Schweitzer Fachinformationen
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»Sea and Sand« The Who
Kurt saß in dem einzigen geöffneten Café an der Kurpromenade und starrte durch das Fenster aufs Meer. Mit den schmierigen Fingerabdrücken auf der Scheibe wirkten die ausrollenden Wellen wie verschwommen, unwirklich, wie aus einer anderen Welt. Als er sich ein Stück nach rechts beugte, war es besser. Auf dem Geländer an der Treppe zum Strand hinunter hockten dicht nebeneinander ein paar Möwen, die plötzlich ohne erkennbaren Anlass aufflogen und sich vom Wind davontragen ließen. Das Geländer war rostzerfressen, große Placken abgeblätterter Farbe waren über die gesamte Promenade verstreut.
Aus der billigen Lautsprecherbox über dem Fenster dudelte leise Schlagermusik. Kurt meinte, einen Song von Andrea Berg zu erkennen, war sich aber nicht sicher. Außer ihm war nur noch ein altes Rentnerehepaar im Café, das an dem Tisch neben der Tür zum Klo Schwarzwälder Kirschtorte in sich hineinschaufelte. Viel älter als ich werden sie wahrscheinlich gar nicht sein, korrigierte er seinen ersten Eindruck und fragte sich, was wohl die Bedienung von ihm dachte, die bis eben gelangweilt in einer Illustrierten geblättert hatte. Bis Kurt mit einem Handzeichen zum Tresen hinüber einen weiteren Cognac orderte.
Drei Cognacs hatte er mittlerweile schon intus, und er merkte, wie ihm langsam schwindlig wurde. Außerdem war ihm schlecht, er mochte keinen Cognac. Er wusste auch nicht zu sagen, wann er jemals freiwillig welchen getrunken hätte! Das Zeug schmeckte wie Seife. Und der stechende Geruch erinnerte ihn schon die ganze Zeit an die Herrenabende zu Hause bei seinen Eltern, wenn sein Vater die Kollegen aus dem Büro zu Gast hatte und seine Mutter in der Küche liebevoll kleine Häppchen zubereitete. Graubrot mit Mettwurstscheiben und einem Zahnstocher, auf den eine Weintraube oder ein Käsewürfel geschoben waren. Manchmal nahm sie statt des Zahnstochers auch kleine, bunte Papierflaggen. Am besten hatten ihm immer die Fahnen aus den skandinavischen Ländern gefallen, sein Vater war im Krieg in Norwegen und Finnland gewesen.
Er hätte gerne geraucht, aber es war ihm zu anstrengend, jetzt extra vor die Tür zu gehen, und er hatte auch gar keinen Tabak mehr. Bei den Herrenabenden war es immer seine Aufgabe gewesen, schnell zum nächsten Zigarettenautomaten zu rennen, wenn wieder eine Schachtel leergeraucht war. HB und Ernte 23 waren die Lieblingssorten der allesamt kettenrauchenden Kollegen, daran erinnerte er sich noch genau. Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB - dann geht alles wie von selbst. Und ein Päckchen kostete eine Mark. Oder eine Mark zwanzig?
Verdammt lang her, dachte er. Und ärgerte sich im selben Moment über die Assoziation, die der Gedanke bei ihm auslöste. Er hatte BAP nie gemocht, und Niedecken schon gar nicht! Was aber wahrscheinlich weniger an Niedecken und seiner Band lag, als vielmehr an der Tatsache, dass er immer schon schnell damit gewesen war, genau das abzulehnen, wovon ihm zu viele Leute vorschwärmten. BAP. Die Asche meiner Mutter. Kill Bill. Helge Schneider. Hape Kerkeling. Und Toni Erdmann! Wobei Toni Erdmann nun wirklich saublöd gewesen war. Und bei BAP hatte er zumindest nie kapiert, wie jemand ausgerechnet auf Kölsch singen konnte - und dann auch noch dafür gefeiert wurde, dass kein Mensch etwas verstand!
Aber trotzdem, es war verdammt lang her, daran war nicht zu rütteln. Und er selber war heute schon deutlich älter, als sein Vater damals gewesen war, wenn sie jedes Jahr in der Vorsaison ans Meer fuhren, weil da die Preise noch nicht ganz so horrende waren, und nach einem langen Tag am Strand in die Pension zurückkehrten, wo sein Vater vor dem Abendessen schnell noch eine Zigarette am offenen Fenster rauchte.
Er hätte sich vorhin an irgendeiner Tankstelle doch noch ein neues Päckchen Tabak kaufen sollen! Aber er wollte ja eigentlich auch nur auf kürzestem Weg ans Meer. Und auf die Wellen starren und sich an seine Kindheit erinnern, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Wenigstens für ein paar Stunden alles vergessen, was ihn nervte. Und darüber nachdenken, wie es eigentlich weitergehen sollte. Mit ihm und der Welt.
Das war der Plan gewesen. Die Idee, noch etwas zu trinken, war ihm erst gekommen, als er auf der menschenleeren Promenade das Café mit dem flackernden Schriftzug über der Eingangstür gesehen hatte. Warum er sich dann ausgerechnet Cognac bestellt hatte, wusste er selbst nicht. Vielleicht erschien es ihm angemessen für die Situation, obwohl das natürlich völliger Blödsinn war, er hatte nie vorgehabt, sich zu betrinken.
Die Bedienung kam mit seiner Bestellung. Er hatte vorhin schon bemerkt, dass ihre blonden Haare gefärbt waren, am Scheitel schimmerte ein grauer Ansatz durch. Und ihre Lippen sind zu stark geschminkt, dachte er, während ihm unwillkürlich eine Textzeile aus einem alten Stones-Titel durch den Kopf schoss: »Sitting drinking, superficially thinking, about the rinsed-out blonde on my left .« The Spider and the Fly. Er hatte den Song immer geliebt, vor allem in der Unplugged-Version irgendwann aus den Neunzigern, als Jagger aus der Frau »about thirty« bereits eine »about fourty« gemacht hatte. About fifty würde es in diesem Fall allerdings besser treffen, dachte er noch, und gerade, als sie sich schon wieder abwenden wollte, hielt er sie mit einer Handbewegung zurück: »Entschuldigung, nur eine Frage - soweit ich mich erinnern kann, war hier früher auf der Promenade so eine Art Frühstückskneipe, mit Livemusik und so .«
»Das muss aber sehr viel früher gewesen sein.«
»Stimmt schon, ich dachte ja auch nur, dass es den Laden vielleicht noch gibt. Ich kannte den Besitzer, er hat auch ein Buch geschrieben, über Störtebeker, einen Roman .«
»Sagt mir gar nichts, tut mir leid.«
»Schon okay, danke. - Ich zahl dann auch gleich mal.«
»Drei Cognac, macht neun dreißig.«
»Vier Cognac, das ist schon mein vierter.«
»Der letzte geht aufs Haus.«
Als er fragend die Augenbrauen hochzog, setzte die Bedienung hinzu: »Ich glaube, ich erinnere mich an Sie. Kann das sein? Sie haben mich darauf gebracht, als Sie eben etwas von Livemusik gesagt haben. Hatten Sie nicht mal eine Band, die sogar ziemlich bekannt war? So ungefähr Ende der Siebzigerjahre, würde ich sagen .«
»Jetzt reden Sie aber von sehr viel früher.«
Sie lächelte. Kurt konnte sich gut vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der sie mehr als nur einem Mann den Kopf verdreht hatte. Früher. Sehr viel früher.
»Und? Hab ich recht?«
Er schüttelte den Kopf. Plötzlich wollte er nur noch raus aus dem Café. Er legte einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch und stand auf. Ganz kurz musste er sich an der Stuhllehne festhalten, bis der Schwindel nachließ. Er holte tief Luft.
»Verdammt lang her«, sagte er laut, als wäre damit alles erklärt. Dann nickte er noch mal und ging wortlos zur Tür, wobei er sich bemühte, den Rücken gerade zu halten und nicht zu schwanken.
»Jetzt weiß ich's wieder!«, rief die Bedienung hinter ihm her, als er bereits ins Freie trat. »Im Pumpwerk, da habe ich Sie mal mit Ihrer Band gesehen! The Hungry Freaks! Ich bin mir ganz sicher, dass Sie das waren!«
Vom Meer her wehte ein leichter Wind, aber es war zu warm für die Jahreszeit. Kurt merkte deutlich, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann, kaum dass er den Parka übergezogen hatte. Es ist albern, bei solchem Wetter mit einem Parka rumzulaufen, dachte er, aber es gibt so vieles, das albern ist und das man trotzdem tut.
Zwei halbwüchsige Mädchen kamen die Treppe vom Strand hoch. Sie waren barfuß und hatten sich ihre Handtücher umgeschlungen, ihre Haare waren noch nass, sie mussten gerade erst in der bestimmt noch eiskalten Brandung gebadet haben. Ein bisschen beneidete er sie. Früher hatte er sich auch spätestens zu Pfingsten in die Nordsee gewagt, wenn auch meistens nur für einen »skinny dip«, um sich selber zu beweisen, dass er fit war. Früher. Lange her.
Als die Mädchen ihn sahen, fingen sie an zu kichern, gleich darauf musterten sie ihn argwöhnisch und liefen dann eilig an ihm vorüber. Kurt war sich fast sicher, dass ihre Reaktion irgendwas mit seinem Schimanski-Parka zu tun haben musste. Obwohl sie zu jung waren, um Schimanski überhaupt zu kennen!
Er drehte sich unschlüssig um die eigene Achse, dann entdeckte er den Rollator an der Mauer. Interessiert beugte er sich vor, es war das erste Mal, dass er so ein Ding aus der Nähe betrachtete. Überrascht registrierte er die ergonomisch geformten Handgriffe, die beiden Bremshebel, sogar eine Klingel war an der einen Seite angebracht. Fehlen eigentlich nur noch der Tacho und ein Rückspiegel, dachte er und fragte sich gleichzeitig, wieso ihm der Rollator nicht vorhin schon aufgefallen war. Wahrscheinlich gehörte er einem der beiden Alten im Café, eher dem Mann als der Frau, und statt am Samstagnachmittag den Passat zu waschen, wird jetzt die Gehhilfe poliert .
Als er neulich bei seinem Hausarzt gewesen war, um sich durchchecken zu lassen, hatte er auch davon erzählt, dass ihm manchmal das linke Knie den Dienst versagte. »Ein Gefühl, als ob man ins Leere tritt«, hatte er versucht, die Situationen zu beschreiben, in denen er irritiert und ohne jede Vorwarnung feststellen musste, dass irgendwas nicht in Ordnung war. Aber der Hausarzt, mit dem er seit Jahren befreundet war, hatte nur gelacht: »Wir werden alle älter, Kurt, so ist das nun mal....
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