Schweitzer Fachinformationen
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Mit Wärme, sprachlicher Kraft und feinem Witz erzählt Katharina Hagena von drei Menschen, drei Schicksalen - und zwölf Frühsommertagen an der Elbe, die alles verändern. »Flusslinien« ist ein so bewegender wie vielschichtiger Generationenroman über das Leben mit den Wunden, die uns zeichnen, und die Frage, wie man lernt loszulassen, zu vertrauen und weiterzuatmen.
Margrit Raven ist hundertzwei und wartet auf den Tod. Früher war sie Stimmbildnerin, jetzt lebt sie in einer Seniorenresidenz an der Elbe. Jeden Tag lässt sie sich von dem jungen Fahrer Arthur in den Römischen Garten bringen. Dort, mit Blick auf den Fluss, erinnert sie sich: an ihre Kindheit, den Krieg, ihre Liebhaber und an das, was sie über die einstige Gärtnerin dieses Parks weiß, Else, die große Liebe ihrer Mutter.
Die Erinnerungen halten Margrit am Leben - und die Besuche ihrer zornigen Enkelin. Luzie hat sich kurz vor dem Abitur von der Schule abgemeldet und übernachtet nun allein in einer Hütte an der Elbe. Während sie Margrit, deren Mitbewohner und sich selbst im Keller der Seniorenresidenz tätowiert, versucht sie, Stich für Stich, ihre Kraft und ihr Leben zurückzugewinnen.
Und dann ist da noch Arthur. Wenn er gerade niemanden zur Dialyse fährt, sucht er mit einer Metallsonde den Strand ab, erfindet Sprachen, kämpft für gefährdete Arten und ringt mit einer Schuld.
Um nicht vom Strom der eigenen Erinnerungen fortgerissen zu werden, müssen sich die drei auf sich selbst besinnen. Und aufeinander einlassen.
»Dass Hagena eine lange Indizienliste anführen kann, um diese literarische Entscheidung zu begründen, zeigt, wie skrupulös sie an ihrem Roman gearbeitet hat.«
Sie hat gehört, es gibt eine Sprache, die hat ein Wort für jene Stille, die eintritt, nachdem der Besuch gegangen ist. Arthur hat ihr davon erzählt, wer sonst.
Er sitzt vorne und fährt sie, wie fast jeden Tag, das kurze Stück zum Römischen Garten. Vielleicht gibt es auch eine Sprache mit einem Wort für die Stille, nachdem man ausgeatmet hat.
Oder für die Stille, nachdem eine Geschichte zu Ende ist.
Oder bevor sie beginnt.
Als Luzie eben ging, hat sie die Tür zu Margrits Zimmer lautlos zugezogen. Jedenfalls konnte Margrit kein Geräusch vernehmen.
Wie es wohl sein wird, wenn sie gar nichts mehr hört. Eine weite Stille wie in einer leeren Kathedrale? Oder eng und muffig wie der fensterlose Hauswirtschaftsraum, in den sich Frau Lange letzte Woche zurückzog, um in Ruhe zu sterben, wie sie ihnen hinterher erklärte?
Oder wird am Ende doch die ganze Zeit irgendetwas brummen, rauschen oder fiepen, so wie jetzt gerade?
Fast taub, hat die Ärztin gesagt. Doch in Wirklichkeit kommt es ihr so vor, als hörte sie mehr als früher, wenngleich gedämpfter. Nicht nur das, was gesprochen wird, sondern auch alle gemurmelten Selbstgespräche und Stoßgebete, alle Seufzer und unterdrückten Schreie, alle irgendwann einmal geäußerten Wünsche und Verwünschungen, ihre eigenen eingeschlossen, alles, was im Hellen weggeredet und im Schlaf ausgeplaudert wird, gelüftete und ungelüftete Geheimnisse, alle Schichten aller Geschichten.
So viel auf einmal rauscht bisweilen auf sie ein, dass sie die einzelnen Stimmen nicht auseinanderhalten kann und erst recht nicht mitbekommt, wenn jemand das Wort an sie richtet.
Irgendwann jedoch, bald wahrscheinlich, wird die ganz große Stille eintreten, fast kann sie sie schon hören.
Natürlich hat sie Angst. Doch sie ist auch gespannt.
Außerdem ist es besser, die Stille der Schattenwelt kommt, bevor sie anfängt sich zu wiederholen.
Es gibt aber noch so viel zu sagen.
Der Tod liebt Geschichten, er wird sich auch diese noch anhören wollen, sie ist sich sicher.
Sie hat winzige fleischfarbene Hörgeräte, die aussehen wie jene kleinen rosa Gummischweinchen, von denen manchmal eines in Frieders Eis war, sie steckten ganz unten in dem silbernen Eiskelch, der so spitz zulief, dass man den Stiel des langen Eislöffels nehmen musste, um das verkantete Gummitierchen herauszuhebeln. Oft kam es aber auch schon mit lautem Schlürfen und leichtem Kippen heraus. Wenn sie Frieder dann streng ansah, behauptete er, man müsse selbst zu einem Ferkel werden, um das Schweinchen zu gewinnen.
Großer Glücksbecher, so hieß das Eis. Es war riesig und rosarot, Erdbeer, Himbeer und Früchte des Waldes. Die Sahnehaube lief oben spitz zu wie ein barocker Kirchturm, aber mit scharfen Graten, von denen die Himbeersoße zäh herabtroff. Man konnte jedoch nie sicher sein, ob ein Schweinchen drin war oder nicht.
Glück musste man haben.
Sie sieht, wie Arthur den Kopf hebt und sie im Rückspiegel mustert. Anscheinend hat sie das gerade laut gesagt.
- Ja, Glück, sagt sie noch einmal mit Nachdruck. Arthur schweigt, der Bus fährt etwas über Schritttempo.
Im Allgemeinen aß Frieder recht schnell, doch dieses Eis löffelte er in solch hingebungsvoller Langsamkeit, dass es auf dem Weg zum Mund schon fast geschmolzen war. Sie hielt es kaum aus, ihm dabei zuzuschauen.
Später richtete sie es so ein, dass er mittwochs nachmittags immer einen Großen Glücksbecher bekam, manchmal sogar zwei, und sie konnte in der Zeit Cornelius einen Hausbesuch abstatten. Mama muss arbeiten, sagte Frieder zur Eisverkäuferin, mit der er schwatzte, wenn Margrit sich verspätete. »Frau Fortuna« stand auf dem Namensschild an ihrem Kittel, wahrscheinlich ein Künstlername. Frau Fortuna entschied darüber, wer Schwein hatte und wer nicht. Vielleicht war es ja doch ihr richtiger Name.
Margrit gab Stunden.
Jeden Mittwoch um fünf. Stimmbildung und Atemübungen, das unterrichtete sie. Die meisten ihrer Patienten kamen mit Krankenschein, aber nicht alle. Die Mittwochsstunde mit dem Dirigenten Cornelius Fischer war privat.
Eine Luftstunde.
Langsames Atmen, Luftanhalten, den Bewegungen des Zwerchfells mit den Händen nachspüren, er bei ihr, sie bei ihm, einengende Kleidung ablegen, Aufwärmen, schnelles Atmen, Erweiterung der Zungenkapazität durch Küssen, Beckenboden anspannen, Diaphragma, noch schnelleres Atmen, Herauskitzeln der Brustspitzentöne, schließlich Ausatmung, Luftholen, ein - gehauchtes - Adieu, und hinaus. Die Haare richtete sie sich danach im Schaufenster der Bäckerei.
Die Eisdiele war quer über die Straße. Sie hätte von Cornelius' Wohnung aus Frieder sehen können, hätte also gemerkt, wenn er weggegangen wäre. Aber natürlich hat sie nie aus dem Fenster geschaut. Er hätte sie ja auch sehen können. Er kannte das Fenster. Sie hatte es ihm von unten aus gezeigt.
Dass Cornelius jetzt auch hier wohnt, ist komplizierter, als sie dachte. Als er sie in der letzten Weihnachtskarte fragte, ob dies ein gutes Haus sei, antwortete sie nicht. Das hatte Zeit bis zu ihrer nächsten Weihnachtskarte. Er wählte das Wort »Haus«, nicht »Heim«, so wie man über Konzerthäuser und Opernhäuser spricht. Ist diese Seniorenresidenz ein A-Haus oder doch nur ein B-Haus? Wahrscheinlich B.
Aber er hat recht, es ist kein Heim, wenn es nur Mieter und keine Patienten gibt. Cornelius ist jetzt einer von ihnen. Er hat sie schon gefragt, ob sie noch »praktiziert«. Was glaubt er denn? Möchte er nach über einem halben Jahrhundert dort weitermachen, wo sie einst aufgehört hatten? Die Vorstellung ist grotesk. Aber auch schmeichelhaft. Und schmerzlich.
Sie sind beide uralt. Von morschen Knochen hängt fauliges Fleisch, notdürftig zusammengehalten von dünner Haut und dickem Blut. Sie würden es wahrscheinlich beide nicht überleben. Ein Liebestod, er kann ja eine Oper darüber schreiben.
Aber vielleicht möchte er wirklich Atemübungen machen. Das wäre mal etwas Neues.
Damals jedenfalls war Frieder nach mehreren aufeinanderfolgenden Glücksbecher-Mittwochen Stammgast in der Eisdiele, und das rosa Schweinchen wartete im Eisesdunkel wie ein Geheimnis, das danach drängt, gelüftet zu werden. Sicher hatte Frau Fortuna Mitleid mit ihm. Bei der Mutter.
Ob Frieder immer noch so langsam Eis isst?
Sie muss ihn fragen. Sie hat ein Heft, in das sie die Fragen einträgt, die sie ihm stellen, und Erlebnisse und Gedanken, die sie ihm erzählen möchte. Sonst vergisst sie alles bis zum nächsten Anruf. Schon zwei Jahre hat sie ihn nicht gesehen.
Aber Luzie ist hier und spricht manchmal mit ihm am Bildschirm, er ist ihr wahrscheinlich ein besserer Vater, als sie ihm eine Mutter war.
Wenn Luzie ihn von Margrits Wohnung aus anruft, setzt sie sich dazu, aber wirklich sprechen kann man so nicht. Sie ist abgelenkt von ihrem eigenen Bild. Jedes Mal kann sie zunächst nicht glauben, dass sie das sein soll, aber schließlich erkennt sie sich doch, und das ist der schlimmste Moment. Dass sich die reichen Leute in Amerika einfrieren lassen, wenn sie alt sind, versteht sie trotzdem nicht. Wenn man sich unbedingt einfrieren lassen möchte, dann doch mit Mitte zwanzig.
Und ob Frieder auch noch immer so gerne Eis isst?
Luzie wird es wissen. In Australien ist es ja so heiß. Andererseits achtet Frieders neue Frau sehr auf die Ernährung. Luzie sagt, das tun alle zweiten Frauen. Mit der ersten Familie machen die Väter alles falsch und mit der zweiten alles richtig. Aber Frieder hatte gar nicht so viel Zeit, etwas falsch zu machen. Barbara, also Brisko, wie sie sich jetzt nennt, war schon vorher weg. Trotzdem ist Margrit grundsätzlich auf der Seite der Erstfrauen. Vielleicht weil sie selbst auch viel falsch gemacht hat.
Frieder sah beim letzten Mal auf dem Computer etwas schmaler aus. Aber auch müder. Den eigenen Verfall zu beobachten, ist die eine Sache, Zeugin des Verfalls des eigenen Kindes zu sein, bricht einem das Herz. Sie wäre gern tot, bevor Frieder richtig alt ist. Undenkbar, nach ihm zu sterben. Wirklich, sie kann es nicht denken.
Luzie geht es zum Glück wieder besser, letztes Jahr war sie nicht gut beieinander, das konnte Margrit sehen, aber Frieder hat ihr nicht gesagt, was los war. Nur Brisko hat ein paar Andeutungen gemacht.
Luzie wird wissen, ob ihr Vater noch Eis essen darf. Sie weiß wahrscheinlich mehr über ihn als er über sich selbst. Sie ist klug, ihre Luzie. Doch dann geht sie hin und meldet sich von der Schule ab. Zwei Tage nach ihrem achtzehnten Geburtstag. Kurz vor dem Abitur. Einfach so. Und ohne jemandem zu sagen, warum. Ein paar Wochen hat sie es für sich behalten, ist morgens mit ihrer Tasche losgegangen, wie eine dieser Arbeitslosen, die den Tag im Shoppingcenter absitzen. Doch letzte Woche brach sie plötzlich in Tränen aus, und Margrit konnte ihr mühsam ein paar Fetzen Wahrheit entreißen.
Natürlich war das ein Schreck.
Aber ihr Schreck war nicht so groß wie der einer Mutter, nur wie der einer Großmutter (vom Wort her müsste es genau anders herum sein. Darüber möchte sie bei Gelegenheit mit Arthur sprechen, aber jetzt ist sie zu müde).
Und natürlich hat sie versucht, mehr zu erfahren, aber Luzie wischte sich das Gesicht mit den Händen ab und schüttelte den Kopf. Margrit bekommt Angst, wenn sie zu lange darüber nachdenkt. So vieles im Leben eines jungen Menschen kann schiefgehen. Es grenzt an ein Wunder, wenn nur die Hälfte von allem so läuft, wie es soll. Als sie jung war, hielt sie alles, was gut war, für normal, trotz des Kriegs und der Nachkriegszeit. Das Schlechte war das Unnormale. Nun, da sie alt ist, ist es genau...
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