Der Gottkaiser
von Raymond Haffner
Auf der abgeflachten Spitze einer sechsseitigen Pyramide saß der Gottkaiser: ein gehörntes Monstrum mit roter schuppiger Haut, gefletschten nadelspitzen Zähnen und großen gefiederten Schwingen.
Als die ehrfürchtigen Neuankömmlinge vor dem Thron Halt gemacht hatten, erhob sich der Gottkaiser und breitete die Arme aus.
»Kreaturen, die ihr aus allen Winkeln der Galaxis an meinen Hof gebracht wurdet, seid willkommen«, sagte er und fletschte die Zähne. »In den nächsten Tagen oder Wochen wird es hier in meinem Palast eine blutige Hatz geben. Und ihr, die von mir auserwählten Kreaturen dieser Galaxis, werdet die Opfer sein!«
Irgendwo in Bulgarien
Nicole gab Professor Zamorra ein Handzeichen und drückte sich neben der Tür gegen die Wand. Er nickte und tat es ihr gleich. Nicoles Warnung wäre gar nicht notwendig gewesen, denn in diesem Moment erwärmte sich Merlins Stern, das Amulett, das Zamorra um den Hals trug. Die Quelle der schwarzen Magie kam näher.
Wir sind ganz nah dran, dachte er.
Nicole sah ihn erwartungsvoll an und strich sich eine Strähne aus der verschwitzten Stirn. Nicht nur die Temperatur von Merlins Stern nahm hier unten zu - auch die Luft wurde immer drückender und heißer, je weiter sie in die Tiefen der unterirdischen Anlage vordrangen. Trockene Hitze, wie sie von manchen großen Maschinen ausgehen mochte, erschwerte das Atmen. Und da war noch etwas in der Luft: eine Ahnung von Schwefeldioxid, stechend und säuerlich - ein Gas, das Fabriken und Kraftwerke auf der ganzen Welt in die Atmosphäre bliesen, aber auch ausbrechende Vulkane, und nicht zuletzt: Drachen. Oder Zmej, wie man sie hierzulande nannte.
Es war Zeit. Der Kampf stand kurz bevor.
Zamorra öffnete die schwarze Ledertasche, die er über der Schulter trug und holte zwei Gasmasken hervor. Eine davon reichte er Nicole. Als nächstes kam ein Paar Handschellen zum Vorschein. Sollten sie im Kampf durch den Druck einer Detonation durch die Luft geschleudert werden, durften sie sich nicht voneinander entfernen. Verloren sie Körperkontakt, konnte Zamorra Nicole nicht mehr mit der Magie des Amuletts schützen. Und Drachen waren meisterliche Schwarzmagier.
Mit einem Klicken schlossen sich die Handschellen. Zamorras linke und Nicoles rechte Hand waren nun miteinander verbunden. Durch die Gasmasken sahen sie einander an und nickten sich zu. Dann betraten sie die nächste Halle.
Im Gegensatz zu den Räumen und Gängen, die sie zuvor durchschlichen hatten, wies dieser Saal keinerlei Ähnlichkeit mit einer Tiefgarage, einem Lagerhaus oder einer U-Bahn-Baustelle auf. Korinthische Säulen stützten eine mit kunstvollen Fresken bemalte Decke, die man im Schein der wenigen Gasfackeln allerdings nur undeutlich erkennen konnte. Weite Teile der Halle lagen im Dunkeln. Trotzdem konnten Zamorra und Nicole marmorne Wände und Statuen erkennen, Wandteppiche und in Gold gerahmte Gemälde, mit Edelsteinen besetzte Vasen, und, auf einem Podest, ein weinrotes Auto, das Zamorra zufällig erkannte: ein Rolls-Royce, Modell »La Rose Noire Droptail«, das teuerste Auto der Welt. Sie waren dem Drachenhort ganz nah.
Auf leisen Sohlen durchquerten sie die Halle und näherten sich einer weit offen stehenden Pforte, durch die, dem Luftzug folgend, dünne, träge Rauchschwaden herauszogen. Dort angekommen drückten sie sich an einen der beiden schmiedeeisernen Torflügel und blickten durch den weißen Rauch in einen noch viel größeren Saal.
Vor ihnen führte eine marmorne Freitreppe in die Tiefe und verschwand dort in einem Berg aus Münzen, Kleinodien, Artefakten und Edelsteinen. Die Wände der Halle waren mit Ölgemälden geradezu übersäht; von hohen Balustraden hingen schwere Banner aus Seide und Brokatstoff herab. Das Licht gewaltiger Kornleuchter wurde von titanischen Säulen zurückgeworfen, die allesamt mit Blattgold überzogen waren. Auf Bergen von Kostbarkeiten standen weitere Luxusautos, außerdem Kleinflugzeuge, eine Jacht und ein Panzer.
Inmitten dieses irrsinnigen Chaos aus Reichtum befand sich eine große, kreisrunde Freifläche. Dort standen sich Einrichtungsgegenstände, die gut in die Villa eines Tech-Milliardärs gepasst hätten. Sie wirkten im Vergleich zu ihrer Umgebung beinahe schlicht. Man konnte ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer erkennen. Was fehlte, waren Wände. Auf einer Art Terrasse saß ein Mann in einem grünen Sessel und wurde gerade porträtiert. Das war der Drache, daran hatte Zamorra keinen Zweifel. Zamorra meinte den Angstschweiß des alten Malers von seinem Versteck aus erkennen zu können, auch wenn der dafür natürlich viel zu weit weg war.
Neben dem Drachen stand eine nackte Frau mit einem Tablett. Weder der Maler noch die Frau trugen Gasmasken. Sie befanden sich in einer von dem Drachen geschaffenen Blase aus halbwegs frischer Luft. Zamorra und Nicole würde ihre Masken auf jeden Fall aufbehalten; der weiße Rauch um sie herum ließ keinen Zweifel daran, dass die Ausdünstungen des Drachen sein Domizil für Menschen hochgiftig machten.
Zamorra nahm Nicole bei der Hand, und gemeinsam schritten sie die Freitreppe hinab.
Durch ein gewundenes Tal, das zwischen den Bergen aus Luxus hindurchführte, durchquerten sie anschließend den Drachenhort. Dabei wurde es um sie herum immer heißer. Merlins Stern brannte Zamorra auf der Haut, bis er die Warnfunktion des Artefakts unterbrach. Er wollte keine Energie verschwenden.
Zwischen all den Kostbarkeiten erkannten sie nun auch Knochen und andere menschliche Überreste. Ein mit kunstvollen Intarsien versehener Schrank aus Ebenholz war umgestürzt und zerborsten. Das Holz war in Blut getränkt, Fetzen aus Fleisch, Knochen und Kleidungsstücken bedeckten das uralte Möbelstück. Wahrscheinlich hatte der Zmej hier vor nicht allzu langer Zeit gespeist - nicht in menschlicher, sondern in Drachengestalt.
Plötzlich hörte Zamorra ein Stimme in seinem Kopf: »Professor. Wie schön, dass Sie mir in meinem bescheidenen Anwesen einen Besuch abstatten.«
Sofort ließ Zamorra seine Kraft in Merlins Stern fließen. »Verziehen Sie sich aus meinem Kopf. Ich bin gleich bei Ihnen«, erwiderte er in Gedanken. Dann schlug er den telepathischen Vorstoß energisch zurück.
Nicole sah ihn fragend von der Seite an. Sie hatte gespürt, dass er ihre Hand plötzlich fester gepackt hatte.
»Er weiß, dass wir kommen«, erklärte Zamorra, ohne ihren Blick zu erwidern.
Mit der freien Hand umschloss Nicole ihren Dhyarra, jenen blau funkelnden Stein, den sie an einer Kette um den Hals trug. Mit der Kraft des Dhyarras konnte sie ihre Gedanken Wirklichkeit werden lassen - auch wenn das gerade in einem Kampf höchste Konzentration und Selbstdisziplin erforderte.
Der Rauch wurde dichter und dichter, kroch über Wege aus Gold und Edelsteinen und hüllte sie schließlich vollständig ein. Nicole hatte bald die Orientierung verloren, aber Zamorra zog sie weiter. Sie passierten zwei riesenhafte Statuen aus schwarzem Marmor, die bärtige Ringer darstellten, sahen die Scheinwerfer eines alten Aston Martin durch den Qualm leuchten und tauchten plötzlich völlig unvermittelt aus alledem wieder auf. Die letzte Wand aus Rauch öffnete sich vor ihnen. Sie befanden sich nun auf dem freien Platz in der Mitte des Saales. Hier war die Luft allem Anschein nach noch immer klar und ungiftig.
Ein ganzes Stück entfernt saß der Drache auf seinem Sessel und ließ sich porträtieren. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu ihnen umzudrehen.
Zamorra und Nicole hielten für einen Moment inne.
Dass die eigenartige Behausung des Drachen über keine Wände verfügte, gab ihr den Anschein einer Theaterkulisse. Auf dem großen Fernseher, der im Wohnzimmer stand, waren Aktienkurse zu sehen.
Ohne einander loszulassen, gingen sie weiter, um einen Swimming Pool herum, eine kleine Treppe hinauf, zur Terrasse. Erst jetzt zeigte der Drache, dass er ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Mit einem Wink bedeutete er dem Maler, sich zurückzuziehen. Der Mann war kreidebleich, verbeugte sich so tief er konnte und lief unter weiteren Verbeugungen rückwärts, bis zu einer Treppe, die scheinbar in ein Untergeschoss führte. Mit schnellen Schritten verschwand er aus dem Blickfeld.
Die Nackte trat unterdessen an Zamorra und Nicole heran und bot ihnen Champagner an.
»Besten Dank, aber nein.« Zamorra hob die freie rechte Hand. »Ich würde ja gerne, aber die Maske lasse ich lieber an, wenn es dem Hausherrn nichts ausmacht.« Mit diesen Worten blickte er an der Frau vorbei zum Drachen.
Der Zmej erhob sich nun betont langsam aus seinem Sessel. Er hatte ein kantiges Gesicht von einer seltsam unmenschlichen Attraktivität, die an das Werk einer generativen AI erinnerte. Sein anthrazitfarbener Anzug saß perfekt.
»Professor Zamorra«, sagte er nun mit einem schlangenartigen Lächeln. »Sie sind so misstrauisch. Aber ich werde Sie nicht drängen. Auf jeden Fall weiß ich es zu schätzen, dass Sie die weite Reise zu mir unternommen haben. Sie...