Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Wege, die wir in unserem täglichen Leben draußen zurücklegen, sind gesäumt von zahllosen Dingen, denen wir wenig Beachtung schenken. Sie gehören zur Ausstattung unseres Lebensraumes. Nehmen wir als Beispiel einen alten, krumm gewachsenen Baum, an dem wir auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen häufig vorbeifahren. Ein Apfelbaum, der dort vielleicht schon seit 100 Jahren steht. Seitdem wir denken können, sehen wir ihn im Frühjahr weißrosa blühen. Im Sommer fallen uns die unzähligen kleinen grünen Kugeln auf, die an ihm hängen. Später, im Herbst, prangen Hunderte farbenfrohe Äpfel an seinen knorrigen Ästen, und man möchte am liebsten anhalten und einen davon pflücken und reinbeißen; so rotbackig und appetitlich, wie sie da hängen. Das Jahr schreitet voran, und der alte Baum bekommt buntes Laub. Die Vielfalt der Farben, die jetzt auftauchen, ist noch größer! Neben unzähligen Grün- und Rottönen kommen auch Orange und Violett in allen möglichen Nuancen zum Vorschein. Worüber wir uns angesichts dieses Kaleidoskops meist keine Gedanken machen, ist der Grund für die herbstliche Farbenpracht. Wie viele andere Baumarten auch zieht der Apfel das wertvolle, aufwendig von ihm produzierte Chlorophyll aus den Blättern ab, bevor er sie abstößt. Übrig bleiben einfacher herzustellende Karotinoide und Anthocyane, die als Schutz für das Blatt vor den ultravioletten Anteilen der Sonnenstrahlen dienen und jetzt für die Herbstfärbung des Laubes verantwortlich sind. Mit den ersten Frösten werden sie samt Blatt abgeworfen und vergehen im Falllaub. Die Herbstfarben waren also die ganze Zeit da, aber wir konnten sie wegen des dominanten Blattgrüns nicht sehen. Eines der unzähligen kleinen Naturwunder am Wegesrand. Wenn unser Apfelbaum im nächsten Frühjahr schließlich neu austreibt, wiederholt sich das Wechselspiel der Farben. Wenn er denn neu austreibt.
Eines Tages liegt der alte Baum in Stücke gesägt am Boden. Die Blätter welk, die Äste abgebrochen und wie hilflos ins Leere greifende Arme in die Höhe gereckt. Wir fahren an ihm vorbei, und uns beschleicht das traurige Gefühl, etwas verloren zu haben. Für diese Art subtiler Trauer ist nicht der Verstand verantwortlich, mit dessen Hilfe man sich zuvor vielleicht für den Erhalt des alten Baums eingesetzt hätte. Da fiele einem einiges ein! Etwa dass so ein Baum Insekten und Singvögeln einen wertvollen Lebensraum bietet. Oder dass man Respekt haben sollte vor einem Geschöpf, das vielleicht viel älter ist als jede(r) Einzelne von uns. Auch dass der Baum mit seiner rosa-weißen Blütenpracht, dem Behang aus rotbackigen Äpfeln oder dem violett-orangen Herbstlaub einfach schön ist, wäre ein Argument. Dann vielleicht noch, dass er eine Verbindung zur Geschichte darstellt, weil er uns daran erinnert, dass die Lebensmittel aus der Region einmal unsere Lebensgrundlage waren. Uns missfällt das Sterben der vertrauten Baumgestalt aber nicht, weil wir ökologische oder gesellschaftliche Konsequenzen befürchten. Es missfällt uns, weil es hier geschieht. Unsere Heimat ist so ein klein wenig ärmer geworden.
Was ist Heimat überhaupt? Der Ausdruck steckt in Begriffen wie »Heimatliebe«, »Heimatabend« und »Heimattümelei«. In Deutschland gibt es nach Zahlen des Instituts für Museumsforschung mehr als 2800 Volks- und Heimatkundemuseen, die meisten davon in Baden-Württemberg, gefolgt von Bayern. Das ist fast die Hälfte aller Museen im Land! Diese erstaunliche Zahl verrät zweierlei. Zum einen belegt sie, dass sich die Heimat fortlaufend verändert und es einen Bedarf gibt, das Alte, Verschwindende zu dokumentieren und exemplarisch zu erhalten. Zum anderen gibt es offensichtlich viele verschiedene Arten von Heimat. Ansonsten würde ja am Ende ein einziges Deutsches Heimatmuseum genügen. Heimat ist vielen von uns also irgendwie wichtig. Was aber noch nicht erklärt, was eine Heimat genau ist und wo das Gefühl für sie herkommt.
Hirnforscher sagen, dass das Heimatgefühl nicht mehr und nicht weniger ist als ein »Engramm«, eine Inschrift im Kopf. Alles, was wir erleben, was wir sehen, hören oder riechen, bewirkt nämlich Strukturänderungen in unserem Gehirn. Es hinterlässt Gedächtnisspuren, die sich im Nachhinein abrufen lassen. Den Ort, an dem wir heimisch sind, nehmen wir besonders oft und als besonders wichtig wahr. Die »Heimat« besteht genau genommen aus unzähligen Engrammen, die wiederum zusammen mit Millionen und Milliarden anderer Inschriften unser Gedächtnis darstellen. Auch der alte Apfelbaum am Wegrand ist unzählige Male in unseren grauen Zellen abgespeichert worden. Blühend, fruchtend, im Herbstkleid, winterkahl. Je mehr Engramme im Gehirn eingeschrieben werden und je öfter wir sie abrufen, desto stärker ist etwas verankert. Je schöner und emotionaler die Umstände eines Erlebens sind, umso nachhaltiger wird es als Erinnerungspfad im Gehirn abgelegt. Besonders leicht und tief prägen sich bei Kindern die meist positiv besetzten Erfahrungen in der heimatlichen Umgebung ein. Was aber nicht heißt, dass es nur darauf ankommt. Bereits das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm definierte 1877 Heimat als »das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat«. Man legte also Wert auf die Feststellung, dass man eine Heimat auch aktiv annehmen kann. Eine vergleichsweise moderne Definition. In der Folgezeit wurde der Heimatbegriff zu oft untrennbar mit dem Ort verknüpft, an dem man geboren wurde. Die Zeiten, in denen »Heimat« politisch missbraucht wurde, sind hinlänglich bekannt. Die modernen Sozialwissenschaften gehen davon aus, dass man sich seine Heimat suchen kann. Wer lange an einem Ort lebt, sich dort gut zurechtfindet und sich wohlfühlt, entwickelt in der Regel auch ein Heimatgefühl. Ob da nun alte Apfelbäume stehen oder betagte Palmen.
Ein Bekannter ist vor einem halben Jahrhundert nach Australien ausgewandert. Gunther lebt bei Brisbane, im Osten des riesigen Landes, und beschäftigt sich intensiv mit den Fischen und Reptilien seiner Wahl-Heimat. Ich konnte ihn dort mehrmals besuchen, und unsere gemeinsamen »Bushing«-Touren durch das australische Outback habe ich als spektakulär in Erinnerung. Nie mehr in meinem Leben bin ich so vielen apart gezeichneten Geckoarten in so kurzer Zeit begegnet. Gunther hat schon Tierarten entdeckt, die der Wissenschaft zuvor unbekannt waren, und viele Spezies zum ersten Mal fotografiert und über sie in Aufsätzen und Büchern veröffentlicht. Er liebt die Reptilien seines Landes, und für ihn ist die australische Wasseragame vielleicht das, was für mich die Zauneidechse ist. Ein heimisches Tier, dem man gelegentlich begegnet und das jedes Mal das Herz höher schlagen lässt. Beide Echsenarten gehören für uns zur Ausstattung unserer jeweiligen Lebenswelten, sind Bestandteile unserer jeweiligen Heimat. Mein Bekannter von »Down Under« ebenso wie ich hier in Deutschland - beide würden wir uns jederzeit für »unsere« Echse einsetzen, sollte ihr Vorkommen bedroht sein. Gunther spricht noch Deutsch und interessiert sich für Deutschland. Er würde aber wohl keine Sekunde zögern, Australien (und Queensland und Brisbane) als seine Heimat zu bezeichnen. Bei mir ist es Deutschland (und Bayern und das Isental). Trotz Altersunterschied ticken er und ich ganz ähnlich. Wir beide knüpfen den Heimatbegriff im Kern nicht an den Geburtsort, aber dennoch an geografische Koordinaten. Heimat ist der Platz, an dem wir schon immer - oder eben ab irgendwann zu Hause waren. Es ist auch die Sprache, die wir täglich sprechen, und es sind die Gesetze, die unser Miteinander (und das Miteinander von Mensch und Natur) regeln. Wohl jeder Mensch kann, ohne lange darüber nachzudenken, sagen, wo seine Heimat ist. Für die meisten hat sie einen unbedingten Ortsbezug, und dazu gehört auch die Natur. Nun könnte man meinen, dass das nur gilt, wenn man draußen, auf dem Land wohnt. Dem ist aber keineswegs so! Sowieso dürften die meisten von uns die Grenzen der Heimat weit außerhalb der Ansiedlung ziehen, in der sie leben. Auch dann, wenn es sich um eine sehr große Ansiedlung, also eine Stadt, handelt. Dank Industriebrachen, Parks und Baustellen haben Großstädte heute ohnehin oft mehr Artenvielfalt zu bieten, als es die Kulturlandschaft vor den Toren der Stadt tut. Natur, so viel steht fest, gibt es überall!
Was genau »Natur« wiederum ist, darüber diskutieren Naturwissenschaftler und Philosophen seit der Antike. Klar ist, dass der Begriff impliziert, etwas sei nicht menschengemacht. Wobei die Abgrenzung natürlich dennoch schwammig ist. Ein Kartoffelacker ist selbstredend Menschenwerk. Die Vorfahren der Kartoffelpflanze mit ihren komplexen Stoffwechselvorgängen, die Regenwürmer und Bakterien im Boden und der Regen, der die Pflanzen mit den unterirdischen Stärkeknollen versorgt, sind es nicht. Wohl deswegen bezeichnen wir gerne alles jenseits der Stadtgrenze als Natur. Ganz falsch ist das ja auch nicht. Würde man nur Natur nennen, was in gar keiner Weise vom Homo sapiens beeinflusst wurde, bräuchten wir den Begriff kaum noch. Ursprüngliche, zudem großflächige Natur existiert hierzulande schlechterdings nicht mehr. Für unsere Zwecke ist also ein pragmatischer Naturbegriff sinnvoll. Denn die Kräfte der Evolution wirken überall, und die Umwelt, in der wir unsere Heimat haben, ist ohne unser Zutun entstanden: Die Landschaft ist entweder eben oder hügelig, vielleicht gebirgig. Das Klima ist mild oder rau, feucht oder trocken. Je nachdem gibt es mehr Nadel- oder mehr Laubbäume. In Senken und Tälern glitzern Seen und Tümpel oder auch rauschende Bäche. Der Boden ist gelblich, rötlich oder schwarz - je nach Entstehungsgeschichte und Zusammensetzung....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.