1. Kapitel
Es war am späten Nachmittag des Heiligen Abends 1797, als sich Andreas Heller mit seiner kleinen Tochter von Bruneck aus zum Bauernhof seines Bruders Vitus aufmachte. Zwei Tage zuvor war er mit seinem Einspänner in Innsbruck aufgebrochen, aber die schweren Schneefälle hatten ein Weiterkommen fast unmöglich gemacht. Nun ließ er Pferd und Schlitten beim Schützenwirt und kämpfte sich mit dem Mädchen zu Fuß durch den tiefen Schnee weiter, um noch vor dem Dunkelwerden sein Ziel, den Obersteinerhof, zu erreichen.
Das übermüdete Kind watete zuerst eine Weile hinter ihm her, dann setzte es sich einfach in den Schnee. Als es sah, wie der Vater sich in dem Schneesturm immer weiter von ihm entfernte, schrie es weinend auf. Der Mann ging zurück und nahm das schluchzende Kind auf den Rücken.
»Musst nicht weinen, Maria«, beschwichtigte der Vater, »bald sind wir bei deinem Onkel auf dem Hof.«
»Aber mir ist so kalt«, jammerte die Kleine, »und ich möchte zu meiner Mutter!«
»Deine Mutter ist bei den Engeln im Himmel, das weißt du doch. Aber wer weiß, vielleicht geht sie jetzt neben uns her, und wir können sie nur nicht sehen.«
»Aber darf ich sie denn nie mehr wieder sehen? Nie mehr?«
»Nein, sehen kannst du sie nicht mehr, aber sie sieht dich, das darfst du mir glauben«, tröstete er sie. »Nun dauert es auch nicht mehr lange, dann sind wir bei unseren Verwandten in der warmen Stube.«
Von Zeit zu Zeit blieb Andreas keuchend stehen, sah in die wirbelnden Schneeflocken und hoffte im Stillen, dass er die Orientierung nicht verloren hatte. Er war zwar hier aufgewachsen und kannte jeden Tritt, aber er wusste auch, wie leicht man sich bei Schneesturm oder Nebel verirren konnte. Außerdem begann es bereits dunkel zu werden. Wie lange er schon unterwegs war, wusste er nicht, aber er musste doch wohl ganz nahe bei den zwei untersten Höfen des Weilers sein.
Tatsächlich schälten sich aus der wirbelnden Schneewand bald die Mauern des Erlenhofes. Er klopfte an die Haustür und bat den Knecht, der ihm öffnete, um Feuer für seine Laterne. Als er den Vorraum betrat, kam gerade die Bäuerin aus der Stube, die ihn zuerst in dem Halbdunkel gar nicht erkannte.
»Jesus, der Obersteiner-Andreas!«, rief sie überrascht. »Was hat denn dich weggetrieben von deinen Brotwecken in Innsbruck?«
Andreas Heller war der zweite Sohn vom Obersteinerhof. Er hatte die einzige Tochter eines Innsbrucker Bäckers geheiratet und nach dessen Tod die Bäckerei selber übernommen. Er ließ nun seine Tochter auf den Boden gleiten und erklärte der Frau und dem Gesinde, das sich neugierig um ihn versammelt hatte, dass seine Frau vor drei Wochen gestorben sei. »Darum bin jetzt auf dem Weg zum Obersteinerhof, um meinen Bruder und meine Schwägerin zu bitten, dass sie meine kleine Tochter da eine Weile zu sich auf den Hof nehmen.«
Eine Frau hielt dem erschöpften Kind eine Schale mit warmer Milch an die Lippen und rieb ihm die rotgefrorenen Händchen.
Theresia, die Bäuerin, reichte ihm die Hand: »Das tut mir leid für dich, Andreas, aber wie ich sehe, hast du von meinem Unglück noch nichts gehört.«
Er merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte, und sah erstaunt auf die betretenen Gesichter der Leute, die ihn umstanden.
»Ja, unser Bauer ist im Sommer bei den Kämpfen um Bozen gefallen«, sagte Jörg, der Knecht, der mit einem brennenden Holzspan aus der Küche kam und die Laterne ansteckte. Andreas sprach der Bäuerin sein Beileid aus. Dann dankte er für das Licht, lud sich das Kind auf den Rücken, nahm die Lampe und machte sich wieder auf den Weg. Der Sturm hatte nun endlich etwas nachgelassen, es schneite nur noch ein wenig, und der Lichtschein der Laterne durchbrach jetzt die Dunkelheit eine kleine Strecke voraus.
Auf dem Obersteinerhof war die Abendmahlzeit schon vorüber, und Vitus, der Bauer, wollte gerade die Kerzen an der Weihnachtskrippe anzünden, um mit der Familie und dem Hausgesinde den Rosenkranz zu beten, als der erschöpfte Mann mit dem kleinen Mädchen in die Stube trat. Vitus begrüßte seinen Bruder erfreut mit Handschlag, während die Hausmutter sich gleich nach dem Gruß um das durchnässte, zitternde Kind kümmerte.
Müde setzte sich Andreas auf die Ofenbank. »Seit vorgestern sind wir nun auf dem Weg, in Gries am Brenner und in Spinges mussten wir übernachten. Es war fast kein Durchkommen bei dem vielen Schnee.« Dann erzählte er, was ihn hergeführt hatte.
»Seit dem Tod meines Weibes geht alles drunter und drüber«, berichtete er. »Jetzt habe ich zwar eine Wirtschafterin, die mir auch beim Verkauf im Geschäft hilft. Ich selber aber stehe vor Morgengrauen in der Backstube, und keiner hat Zeit für das Kind. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn sie eine Zeitlang bei euch bleiben dürfte.«
Die siebenjährige Anna, die jüngste Tochter auf dem Obersteinerhof, stand da und schaute atemlos auf das fremde Kind, das ungefähr in ihrem Alter sein mochte. Eine Weile zuvor hatte es Tränen gegeben, denn der Vater hatte verboten, dass die Kinder heuer mit zur Christmette gingen. »Heute kommen schon wir Erwachsenen bei dem vielen Schnee kaum noch durch«, hatte er erklärt. Aber nun sah es so aus, als sollte sie ein wenig getröstet werden, denn wenn sie nicht mit zur Mette gehen durfte, dann durfte wohl dieses fremde Mädchen, das Maria hieß, auch nicht mitgehen.
»Das ist nun deine Ziehschwester, sie wird bei dir und Regina in der Kammer schlafen«, meinte die Mutter lächelnd.
Anna freute sich noch mehr. »Sie kann bei mir im Bett schlafen!«, bot sie bereitwillig an.
Die Mutter nickte: »Ja das wird einstweilen das Gescheiteste sein; und in den nächsten Tagen füllen wir dann einen Strohsack und stellen noch ein Bett in eure Schlafkammer.«
Anna war froh, die Gesellschaft einer Gleichaltrigen zu haben, denn ihre Schwester Regina war vier Jahre älter, und sie fühlte sich von ihr oft gemaßregelt und herumkommandiert. Und dann war der Rosenkranz immer so endlos lang, der den ganzen Heiligen Abend vor der mit Kerzen beleuchteten Krippe gebetet wurde. Ihr dünkte, die Erwachsenen beteten ununterbrochen immer das Gleiche, obwohl es doch vier verschiedene Rosenkränze sein sollen, wie Regina sie belehrt hatte: der Freudenreiche, der Schmerzhafte, der Glorreiche und der Trostreiche. Anna hoffte, dass ihre Schwester, die gerne und ausdauernd betete, ein nicht zu scharfes Auge auf sie werfen würde, dann konnte sie sich vielleicht heimlich mit Maria hinter den Ofen zurückziehen, um dort ein wenig mit ihr zu flüstern.
Die alte Leni, die schon seit vielen Jahren Magd auf dem Hof war, würde heute das Haus hüten. Da würde es bestimmt nicht langweilig werden, denn die treue Seele steckte voller Aberglauben und Geistergeschichten und sie wusste die verschiedensten Sprüchlein, Stoßgebete und Abwehrmittel gegen etwaige Vorboten eines nahenden Unglücks.
Lange vor Mitternacht machte sich die Hausgemeinschaft auf ihren beschwerlichen Weg in die Kirche. Im ganzen Land erklangen auch schon die Glocken der Christnacht, um die Bevölkerung zur heiligen Mitternachtsmette zu rufen. Einsam lagen die Häuser und Höfe in dieser Nacht, denn nachdem die tiefgläubigen Menschen den Heiligen Abend betend vor der Krippe verbracht hatten, ergriffen sie ihre Kienfackeln und wateten selbst von den entlegensten Bergbauernhöfen ins Tal, um den Weihnachtssegen zu empfangen. Nur ein altes Weiblein blieb meist zurück, um Haus und Vieh und die kleinen Kinder zu hüten. Tief verschneit lagen Berge und Täler in diesem Jahr, aber endlich hatte es aufgehört zu schneien.
Leni und die Kinder, welche auf der Ofenbank eingeschlafen waren und nun durch den Aufbruch der Kirchgänger wieder erwachten, standen vor dem Haus und sahen ihnen nach. Der Schall der Glocken drang bis zu ihnen herauf, und allerorten sah man die Lichter der Fackeln, die sich von den Hängen herab der Kirche zubewegten. Bevor sie wieder zurück in die warme Stube gingen, stellte die alte Magd noch Milch und Brot vor die Haustüre. Auf die Fragen der Mädchen erklärte sie, dass heute Raunacht sei, in der die Perchten ihren Hexentanz aufführten. Und wehe dem Gehöft, bei dem sich die wilde Jagd niederließ und nichts vorfinden würde, um sich zu laben!
»Und lasst euch ja nicht einfallen, dass ihr etwa gar aus dem Fenster schaut, wenn ihr draußen etwas hört!«, mahnte sie sofort. »Ich weiß im oberen Inntal einen Mann, der sich einst im jugendlichen Übermut dazu hinreißen ließ, die Perchten zu belauschen. Aber so gut er sich auch versteckte, sie haben ihn doch entdeckt, und von Stund an war er blind. Und wenn ihn einer fragt, was er denn damals gesehen hätte, beginnt er am ganzen Körper zu zittern, und Tränen fallen aus den toten Augen, und aus seinem Mund kommen nur noch unverständliche Laute.«
Die Kinder hatten sich in der Stube auf die Bank gesetzt, die fast ganz rund um den großen Ofen ging, der vom Flur aus geheizt wurde. Der Raum war warm, jedoch der Schauer, der ihnen bei den Geschichten der Leni über den Rücken lief, ließ sie frösteln, und sie kauerten sich enger zusammen.
»Die Raunacht ist eine Nacht der Geister«, fuhr die Leni fort. »Es sind gute und böse Geister, auch einige Teufel sollen immer darunter sein - und dann sind da die boshaften Geister, die ihren Schabernack treiben mit den Menschen. So musste ein Mann, der das Hexentreiben belauschte, sein ganzes künftiges Leben lang bei jedem fünften Schritt, den er tat, einen Bocksprung machen. Er konnte nicht mehr anders gehen, und es ist ihm im zunehmenden Alter recht schwer geworden. Bei so einem Sprung brach er sich dann auch das Bein und starb...