen muss.
Steve und Caroline würden ihm jederzeit ein Ei geben, sie würden ihm außer dem Ei auch noch ein Bier und einen Kaffee und bei Gelegenheit sogar einen Haschbrownie geben. Er schaut hinüber zum Nachbarboot, es ist größer als seines und blau. Licht brennt in den Fenstern, ansonsten ist es nachts dunkel auf dem See. Genau darum ist er hier. Er schaut in den Himmel. Noch nichts zu sehen. Es gibt einen weißen Streifen im Westen, aber ob etwas daraus wird, vermag er nicht zu sagen. Er wird den Streifen weiter beobachten.
Im Winter hierherzukommen war gut, auch wenn das Hausboot nicht richtig warm wird. Er trägt mehrere Wollpullis und Fleecehosen, sogar im Bett. Immerhin kann er mit dem Auto bequem vom Haus über den See zum Supermarkt in die Stadt fahren oder im Noodle House etwas essen, das anders schmeckt als seine eigenen Nudeln. Yellowknife ist teuer, aber ein Hausboot zu mieten, kostet nicht sehr viel. Der Vermieter, wie hieß er noch gleich, hat gesagt, er wohne in der Stadt, etwa zehn Minuten mit dem Auto von hier. Doch als er das der neugierigen Frau in der Gallery erzählte, fragte sie sofort:
- Vermieter? Wie heißt er denn?
- Ist mir gerade entfallen. Weißer Zopf, langer Mantel, genauer gesagt, ein --
Die Frau begann lauthals zu lachen, und er wollte sofort wieder gehen. Diese fette Person mit dem protofeministischen Haarschnitt und Hippie-Ohrgehänge - baumelten da wirklich kleine Traumfänger? - schien sich ja prächtig zu amüsieren. Angeschaut hat sie ihn, voller Mitleid. Und während sie so tat, als wäre sie schon fast wieder in ihren Taschenbuch-Thriller vertieft, fügte sie noch hinzu:
- Mackintosh. Ich weiß. Das ist kein Vermieter, Schätzchen. Keine Ahnung, wo er wohnt. Im Busch vielleicht. Im Winter arbeitet er manchmal als House Sitter. Jetzt sitten Sie das Haus, auf das eigentlich er aufpassen soll. Wahrscheinlich hat er noch einen anderen Auftrag irgendwo in der Stadt. Ich schätze mal, für ein Haus mit besserer Heizung.
Und dann schaute sie noch einmal auf und zwinkerte ihm fröhlich zu.
Er geht wieder hinein, legt ein Holzscheit nach und wirft den Parka auf den Boden. Er hätte Lust auf ein Bier, nimmt sich aber keines. Sonst wird er müde. Ist er eine bemitleidenswerte Kreatur? Vor einem Monat hätte er das noch erstaunt von sich gewiesen. Vor einem Monat war er noch ein Alphatier, ein Singer-Songwriter mit einer guten Band, er hatte gerade einen Song an David Gray verkauft, David Gray! Und er hatte eine schöne und kluge Frau und eine sexy Geliebte, die glücklicherweise nicht so schön und klug war, dass er seine Frau für sie hätte verlassen müssen, aber sie liebte ihn mit einer Wucht, die ihn immer wieder umwarf. Er findet es einfacher, über seine Geliebte nachzudenken als über seine Frau.
Er setzt sich wieder, es ist ihm jetzt egal, ob das Aufnahmegerät sein Seufzen einfängt. Oder das Zischen des Bierdosenverschlusses. Vielleicht ist David Gray inzwischen auch ein Beta-Singer-Songwriter? Er ist sich nicht mehr sicher. Sicher ist, dass Eva ihm fehlt, seine schöne, kluge Frau.
Aber war sie das wirklich? Die Seine?
Er ist sich einfach nicht mehr sicher.
Unruhig sieht er aus dem Fenster, als käme Erleuchtung von dort.
Das Nordlicht. Es zu sehen hat nie zu seinen Träumen gehört. Höchstens wollte er einmal in dieser warmen Blauen Lagune bei Reykjavík baden, möglichst mit Björk darin, oder vielleicht noch einen aktiven Vulkan sehen - möglichst von einer warmen, blauen Lagune aus mit Björk. Doch seit Eva nicht mehr da ist, sehnt er sich nur noch nach dem weißen Nichts am Tag und dem kalten Licht in der Nacht, das mal da ist und mal nicht. Er wollte nach Kanada, vielleicht auch, um Eva näher zu sein oder sie besser zu verstehen, aber eigentlich glaubt er nicht an so etwas. Es ist die Vorstellung eines unendlich weiten, weißen, leeren Gebiets, die ihn beruhigt. Nein, mehr noch, die ihn geradezu narkotisiert. Aber nicht betäubt. Es ist das Gegenteil von taub. Alle Geräusche sind hier verstärkt. Kanada. Allein schon der Name dieses großen, leeren Landes klingt wie ein Echo, das von der glatten, schallharten Oberfläche des gefrorenen Sees zurückgeworfen wird: Keiner da!
Vor elf Jahren haben sie sich kennengelernt, vor über neun Jahren geheiratet. Eva wollte erst gar nicht, dann wurde sie schwanger, und da konnte er sie schließlich überreden. Eigentlich hat er sie gezwungen, es ging schließlich um seine Rechte am Kind. Er hat gedroht, er werde alle Rechte einklagen, es werde einen langen, schmutzigen Kampf vor Gericht geben und noch mehr solcher Sachen, bis sie schließlich nachgab und eine kleine, sachliche Zeremonie im Standesamt Altona über sich ergehen ließ. Trauzeugen waren die beiden älteren Damen von nebenan, bei denen Eva und er die Blumen gossen, wenn die zwei auf ihren langen Reisen durch Südostasien waren. Dass Eva das Kind kurz vor der Niederkunft verlor, gab ihrer Ehe eine traurige Absurdität, derer sich beide bewusst waren und die sie nie erwähnten. Als es passierte, war sie nicht da und er nicht hier.
Er steht abrupt auf und zieht sich den Parka an, während er noch einmal hinaustritt. Die Kälte fährt, einem Messer gleich, in die unbedeckten Stellen seiner Haut. Es ist ein blankes Messer, dessen Klinge so scharf ist, dass er zunächst kaum merkt, wie sie eindringt. Nach einigen Sekunden erst beginnt er nach Luft zu ringen. Stirn, Nase und Hände fangen an zu schmerzen. Er versucht, sich eine Zigarette anzuzünden, doch er muss sich beeilen, denn die Kälte lähmt einem binnen weniger Sekunden die Finger. Sein Nachbar Steve kann rauchen, ohne die Zigarette dabei aus dem Mund zu nehmen. Er stößt den Rauch aus dem einen Mundwinkel, während die Zigarette im anderen klemmt. Beim Versuch, es ihm nachzutun, muss er husten, also nimmt er die steifen Finger erst einmal in Kauf. Steve ist schließlich hier aufgewachsen.
Vom Hinterkopf zieht ein heller Schmerz den Schädel hinauf. Nach einer halben Zigarette hat er das Gefühl, seine Hände müssten, schlüge er sie mit mittlerer Stärke gegen die Hauswand, klirrend in tausend Scherben zerspringen. In seinen Ohren beginnt es zu sirren. Ob seine Ohrläppchen schon schwarz werden? Er denkt darüber nach, dass man bei einer solchen Kälte an nichts anderes denken kann als an die Kälte. Ab minus dreißig werden alle anderen Gedanken auf Eis gelegt, und das Gehirn kennt nur noch einen einzigen Brennpunkt.
Aber genau wie Bakterien, Viren und...
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