Schweitzer Fachinformationen
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Eine Flora im Dunkeln
Jillian Armacost war sich sicher gewesen: Der Anruf der Unbekannten, die ihr eine große Sammlung von Martinuzzi-Gläsern in Mailand anbot, bedeutete die Rettung. Sofort hatte sie sich ins Flugzeug gesetzt.
Vasen in Amphorenform säumten den Eingang zu der Höhle: zuerst die Anfora pulegosa Vittoriale in Grün und Braun, eine ausladende Vase mit fünf rippenförmigen Henkeln übereinander auf jeder Seite. Dann eine fast zwanzig Zoll hohe schmale grüne Amphore mit weit vom Hals weggezogenen Henkeln, die am Korpus schlangenförmig ausliefen, eine eiförmige Amphore mit kurzen runden Henkeln am Hals und eine Vase, deren Korpus mit dem der Vittoriale identisch war und die zwei kleine rippenförmige Henkel sowie quadratische Applikationen hatte. Jillian wußte, die Vittoriale wurde so genannt, weil sich in der Stanza della Zambracca im Vittoriale, der Villa des Dichters Gabriele d'Annunzio am Gardasee, ein gleichartiges Exemplar befand. Napoleone Martinuzzi hatte diese Vasen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre für Venini entworfen. Sie bestanden aus Vetro pulegoso, einer schaumartigen Glaspaste mit zahlreichen unregelmäßigen kleinen Luftbläschen. An den Mündungen der Amphoren, an den Henkeln und am Sockel waren im Glas hauchdünne Goldfolien aufgelöst, die Oberfläche irisierte.
Die Besitzerin der Sammlung ging voran, Jillian folgte ihr mit vorsichtigen Schritten.
Cindi Prescott gab an einer High school in Brooklyn Computerkurse. Ihre Großmutter war Italienerin gewesen. Von der Schwester der Großmutter hatte sie eine große Wohnung in dem Ende der zwanziger Jahre erbauten Eckhaus am Corso Buenos Aires im Zentrum Mailands geerbt. Die kinderlose Großtante stammte aus Mailand, hatte nach Turin geheiratet und war nach dem Tod ihres Mannes wieder nach Mailand gezogen.
Die Wohnung und sämtliche Einrichtungsgegenstände der Tante waren bereits verkauft. Bis vor wenigen Tagen hatte Cindi Prescott keine Kenntnis von der Existenz der Glassammlung gehabt. Erst der Pächter des Ladenlokals im Haus, er war im Alter der Tante, machte sie darauf aufmerksam, daß zu der Wohnung der Tante auch ein Raum gehörte, der unter dem eigentlichen Keller lag. Die Erbin hatte die Tante nicht öfter als drei- oder viermal gesehen. Mit dem Erlös aus dem Verkauf der Wohnung und des Glasschatzes konnte die Lehrerin ihr Lehrerinnendasein beenden.
In der Mitte eines am Boden und an den Wänden mit einem beigefarbenen Mosaik verkleideten Kellerraums führte eine schmale steile Treppe zu dem Raum darunter. Als Jillian in den Rahmen aus sehr alten grünen Kacheln gestiegen war, der die Bodenöffnung mit der Treppe umgab, hatte sie das Gefühl gehabt, in eine andere Zeit einzutauchen.
Die Höhle schien aus Stein herausgehauen, man lief auf Felsboden. Am Eingang standen Wachskerzen in Wandvertiefungen, der Hauptraum wurde durch mannshohe Kerzenleuchter erhellt. Wenn die Höhle eine Dekoration war, dann eine sehr gelungene.
Vor einer auf dem Boden liegenden Kirchenkanzel sah sie weitere Pulegosi in Dunkelgrün und Schwarz mit schlangenförmigen Griffen, blaue Pulegosi mit runden und glatten Henkeln und eine prächtige hohe Vase in Pokalform mit abwechselnd gestreckten und sich ringelnden goldgesprenkelten Schlangen. Um einen mit rotem Samt überzogenen geschnitzten Sessel standen zahlreiche Vasen aus Vetro velato, das war mattes Glas, mit einer dünnen Schicht durchsichtigen glänzenden Glases überfangen, und aus Pasta vitrea, das war mattes, nicht überfangenes Glas. Das flackernde Kerzenlicht fiel auf rote Vasen, auf schwarze Vasen mit rotgeränderten Mündungen und Sockeln sowie roten Henkeln und auf Vasen in Grau- und Blautönen mit Blättern als Applikationen. Noch nie zuvor hatte Jillian Armacost eine größere und schönere Sammlung von Martinuzzi-Gläsern gesehen.
»Wie war Ihr Flug?«
Angesichts der überwältigenden Sammlung war Jillian nicht nach Konversation.
»Nopgrade. Aber ich habe die ganze Zeit geschlafen.«
Jillian ging in die Knie, um nach einer kleinen Vase aus transparentem amethystfarbenem Glas zu greifen. Die Vase hatte Amphorenform, rechts und links vom Hals waren auf dem Korpus jeweils zwei weitere Glasröhren aufgesetzt, zusammen mit dem Hals streckten sie sich nach oben wie die Finger einer Hand. Alle Mündungen und der Sockel waren mit Kristallglas verziert. Sie hütete sich, die Vase an einer der Mündungen zu fassen. Den Korpus mit der rechten Hand umfangend, die linke unter dem Sockel, drehte sie sich zum nächststehenden Kerzenleuchter hin. Es gab kein Durchlicht. Sie erhob sich und hielt das Glas unmittelbar vor den Kerzenständer. Gleichgültig schluckte es das Licht. Unter jeder Beleuchtung verriet es gleich viel oder gleich wenig von sich selbst.
Cindi Prescott nahm an, Jillian habe eine Abendmaschine genommen. Aber sie war mit einer Morgenmaschine gekommen.
Sie stellte die Vase auf den Boden zurück.
»Auf jeden Fall bin ich ausgeruht für das hier.«
Jillian Armacost war immer abends ausgeruht, denn sie schlief am Vormittag und ging erst nach Sonnenuntergang aus dem Haus. Dafür hatte sie Gründe.
Ihre schulterlangen glatten, nur an den Spitzen leicht gewellten Haare waren blondiert und gesträhnt, ihre dunkelgrünen Augen wirkten unter der Kerzenbeleuchtung fast braun. Sie hatte gerade und schmale, aber trotzdem kräftige Augenbrauen. Das ärmellose graue Baumwollkleid, es endete über den Knien, gab den Blick auf eine sehr helle Haut frei, die in seltsamem Gegensatz zu der trainierten Figur stand. Sie war siebenundzwanzig, aber sie sah aus wie siebzehn. Wie alle Kunden, die ihr zum ersten Mal begegneten, war auch die Erbin der Martinuzzi-Sammlung überrascht, daß Jillian Armacost, die wichtigste Glasgaleristin der Welt, so jung war.
Ein Krater bildete das Zentrum der Höhle. Die Kraterwülste waren kniehoch, der Krater war mit Sand aufgefüllt. Jillian stockte der Atem.
Aus dem Inneren des Kraters ragten vier mindestens acht Fuß hohe Piante grasse aus grünem Vetro pulegoso - Pianta grassa war die italienische Bezeichnung für Sukkulente - in die Höhe.
Jillian war nicht groß, ihre einfachen schwarzen Lederstiefel hatten flache Absätze. Aber sie hätte sich nicht träumen lassen, daß sie einmal vor einer Pianta grassa stehen würde, zu der sie hochblicken mußte.
Die Stämme und Äste der Pflanzen waren aus kelchartigen Teilen zusammengesetzt, aufgereiht auf nicht sichtbaren Gerüsten aus Eisenstangen. Sie standen auf Steinen nachgebildeten Holzsockeln, die wiederum in Gipsuntersätzen verankert waren. Jillian kannte derart große Piante grasse nur von Abbildungen. Wenn sie sich richtig erinnerte, waren genau diese vier Ausnahmeobjekte bei der Quadriennale d'Arte in Rom 1931 ausgestellt worden, sie galten als verschollen. Die großen Piante grasse waren äußerst unhandlich, zum Transport mußten sie mühsam in ihre Einzelteile zerlegt werden. Mit Sicherheit handelte es sich hier nicht um Fälschungen, denn das Wissen war verlorengegangen, wie man Vetro pulegoso mit der für die Stücke von Martinuzzi so charakteristischen Patina herstellte.
Die Pflanzen hatten auf Jillian gewartet.
Diejenige mit den spitzen feuerroten Knospen streckte ihr freundlich die beiden größeren der drei aus dem Bodenteil herauswachsenden Äste entgegen, nur der kleinere zeigte in eine andere Richtung. Die Pflanze mit den herabhängenden kugelförmigen blauen Knospen richtete sich stolz auf, als sie Jillian sah, und stellte ihre langen gezackten Blätter auf. Diejenige mit der großen gelben Knospe beugte sich teilnahmsvoll zu ihr herunter, die breiten, in den Stamm eingehängten Blätter wandten sich ihr zu, wie um sie zu berühren. Nur die Pflanze mit dem dicksten Stamm, die auch nicht knospte, nahm keine Notiz von ihr.
Um die vier großen Pflanzen waren zahlreiche kleinere gruppiert, der aufgeschüttete Krater glich einem Wüstengarten. Jillian hatte fast alle der kleineren Modelle schon einmal gesehen, aber niemals in solcher Zusammenballung: ein kerzenförmiger grüner Kaktus in einem grünen Topf, eine sich in spitzen länglichen Blättern fächerartig entfaltende blaue Pflanze in einem runden gerippten blauen Topf, eine wie ein Unterwassergewächs aussehende Pianta grassa in einem glockenförmigen weißen Topf, ein aus drei Elementen bestehender hoher schwarzer Kaktus in einem durchsichtigen Gefäß mit schwarzem Rand und einer Blüte aus durchsichtigem Glas, eine blaue Pflanze mit drei sich öffnenden Kelchen in einem kugelförmigen blauen Gefäß sowie kleinere rote, blaue und grüne Blätterpflanzen in konischen Gefäßen der gleichen Farbe, immer golden irisierend.
»Wie wollen Sie das Geld?«
Jillian fuhr mit dem Zeigefinger der rechten Hand über eins der Blätter der Pflanze mit der gelben Knospe. Das Blatt war genauso staubig, wie man es erwarten konnte.
»Ein Scheck, eine Überweisung, Cash, eine kleine Überweisung und einen großen Teil Cash oder umgekehrt? - In Dollar, in Euro, in Schweizer Franken?«
Cindi Prescott mochte zwischen dreißig und vierzig Jahre alt sein, ihre kurzen schwarzen Haare, die die Ohren frei ließen, waren über den Augenbrauen gerade abgeschnitten, sie hatte sich nicht geschminkt. Mit Interesse nahm Jillian die Schweißflecken zur Kenntnis, die sich auf dem pinkfarbenen Tenniskleid zwischen den Brüsten, um den Nabel und über den Hinterbacken abzeichneten. In der Höhle war es nicht heiß.
»Sie wollen alles kaufen?«
»Sie wollen doch alles verkaufen. Wenn Sie Cash möchten, wird das zwei große Kelly Bags oder drei große Birkin Bags voller Geld geben.«
Cindi Prescott hatte Jillians Galerie im Internet gefunden. Es lag nahe, auch mit Galeristen aus Mailand zu verhandeln, Maurizio Cocchi...
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