Schweitzer Fachinformationen
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Es war an einem Dienstagabend im September gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig, als ein unspektakuläres »Pling« Harmony Schlüter-Hansen unbarmherzig zurückschleuderte auf den harten Boden der Tatsachen. Äußerlich unbewegt stand sie vor der englischen Vintage-Kommode auf dem Flur, zwischen Badezimmer und Schlafzimmer, und starrte auf die Nachricht, die eben auf dem matt glänzenden Display des iPad mini aufgepoppt war. Eines iPads, das nicht ihr gehörte. Sondern Mo. Dem Mann, dessen Name an ihrer Tür und dessen Zahnbürste in ihrem Badezimmer stand. In ihrer Wohnung. Sie war nicht sicher, ob ihr das auch das Recht gab, seine Nachrichten zu lesen. Sie hätte nie heimlich seinen Posteingang durchsucht. Aber eine Message, die ihr derart aufdringlich ins Gesicht sprang? Gegen die war sie machtlos.
Sie starrte darauf wie ein hypnotisiertes Wild angesichts näher kommender Scheinwerferlichter und wartete darauf, dass jetzt noch irgendetwas passierte, etwas, das besser zu ihrem Zustand passte als der leise Ton, mit dem der Computer die Ankunft einer neuen Facebook-Nachricht ankündigte. Wenigstens eine Sirene wäre jetzt angemessen gewesen oder ein Hardrock-Riff aus den Achtzigern. Aber wie zum Hohn blieb es um sie herum ganz still, bis auf das tiefe Singen in den Wasserleitungen, das genauso zur normalen Geräuschkulisse in ihrem Eppendorfer Altbau gehörte wie der Hall von Schritten in den minimalistisch möblierten Räumen.
Noch einmal las sie die Nachricht auf Mos Tablet, aber es konnte keinen Zweifel geben. Es waren nicht die Worte selbst, die hätten sie nicht misstrauisch gemacht. Es war die Uhrzeit. Eine Frau, die um kurz vor Mitternacht eine solche Nachricht verschickte, bedeutete Gefahr. Alarmstufe orange, mindestens.
Nur einen winzigen Augenblick später begann in ihrem Kopf ein Film abzulaufen, und während sie noch immer wie festgefroren im Flur stand, mit unbewegter Miene, auch weil sie eine sauteure Gesichtsmaske mit Hyaluronsäure aufgetragen hatte, dachte sie: irgendwie logisch. Auch im Augenblick des Todes, so sagte man ja, blitzten noch einmal im Zeitraffer die Highlights des eigenen Lebens auf wie bei einer zu schnell eingestellten PowerPoint-Präsentation. Dann war es nicht minder stimmig, wenn das auch in Momenten passierte, in denen auf brutale Weise etwas zu Ende ging. Und dass dies hier ein solcher Moment war, daran gab es keinen Zweifel. In diesen Dingen konnte sich Harmony felsenfest auf ihren Instinkt verlassen, auf ein Bauchgefühl, das so zuverlässig war wie eine Atomuhr.
Harmony starrte weiter blicklos auf das Display und ließ die Bilderflut vor dem inneren Auge über sich ergehen. Den Liebesfilm ihres Lebens. Da musste sie jetzt wohl durch, auch wenn es mit Sicherheit nicht gesund war, jetzt diese schönen Szenen vorgeführt zu bekommen wie auf einer Großleinwand. Mo und sie damals an der Bar bei »Da Matteo«, Mo und sie unter dicken blau-weiß karierten Federbetten mit Blick auf den Hafen von Hörnum auf Sylt, Mo und sie am ersten Abend in ihrer Wohnung, unter der Regenwasserdusche zwischen den dunklen Marmorwänden.
Dann noch ein ganz altes Bild, beinahe schwarz-weiß. Der Abend, nachdem der Verleger sie gefragt hatte, ob sie die Chefredaktion des Style-Magazins übernehmen wollte. Wie sie spätabends über regenglänzendes Kopfsteinpflaster gelaufen war, hin zu Mos abgerocktem Apartment in St. Georg. Mo, der damals noch nicht ihr Lebensabschnittsgefährte gewesen war, nicht ihr Partner oder wie die Ausdrücke alle hießen in einem Alter, in dem »Freund« endgültig zu sehr nach »Bravo Girl« klang. Nein, damals war Mo noch ihr Lover gewesen. Ihr junger Lover. Keine Brille, kein Bauch, keine Geheimratsecken. Vor allem das. Volle Haare waren fast das wichtigste Körperteil bei einem Mann.
Sie konnte sich selbst sehen, wie sie die abgelaufenen Treppenstufen hochstolperte, durch Knoblauchdunst und Putzmittelgestank hindurch, und wie verblüfft er in seiner Wohnungstür stand, grünen Zahnpastaschaum vor dem Mund, das unternehmungslustige Funkeln in seinen Augen. Tief hängende Jeans und nackte Füße. Aus irgendeinem Grund war diese Kombi für Harmony schon immer der Inbegriff männlicher Sexyness gewesen. Und es gab nicht viele Männer, die das so selbstverständlich tragen konnten wie Mo.
Dann wurde der Film gnädigerweise endlich abgeblendet. Was danach passiert war, wäre zu schmerzlich gewesen, zu schön, zu kostbar, um es jetzt anzurühren. Auch das war so ein Augenblick gewesen, in dem sie instinktsicher gewusst hatte: Mo und sie gehörten zusammen. Auch wenn eine realistische Seite in ihr immer unbarmherzig darauf bestanden hatte, dass ihr Duo-Auftritt eine befristete Veranstaltung war, ein Zeitvertrag, eine Liebe mit Sollbruchstelle. Was die Leidenschaft nur intensiver gemacht hatte und dem Genuss eine gewisse tragische Note gegeben hatte, wie ein schweres Abendparfüm an einem Frühlingsmorgen.
Harmony wusste, dass diese tragische Note ihr stand, sie verlieh ihr eine gewisse Grandezza. Nie hatte sie mehr Komplimente für ihr Aussehen bekommen als in den vergangenen fünf Jahren. Obwohl sie gerade vierzig geworden war, damals, als Mo und sie sich verliebten. Dabei hatte sie nicht einmal etwas machen lassen, anders als die meisten Chefredakteurinnen artverwandter Modemagazine. Na gut, ein paar Filler, gelegentlich eine homöopathische Dosis Botox. Aber das war ja heutzutage ähnlich normal wie regelmäßige professionelle Zahnreinigung.
Harmony wartete noch einen Moment, ob das unfreiwillige Kopfkino wirklich vorbei war. Dann fiel ihr die »Lust & Liebe«-Doppelseite ein, die die Jungredakteurin ihr heute auf den Server gestellt hatte. »Zehn Punkte, an denen Sie merken, dass er Sie betrügt (oder wenigstens mit dem Gedanken spielt.)« »Gar nicht so blöd, die Kleine«, hatte die Textchefin gönnerhaft kommentiert, und Harmony hatte ihr recht gegeben. Jetzt, ein paar Stunden später, gleich doppelt. Denn unversehens betraf das Thema sie selbst.
Statt der erwartbaren Merkmale (»Er riecht auffällig nach Duschgel, wenn er nach Feierabend nach Hause kommt«) hatte die Nachwuchs-Schreiberin wirklich originelle Ideen gehabt. Und, das musste Harmony zugeben, mit jeder Einzelnen ins Schwarze getroffen. Innerlich ging sie die Punkte durch. Plötzlich mehr Lust auf Sex mit der eigenen Frau? Harmony machte im Geist einen Haken. Wenn auch auf niedrigem Gesamtniveau, ergänzte sie. Erklärt besonders ausführlich seinen Tagesablauf? Exakt, dachte Harmony.
Eigentlich war Mo immer vage, was sein Abendprogramm anging, und Harmony hatte auch kein Bedürfnis nachzufragen. Seitdem sie ihm den Job als Restaurant- und Bartester für ein wichtiges Food-Magazin verschafft hatte, vor allem aber seitdem er mit seinem Restaurant-Blog im Netz bekannt geworden war, musste er häufig kurzfristige Reisen und Termine wahrnehmen. Harmony war es recht. Schließlich hatte sie selbst häufig geschäftliche Abendessen und war zufrieden, wenn Mo und sie sich irgendwann spätabends zu Hause trafen. Aber in den letzten Wochen erstattete er ihr jeden Morgen eifrig Bericht wie ein Schulkind, das seiner Mutter keine Sorgen bereiten möchte. Dabei konnte er umgekehrt sicher sein, dass sie ihn nicht kontrollierte. Sein Handy ortete, heimlich Quittungen überprüfte. So etwas hätte sie stillos gefunden. Vielleicht hielt er sie auch für zu unbedarft. Oder technisch zu uninformiert. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen.
Auch für morgen wusste sie genau Bescheid. Angeblich. Tagsüber flog er nach Bordeaux zu einer Weinverkostung, abends italienische Landküche bei »Da Matteo«, friends and family only. Letzteres stimmte jedenfalls, sie selbst hatte auch eine persönliche Einladung bekommen.
Nur bei Punkt zehn der Jungredakteurinnen-Liste war Mo offensichtlich nachlässig gewesen. »Besorgt sich entweder ein zweites Handy oder stellt die Push-Funktion aus, sodass neue E-Mails und Facebook-Nachrichten nicht mehr automatisch auf dem Display erscheinen.« Möglichkeit b: Er war seinerseits technisch so unbegabt, dass er an der Aufgabe gescheitert war.
Endlich gelang es Harmony, ihren Blick von den zwei Zeilen auf dem Display des iPads zu lösen. Stattdessen fixierte sie sich selbst, das maskenstarre Gesicht in dem Flurspiegel. Weiße, gipsartige Masse vom Kinn bis zur Stirn, ein weißes Frotteeband, das die Haare zurückhielt, ein weißer Bademantel. »Die Mumie III«. Sie versuchte, einen Fuß zu heben und ihre Beine ins Bad zu lenken, damit sie sich wenigstens diese Maske des Grauens aus dem Gesicht wischen konnte. Auch wenn die Hyaluronsäure ihren zellverjüngenden Effekt erst nach einer optimalen Wirkzeit von fünfundzwanzig Minuten entfalten würde. Egal. Das, was hier gerade passierte, würde Harmony ohnehin innerhalb kürzester Zeit um Jahre altern lassen. Dagegen half wahrscheinlich nicht einmal die neue Stammzellentherapie aus L. A., von der ihre Beauty-Chefin erzählt hatte. Bye-Bye, Happiness. Bye-Bye, Harmony.
Aber zunächst einmal musste sie feststellen, dass sie ein noch viel akuteres Problem hatte: Sie konnte sich nicht rühren. Ihre Beine...
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