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Dresden 1902-1922
Es konnte immer nur der Garten sein, der von wandernden Lichtern durchbrochene Schatten der Buchenhecke, der Pavillon, die Laubhütte unter den Birken oder das abendliche Solo des böhmischen Trompeters, der im Haus nebenan Gärtner war, es konnte, beschrieb sie ihre Kindheit, nur der Garten sein, und ihre Sätze waren aus einem Lied, so, als wolle sie alles selber nicht mehr glauben und finde doch keine vollkommenere Wahrheit. Und auch das große, weiße, stets sommerlich gestimmte Haus bekam seine Strophe. »Es war«, hatte Katharina an Annamaria geschrieben, die jüngste Tochter, »es war ein entlegener Ort in einer entlegenen Zeit. Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst. Es ist ja auch nicht sehr genau. Meine Erinnerung hat das Haus in Klotzsche und den großen Garten als eine Insel bewahrt, als das Bild einer Insel. Und oft, wenn ich glücklich war, dachte ich an diese Insel und hatte das Gefühl, ein solches Glück vielleicht doch wieder zu finden, später, viel später.«
Katharina Wüllner wurde am 7. Februar 1902 in Klotzsche bei Dresden geboren. Sie war das jüngste von vier Kindern, und die Geburt wurde von dem Fabrikanten Wüllner in den im Parterre des weitläufigen Hauses liegenden Gesellschaftsräumen mit einigen Kumpanen drei Tage und drei Nächte gefeiert, ohne daß der fast zwergenhaft kleine Mann den wimmernden Gegenstand des Festes angesehen und seiner Frau mehr als nur einen Besuch abgestattet hätte. Susanne Wüllner, immer wieder aus einem fahrigen Schlaf auftauchend, hörte von fern den Lärm, das Gegröle, das Singen, und sie bat die Pflegerin, sämtliche Türen im ersten Stockwerk zu schließen, damit hier oben niemand behelligt werde.
Sie lag, hochgebettet, in ihrem Zimmer, eine schöne, bleiche Person, die dunklen Augen aufgerissen, als falle sie von einem Schrecken in den andern, ihr schwarzes Haar übers Kissen gebreitet; sie empfing häufig den Arzt, ließ sich das Kind bringen, gab den anderen Kindern Empfehlungen für den Tag, dies alles mit leiser Stimme, auf die jeder gern hörte. Elle, der Ältesten, vertraute sie die wichtigsten Pflichten an. Die Zwölfjährige, zu groß für ihr Alter, frühreif, oft hochfahrend und eigensinnig, hielt die Verbindung zum Haus, zur Küche, auch zum Vater, dem sie am nächsten war. »Ihr fehlt mir alle«, hatte er an seine Frau aus Bad Pystian geschrieben, wo er sich zu einer längeren Kur hatte aufhalten müssen, »aber Elle wünsche ich mir her, mitsamt ihren Wutausbrüchen; sie versteht mich, sie fühlt wie ich.« Sie wagte sich lachend unter die angeheiterten und übermüdeten Männer, flüsterte dem Vater Wünsche der Mutter ins Ohr, die er heiter aufnahm und ausschlug: Sag ihr, und er war immer laut, machte sich mit seiner Stimme größer, sag ihr, es geschehe ihretwegen und des Kindes wegen, außerdem würden sie alle das Haus bald verlassen, auf den »Weißen Hirsch« fahren: Luft schnappen, Mädchen, Morgenluft!, und sie ließ sich von seinem Lachen anstecken, umarmte ihn, fand ihn abenteuerlich, den zierlichen Mann, dessen Bewegungen tänzerisch wirkten, ein Künstler, kein Kaufmann, sagte man über ihn und fürchtete sich dennoch vor seinem merkantilen Geschick, denn er hatte schließlich aus einer Apotheke einen Konzern gemacht, drei Fabriken, zwei in Dresden, eine in Bodenbach, ein erfinderischer Kopf, der der Schönheit ergeben war, Duftwässer und Cremes herstellte, vor allem aber die weitberühmte Combella-Gurkenmilch. Ich streichle Millionen von Weibern, rief er manchmal, ein zärtlicher Freund. Ja, ich versteh. Geh hinauf zu deiner Mutter und richte ihr aus, es werde sich bald Frieden einstellen. Das Fest geht zu Ende.
Die Männer gehen, ihre Stimmen sind im Garten zu hören; sie lachen; der Lärm entfernt sich; das Haus atmet auf. Man hört das Weinen des Säuglings, das beruhigende Summen der Kinderfrau, Rufe der Mutter, auch der Kinder. Licht dringt aus dem Garten durch die Fenster, ein leichtes, in Wellen sichtbar werdendes Grün, »ich habe dieses Licht nirgends wieder gefunden, ich habe es eingeatmet, es machte satt und heiter«.
Sie wurde in der Dorfkirche von Klotzsche getauft, Katharina Susanne Leonore, Paten waren ein Bruder des Vaters und dessen Frau, die ihr später nie begegneten, die nach Südamerika auswanderten, gelegentlich absonderliche Geschenke schickten; die Wüllnersche Familie war zahlreich vertreten, von den Angehörigen der Mutter war nur einer gekommen, ihr Bruder, der Pharmazeut und Sänger David Eichlaub, der sich nicht, wie sie, hatte taufen lassen, noch vor der Kirche spöttische Bemerkungen machte, die sein Schwager lachend quittierte, denn er sei ohnedies Atheist und halte dies alles für eine Fortsetzung frühzeitlichen Schamanentums, worauf ihm David widersprach, doch Wüllner hörte nicht darauf oder sagte: Na, mit eurem Glauben, von dem wir ja alles haben, mein Lieber, will ich mich gar nicht erst anlegen. Also schreiten wir zur Taufe.
Onkel David sang.
Der Pfarrer war gerührt.
Susanne Wüllner weinte. Sie hatte gesagt: Das ist mein letztes Kind.
Nur das Kind gab keinen Laut, als sein dünnes schwarzes Haar von Wasser feucht wurde. Jetzt hatte es Namen, mit denen es sich abfinden, in die es hineinwachsen mußte. Onkel David trat ein zweites Mal an die Empore, erschreckte alle, denn er hatte nicht angekündigt, was er vorzutragen beabsichtigte, und die Orgel war seiner Melancholie auch nicht gewachsen, als er das erste Lied aus der »Winterreise« sang, »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«. Wenn das nur kein böses Omen wird, befand jemand aus dem Wüllnerschen Clan, und der Vater des so besungenen Kindes schimpfte nach dem Kirchgang: Daß dich der Teufel auch immer reitet, David, was kann das Kind dafür! Nun fange nur nicht an zu philosophieren! Was David nicht tat, er nahm vielmehr das Kind aus den Armen der Mutter, trug es vorsichtig der Gruppe voraus, die Allee entlang, bis zum Eingang in den Garten; es sei doch ein Park, sagte Wüllner, aber seine Frau bestand darauf, die weite, das Haus umschließende Anlage »Garten« zu nennen. Der Onkel trug die Nichte, er wiegte sie, summte die Arie des Figaro, wendete sich gelegentlich den ihm folgenden Eltern zu, zeigte das Kind.
Es sei ein sonniger Tag im späten Mai gewesen.
»Georg, er war heute von gemütvoller Courtoisie«, schrieb Susanne Wüllner ihrer uralten Mutter in Breslau, »so rücksichtsvoll wie seit langem nicht, aber er hat auch seine Männerfestivität gutzumachen. Wetterwendisch ist er wie je.«
Katharina bekam ein Zimmer im zweiten Stock, unterm Dach; es blieb ihres; später wurde ihr die nebenan liegende Kammer zugeteilt, so verfügte sie über eine kleine Wohnung.
Was sie weiß, was sie wußte, danach erzählte, erfüllt von einem Heimweh, dem sie nachgab: die Gesichter, die sich über sie beugten, hell von den Sonnenstrahlen, die durch die gerafften Musselingardinen fielen, das Gesicht der Mutter, deren Stimme sie genoß, die sie, wann immer es ging, hören wollte; die Kinderfrau, Gutsi, die mit lustigen Versen und Liedern beruhigen konnte, ein derbes, aufmerksames Gesicht, in dem über einer Himmelfahrtsnase wäßrige blaue Augen schwimmen. Immer rief es: Gutsi! Wo bist du, Gutsi? Mein Teddy ist weg! Komm, Gutsi, hilf! Es ist mir alles verdorben, die Farbe verläuft! Und Gutsi vermochte jederzeit zu helfen, sie war, im Grunde, ihr vertrauter als die Mutter, die sich manchmal entzog oder mit dem Vater verreiste, die aus unerfindlichen Gründen fremd werden konnte, weit weg war, fast unerreichbar; »ma bonne maman«, pflegte Ernst sie anzureden, ganz ohne Spott, in einer Liebe, die eine gewisse Distanz nicht aufgeben konnte, aber Katharina sagte Mummi zu ihr, fand ihre Wärme, ihre Einsamkeit: Mummi, mußt dich nicht grämen, nein.
Sie rennt atemlos durch das Haus, hinunter, über die Empore im ersten Stock, hinunter, steht in der Halle, die durch beide Stockwerke reicht, ein seltsam kubischer Kuppelraum, schreit, fürchtet sich vor Gespenstern, die ihr Dieter eingeredet hat, Gutsi kommt, Mummi kommt, beide Frauen mühen sich um sie, schließen sie wechselseitig in ihre Arme, und sie genießt die Wärme, die Hilfe, die alle Angst austreibt. Jetzt ist es gut. Ja, es ist gut, und der Vater erkundigt sich nach dem Ungemach, tröstet ebenfalls, zaubert aus der Tasche ein Täfelchen Schokolade, das Papier riecht ein wenig nach Tabak, sie wird, wieder auf dem Zimmer, auf dem Fensterbrett sitzend, daran schnuppern, weil es ein Geruch ist, den Frauen nicht haben.
Sie ist klein, zierlich, wächst nicht so rasch wie Elle. Das volle Haar hat sie von der Mutter. Es wird bald in lange »Schillerlocken« gelegt werden, was ihr gefällt. Sie findet sich hübsch, schaut in den Spiegel, achtet auf ihre Kleider. Dieter, den sie vor allen anderen liebt, »ihr Bruder«, schimpft sie »etepetete«, sie macht sich nichts daraus, denn er findet sie auch wieder »süß«, führt sie die Straße entlang, auf den Dorfplatz, sagt, den Weg in die Fremde treibend, als gehe es um neue Kontinente: Dort liegt Loschwitz. Und dort, dort liegt Dresden!
In Dresden war sie: auf der Prager Straße, und in der Fabrik, an einem Sonntag im Zwinger, wo Mummi sie auf einer steinernen Brunnenfigur reiten ließ.
Sie versteckt sich im Gartenpavillon, hört die Rufe der Suchenden, Katharina, Kathi, meld dich doch, Kind!, wo bist du?, rührt sich nicht, bis Dieter oder Ernst darauf kommen, sie könnte sich im Hüttchen versteckt halten, und einer der Jungen die Tür aufreißt: Du bist...
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