Odde (Hardanger)
Nach sechsstündiger Fahrt nordostwärts biegt der Fjord plötzlich steil nach Süden und nach weitern zwei Stunden liegt an seinem Ende Odde vor unsern Augen. Die Aehnlichkeit der Szenerie mit dem Urnersee ist hier eine ganz auffällige; sogar die Axenstraße fehlt nicht; der Hauptunterschied besteht in der enormen Ausdehnung der hiesigen Landschaft und dem Reichtum der prächtigen Wasserfälle, welche aus höchster Höhe der firngekrönten Felswände herniederstürzen, oft sich vielfach teilen, wieder vereinigen, in Staub aufwirbeln und schließlich als klarer grüner Bergstrom im Spiegel des Fjord aufgehen.
Böllerschüsse ertönen, widerhallen mächtig an den Gebirgswänden und kehren nach einer halben Minute noch als kräftiges Echo zurück. Die Flagge wird aufgezogen; die Ankerkette rasselt; alles ist auf Deck, um die schöne Welt zu sehen. - Die Kapelle grüßt das nordische Land mit seiner Nationalhymne.
Drei Stunden später - 10 Uhr abends, aber bei noch hellstem Tageslichte - lief ein mit englischen Touristen gefüllter Dampfer ein, die von Cook gecharterte "Midnightsun", eine Schnecke im Vergleich zu unserm stolzen Schnellfahrer. Wir hatten sie nachmittags 4 Uhr beim Maurangerfjord - einem der vielen malerischen Nebenarme des Hardangerfjords - überholt und sie dann rasch aus den Augen verloren. Es ist dasselbe mehr als mittelmäßige Schiff, auf welchem Cook im Frühjahr seine Touristen zum Kaiserbesuch in Jerusalem geführt hat und an dessen Bord Buchhändler Kober aus Basel im Hafen von Alexandrien gestorben ist.
Die verschiedenen kleinen Landausflüge, welche in der knapp zubemessenen Zeit möglich waren, hatte die Reisefirma Beyer in Bergen sorgfältig vorbereitet; ein Vertreter befand sich schon von Hamburg her an Bord, und die Mehrzahl der Passagiere - wohl über 300 - hatte sich durch Bezahlung einer Pauschalsumme von 60 Mark das Recht gesichert, ohne eigene Mühe an die sehenswerten Punkte befördert zu werden. Wir zogen vor, auf eigene Faust zu schwärmen, zu laufen oder zu fahren, wie und wann es uns beliebte, und haben es nicht bereut.
So begaben wir uns dann andern Morgens im herrlichsten Sonnenschein ans Land und besahen uns das kleine freundliche Städtchen, dessen Kirche und Häuser wie überall in Norwegen aus Holzriegeln aufgebaut und mit einer Art Krallengetäfer eingekleidet und hübsch bemalt sind. Kaum ein Fenster ohne saubere Vorhänge und freundlichen Blumenschmuck. Deutsch wird nirgends gesprochen, wohl aber englisch, namentlich auch von Kutschern und Blumen offerierenden Kindern, und jeder Fremdling wird von vorneherein als Sohn Albions betrachtet.
Das Ziel unseres Ausfluges bildet Buarbrae, der östliche Abfall eines 36 Kilometer langen und 6-15 Kilometer breiten Firngletschers von seltener Schönheit und Reinheit, weil keine überragenden Gebirge durch Verwitterung seine Oberfläche verunreinigen. Eine gute Straße führt von Odde zirka 25 Minuten weit in sanfter Steigung in die Höhe; nebenan stürzt ein Bergstrom in malerischen Fällen zu Thal; auch wo er kleine Strecken ruhiger läuft, ist sein Wasser ein weißer Gischt, und man begreift sehr gut, daß Lieutenant Hahnke, der Begleiter des deutschen Kaisers auf seiner letzten Nordlandsfahrt, absolut verloren war, als er auf seinem Velo in diesen wilden Strom stürzte.
Der Rückblick auf Odde und den zu Füßen liegenden Fjord ist entzückend. Die Vegetation zeigt lauter alte Bekannte; wo der Boden bebaut ist, trägt er Kartoffeln und Gerste, auch Gemüse mancher Art. Die Straße führt aber großenteils durch Weiden; das Gras wird mit einer sichelartigen, nur mit der rechten Hand geführten Sense geschnitten und dann an zu diesem Zwecke erstellten Holzhecken aufgehängt und gedörrt. Das Heu duftete auffallend aromatisch. Von Blumen erfreuten uns am meisten zahllose wilde Rosen, die in großen Büschen am Wege stunden, sowie besonders farbenschöne und zahlreiche Exemplare von purpurrotem Fingerhut. Auch Stein- und Kernobstbäume sind vorhanden. Birken und Buchen und massenhafte Wachholderbüsche bringen Abwechslung in das Naturgemälde.
Buarbrae.
Auf der Höhe - offenbar einer großen alten Moräne - öffnet sich plötzlich die Aussicht auf einen prächtigen See; die Straße führt auf einer eisernen Brücke über seinen ausmündenden, zu Thal stürzenden Strom und dann nach wenigen Minuten zur Landungsstelle eines kleinen Dampfers, wo schon eine Anzahl unserer Mitreisenden der Abfahrt harrten. Freundliche blauäugige Landeskinder boten Erdbeeren und Blumen zum Verkauf, höflich und nicht zudringlich; für kleine Geschenke dankten sie mit Händedruck. Bei Kindern wie bei Erwachsenen fiel uns auf, wie viel ungeschickter und schwerfälliger sie im Erraten der durch Zeichensprache ausgedrückten Absicht der Fremdlinge sich erweisen als die südlichen Nationen, z. B. die leichtbeweglichen Italiener.
In kleinem Dampfer dicht zusammengepfercht fuhren wir auf die andere Seite des Sees, wo zwischen mächtigen Bergen ein Thal sich öffnet, das berühmte Jordal. An seinem Ende liegt, schon vom See her sichtbar und vom grünen Vordergrund prachtvoll abgehoben, der östliche Gletscher des Buarbrae. Der Weg dorthin steigt zirka 1½ Stunden lang und ist ziemlich beschwerlich; aber die reiche Vegetation - Birken, Ulmen, Ahorne - neben dem schäumenden Gletscherbach, eingerahmt von schroffen Felswänden und hie und da wie ein Gemälde auf dem blaugrünen Grunde des den Horizont abschließenden Gletschers, bot so viel schöne und überraschende Bilder, daß wir im Schweiße unseres Angesichtes vorwärts pilgerten, über Stock und Stein und Bergwässer; die Sonne brannte wie bei uns im Sommer - ein Hohn auf unsere Winterkleider.
Das kleine, auf felsigem Hügel unmittelbar am Gletscher liegende Restaurant war von Erquickungsbedürftigen bereits angefüllt und umlagert, als wir ankamen. Auf blumigem Rasen ausgestreckt labten auch wir uns und sahen dem ungewohnten Getriebe in diesem stillen Bergthale zu. Die guten Wirtsleute konnten den an sie gestellten Anforderungen kaum gerecht werden und schossen planlos hin und her; nur die Tochter des Hauses, in der malerischen Hardangertracht - weißes Hemd, rotes Mieder mit perlengesticktem Bruststück, gefaltete, gesteifte weiße Linnenhaube, weiße Schürze - verlor den Kopf nicht und hielt den ungestüm andrängenden hungrigen und durstigen Fremdenstrom im Zaume.
Norwegerinnen.
Die Hardangertracht ist außerordentlich kleidsam, es scheint aber, daß die Volkstrachten wie bei uns so auch in Norwegen, wenigstens an den Haupttouristenplätzen, im Rückgang begriffen sind.
Ein liebliches und auch farbenschönes Genrebild, das ich bei der Rückkehr aus dem Jordal sah, bleibt mir unvergeßlich: Eine stolzgewachsene junge Frau, nach der Landessitte gekleidet, hielt von einem kleinen grünen Hügel herab Auslug - wohl nach ihrem Mann - die Augen mit der rechten Hand beschattend, während die linke ein Kind schützte, das zu ihren Füßen mit einem anderen spielte.
Gegen Abend war alles wieder an Bord; punkt 6 sollte die Abfahrt erfolgen. Leider ereignete sich dabei ein Unglücksfall, der unsere Stimmung lange trübte. Bei den üblichen Salutschüssen wurde ein 24jähriger Matrose verletzt und ins Meer geschleudert. Er hatte, wie sich herausstellte, versäumt, den Lauf der Kanone nach dem ersten Schusse feucht auszuwischen, und als er die zweite Patrone einführte, entzündete sie sich an den noch vorhandenen Funken und fegte den unvorsichtigen Lader rücklings ins Meer. Hätte nicht ein norwegischer Schifferjunge von seinem kleinen Kahn aus das Unglück beobachtet und sofort Meldung gemacht, so wäre es unbemerkt geblieben. Aber alles Suchen an der blutgeröteten Stelle war erfolglos; der Bursche, der seine erste Fahrt auf der "Auguste Viktoria" gemacht, kam auf die Verlustliste, und mit einer Stunde Verspätung, deren Grund den meisten Passagieren lange Zeit unbekannt blieb, fuhren wir ab, während die Musikkapelle die Wissenden über die traurige Situation hinwegzutäuschen suchte. Eine Sammlung unter den Schiffspassagieren, angeregt durch die Amerikaner bei der Feier ihres Unabhängigkeitsfestes, zu Gunsten der Eltern des Verunglückten ergab über 2000 Mark.
In der Nacht glitten wir in die offene, etwas unruhige See; die Ahnungslosen in den Kabinen der Steuerbordseite, welche aus Luftbedürfnis die Lucke offen gelassen - so auch meine beiden Gefährtinnen - konnten ihre Tücke erfahren; sie wurden in ihren Betten bald gehörig mit Salzwasser begossen. Trotzdem gab es wenig sichtbare Seekranke und im Verlauf des folgenden Tages, des 5. Juli, lenkten wir bei Aalesund bereits wieder in die ruhige Wasserfläche des Moldefjords ein, an dessen Nordwestufer das nordische Nizza, das Städtchen Molde, reizend im Grünen liegt. Unsere Ankunft daselbst erregte Sensation; vieles Volk strömte zum Landungsplatz und vier im Hafen verankerte englische Kriegsschulschiffe salutierten, während von unserem Deck herab die englische Nationalhymne ertönte.
Straße in Molde.
Wir ließen uns sofort auf einer der unterdessen flott gemachten "Dampfsparkassen", wie die Barkassen in unserem Kreise scherzhaft benannt werden, ausbooten und besahen uns Land und Leute. In Molde herrscht ziemlicher Fremdenverkehr, und verschiedene große Hotels, nebenbei auch ein in prächtigem Park gelagertes Sanatorium für Lungenkranke, geben der kleinen Stadt das Gepräge eines Kurortes. Beherrscher der Situation sind wie überall die Engländer; alles Volk spricht ein bißchen englisch; Plakate und Affichen sind in englischer Sprache abgefaßt, und auf den Straßen begegnet man radelnden...