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Der Juli, der sich dem Ende zuneigte, war extrem heiß gewesen. Über Wien hatten sich heftige Gewitter entladen und manche Donnerschläge, von Blitzen eher begleitet als angekündigt, das Haus in der Sternwartestraße regelrecht erzittern lassen. Nichts aber, wie auch, hatte den Schriftsteller auf das vorbereitet, was an diesem Tag über ihn hereinbrechen würde.
Er war am Morgen in guter Stimmung erwacht. Die Hitze hatte endlich nachgelassen, was ihm wohltat. Vor wenigen Wochen war er 66 geworden. Eine schöne, fast elegante Zahl, wie er fand, und er kam sich nicht wirklich alt vor, auch wenn sein Körper ihn bisweilen im Stich ließ, vor allem was das Gehör betraf, sein altes Leiden.
»Therese« schien in jeder Hinsicht ein Erfolg zu werden. Selbst sein Verleger Samuel Fischer äußerte sich nur in den höchsten Tönen über den Roman, fast freundschaftlich gab er sich neuerdings wieder am Telefon. Es wurde nachgedruckt, die Buchhändler waren beglückt, die Kritiker überraschend wohlwollend.
Dabei hatte er sich nie als Romanautor verstanden. Er war der Verfasser von Novellen, so kannte man ihn, und natürlich war er immer noch ein Dramatiker, auch wenn sich die Bühnen schon lange nicht mehr um seine Stücke rissen. Ein Mann, der schreibt, sagte er gern von sich. Kein Dichter. Am liebsten war ihm ohnehin sein Tagebuch. Da war er ganz bei sich, unbehelligt von Urteilen und Kritik. Seit Jahrzehnten hatte er kaum einen Tag ausgelassen. Vielleicht war das Tagebuch überhaupt sein wichtigstes Werk. Es sollte bewahrt und nach seinem Tod vollständig veröffentlicht werden, ohne jede Kürzung. So hatte er es im Testament verfügt. Bisweilen schien es ihm beim Schreiben, als würde er zu Freunden sprechen, die noch gar nicht geboren waren.
Ein Kollege, der in diesem Haus schon Gast gewesen war und wahrhaftig etwas vom Romanschreiben verstand, hatte auf die Übersendung des Widmungsexemplars überaus freundlich reagiert. »Therese« habe er in »inniger Lektüre in sich aufgenommen« und dabei die Konzeption des Romans sehr bewundert, das »Große, Einfache, durchaus Lebensgemäße«, ebenso die »dauernde Stille« und »tiefe Erschütterung durch das Menschliche«. Der gute Thomas Mann: fein formuliert war das und wie stets von ausgesuchter Höflichkeit.
Vor wenigen Tagen hatte ihm nach langer Zeit auch Hofmannsthal wieder einmal geschrieben, voll des Lobes über den Roman. Er, Hugo, war der wahre Dichter. Und ein wahrer Freund, auch wenn sie einander siezten und der andere um so vieles jünger war. Beglückend allein diese eine Formulierung: Dass sich in »Therese« die rhythmische Kraft zum Zauberhaften entfalte. Wie hätte man es schöner sagen können?
Und ein Brief seiner Tochter Lili aus Venedig lag auf dem Pult. »Wie immer in unangenehmen Lebenslagen lese ich Schnitzler«, hatte sie ihm geschrieben. Jetzt habe sie sich »Therese« noch einmal vorgenommen, »die ich beim ersten Mal zu flüchtig gelesen und beurteilt habe«. Dass die Tochter überhaupt die Bücher des eigenen Vaters zur Hand nahm, war ihm nie selbstverständlich gewesen. Und dass sie ihn, als wäre er ein fremder Autor, einfach Schnitzler nannte, amüsierte ihn. Jetzt finde sie den Roman wunderbar, hieß es im Brief, wieder habe sie feststellen müssen, wie wenig Spannung mit Überraschung zu tun habe. Er hatte natürlich gleich gespürt, dass Lili von »Therese«, der »Chronik eines Frauenlebens«, zunächst gar nicht begeistert gewesen war, dem Roman, in dem er auf Überraschungsmomente fast vollkommen verzichtet hatte.
Gedämpft wurde seine Freude freilich dadurch, dass sie ihn gleichzeitig um eine telegrafische Übersendung von immerhin 3000 Lire bat. Dringende Geldsorgen plagten sie wieder einmal: »Du ahnst nicht, wie nervös mich diese Sachen machen.« Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte sie ihm vorab sogar ein Telegramm geschickt: »bitte sende telegrafisch für bewusste causa lire dreitausend brief unterwegs dank innigst lili«.
Es gab Streitigkeiten mit dem Vermieter. Natürlich hatte er ihr umgehend das Geld angewiesen und einen väterlich-fürsorglichen Brief nach Venedig hinterhergeschickt. Er hoffte, dass Lili sich wegen der sechs handgeschriebenen Seiten nicht gegrämt hatte. Sowohl seiner Belehrung als auch seiner krakeligen Schrift wegen. Einen früheren Brief von ihm hatte sie einmal mit der Klage beantwortet, sie habe das meiste leider nicht entziffern können. Dabei schrieb sie selbst auch nicht gerade leserlich.
Er schaute vom Balkon hinunter in den Garten mit den Rosensträuchern, in dem vor vielen Jahren seine beiden Kinder gespielt hatten. Damals war die Sternwartestraße 71 noch belebt gewesen. Jetzt lag über allem, wie er es nannte, die Melancholie des leeren Hauses. Dabei war er die meiste Zeit über gar nicht allein. Die Hausdame hatte ihm schon das Frühstück bereitet, und gleich würde seine Sekretärin kommen, der er das sechste Bild seines Stücks »Zug der Schatten« diktieren wollte, an dem er nun schon anderthalb Jahre arbeitete. Sie, Frieda Pollak, zwanzig Jahre jünger als er, gehörte zur Familie, sie war eine gute Freundin und verlässliche Gesprächspartnerin geworden.
Später an diesem Donnerstag, nach dem Diktat, aßen sie, wie üblich, gemeinsam zu Mittag. Ganz selbstverständlich. Aber es war eben alles andere als das. Bei wem sonst hätte er solche Treue und Diskretion, solches Verständnis gefunden?
»Mein liebes Fräulein Frieda«, sagte er. Er nannte sie gern so. Und sie lachte dann. Das wusste er. Liebes Fräulein Frieda! So redete er sie auch an, wenn er einen Zettel mit Wünschen und Aufträgen hinterließ, bevor er auf Reisen ging. »Ich kann Ihnen nicht oft genug sagen, wie wohl mir Ihre Gegenwart tut, wie unentbehrlich Sie mir sind.«
»Ich höre es immer wieder gern«, sagte sie.
»Und das alles ohne Ärger, ohne jeden Streit«, sagte er. »Seit bald zwanzig Jahren. Ich kann mich gut daran erinnern, wie Sie sich hier vorstellten. Ich weiß sogar, wann das war: im September 1909, kurz vor Lilis Geburt. Damals wirkten Sie ein wenig schüchtern auf mich. Dafür voller Elan, das war gleich zu spüren.«
»Sie sind auch schon ein berühmter Schriftsteller gewesen, da darf man doch nervös sein, oder? Und ich habe mich so gefreut, als die Zusage kam. Na, Sie wissen's ja. Und dass Lili schon auf der Welt war, als ich bei Ihnen anfing«, sagte Frieda Pollak. »Die Kleine ist mir gleich ans Herz gewachsen.«
»Und umgekehrt. Die kleine Lili hat Sie Kolap genannt, kaum dass sie die ersten Worte sprechen konnte. Kam gleich nach Mama und Papa.«
»Nicht nur sie hat mich so genannt.«
Da musste er lächeln. Auch in seinen Tagebüchern hieß sie so. Kolap, dabei war es geblieben. Sie wusste ohnehin alles. Es gab keine Geheimnisse vor ihr. Ihr diktierte er ohne Bedenken das Privateste. Sie, die Verlässliche und Vertraute, konnte auch seine Handschrift entziffern, was ihm selbst zunehmend schwerfiel. Und sie wusste darüber Bescheid, wie mit dem Nachlass, allem voran seinen Tagebüchern, zu verfahren sein würde. Sogar als Vermittlerin hatte sie sich versucht, zwischen Olga und ihm, als die Ehe endgültig in die Phase der Agonie getreten war.
Frieda Pollak war damals die Erste gewesen, der er sich anvertraut und mit der er über die zunehmende Unerträglichkeit seiner Ehe gesprochen hatte. Sie gab ihm zu seiner Erleichterung zu verstehen, dass sie, die ja ohnehin alles aus der Nähe beobachtet hatte, ihn gut verstand und ganz auf seiner Seite war. Glücklicherweise war sie für ihn als Frau stets ohne Reiz gewesen, was die Glaubwürdigkeit ihrer Bemühungen zur Rettung der Ehe erhöht hatte. Auch wenn am Ende alles vergebens war.
Seit sieben Jahren waren Olga und er geschieden. Olgas Ausbruch war in Wirklichkeit keiner gewesen, lange vorbereitet zwar, doch am Ende unbedacht. Sie hatte, das sah sie bald ein, alles verloren: den Platz an seiner Seite und die Nähe zu der damals gerade elf Jahre alten Lili, am Ende wohl auch die Hoffnung, mit einem anderen Mann besser zurechtzukommen oder überhaupt ihren eigenen Weg zu gehen - ob als Sängerin oder Geschäftsfrau. Er wusste, dass sie es bitter bereute, all die Jahre schon. Sie selbst hatte es ihm mehr als einmal gesagt. Sogar gefleht hatte sie, wieder an seinem Leben teilhaben zu dürfen. Und an ihrem 46. Geburtstag, Anfang des Jahres, hatte sie ihm mit Altersangst und ihrem Gefühl der Heimatlosigkeit in den Ohren gelegen. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und betrachtete sich doch schon, gegen jede Vernunft, als alternde Frau.
Abgerissen aber war die Verbindung zwischen ihnen nie, auch wenn sie nun in verschiedenen Städten lebten. Vorgestern erst war wieder Post aus Berlin gekommen: einer jener Briefe, wie nur sie sie zu schreiben verstand, ein großartiger Brief, der ihn ganz ergriffen hatte. Niemand konnte an Olga heranreichen, wenn es darum ging, ihn zu packen, anzuspornen, mit kluger Kritik wesentlich zum Gelingen seiner Werke beizutragen. Oder ihn gründlich zu verärgern, was ihr regelmäßig gelang. Und wieder musste er feststellen, wie großartig sie zu formulieren wusste, sobald es nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Ähnlich wie bei ihrem Gesang: Wunderschön kam ihre Stimme immer dann zur Geltung, wenn sie im kleinen Kreis vortrug, etwa wenn er sie hier im Haus auf dem Klavier begleitet hatte.
»Lili gehört hierher, nach Wien«, sagte die Sekretärin. »Ich weiß doch, wie sie Ihnen fehlt.«
»Und nun ist sie schon seit mehr als einem Jahr verheiratet«, sagte er. »Und so weit weg.«
Seine Tochter, sie war bei der Hochzeit noch keine 18 gewesen. Und ihr Mann, der Italiener: 20 Jahre älter. Ein...
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