Schweitzer Fachinformationen
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Ein Strahl der Oktobersonne auf seiner Nase weckte Andreas Goldberg. Kurz vor elf, stellte er fest, als er den Wecker betrachtete; reichlich spät für einen, der seit Jahren an frühes Aufstehen und feste Bürozeiten gewöhnt war.
Nach kurzem Dösen wälzte er sich auf die Seite und schaltete das Radio ein. Er erwischte das Ende der Nachrichten; ein Verkehrshinweis folgte, dann endlich Musik. Nach dem zweiten Musiktitel streifte er den Rest der Decke ab und stand auf. Die sinnliche Stimme der Moderatorin folgte ihm auf seinem nackten Marsch ins Bad.
Nach dem Zähneputzen ging er ins Wohn- und Schlafzimmer zurück. Die Sprecherin verwies auf die nächste Musiknummer; Andreas tänzelte über die Trümmer der unvollendeten Wohnungsauflösung; dabei grinste und pfiff er.
Während er die verstreuten Kleidungsstücke einsammelte, begann er sogar zu singen. Schließlich ging er zum Nachttisch, auf dem bis vor etwa fünfzig Stunden der elektrische Wecker und ein kleineres Schmuckkästchen seiner Frau gestanden hatten. Dort blieb er einen Moment stehen und belächelte die rechte, unbenutzte Hälfte des Betts.
Dann betrachtete er, beinahe irritiert, seine linke Hand, streifte den Ehering vom Finger und legte ihn auf die Platte des Nachttischs. »Möglicherweise«, murmelte er, »werde ich ihn versetzen müssen. Große Klasse.«
Immer noch unbekleidet öffnete er das große Fenster neben dem Eßtisch. Die kurzsichtige ältere Dame im Haus jenseits des Gartens winkte ihm; sie schälte am offenen Küchenfenster Kartoffeln. Andreas winkte zurück. Dann hüpfte er in die kleine Küche. Er fand noch einen Rest gemahlenen Kaffees, füllte die Kaffeemaschine mit Wasser, schüttete Kaffee in den Filter und schob zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster. Dann brach er ein kleines Stück von einer weiteren Scheibe ab, versah es mit dick Butter, Leberpastete, Senf und einem Tupfer Marmelade und ging damit zurück ins Zimmer.
Neben dem Tisch hockte auf einer Mahagonistange der alte zerzauste Rabe, an dem Andreas hing und um dessen Aussehen, Eß- und Lausegewohnheiten es zuletzt immer häufiger Streit mit Madame gegeben hatte. Der Rabe hob ein Bein, legte den Kopf schief und sah mißtrauisch drein.
»Morgen, Poe!«
Poe fraß fast alles, am liebsten Dinge, bei denen harmlose Zuschauer entweder mit Neid (Kaviar und Schnecken à la bourguignonne) oder mit Würgen kämpften (etwa bei gebratener Blutwurst mit süßer Sahne). Der Rabe schielte auf das Brotstückchen mit Leberpastete und Garnierung, dann auf Andreas' Zehen. Schließlich ließ er sich dazu herab, seinen Ernährer direkt anzusehen.
»Lümmel!« krächzte er. Andreas hielt ihm das Brot hin. Mit einem Schnabelstreich nahm Poe sein Frühstück in Besitz.
Als der Kaffee fertig war, hatte Andreas sich zu einer leichten hellen Leinenhose aufgerafft und Post und Zeitung aus dem Briefkasten geholt. Es war köstlich, bei lauter Musik aus dem Radio zu frühstücken und dabei zu lesen, ohne sich deswegen dauernd rechtfertigen zu müssen. Zwischendurch blickte er auf den Stuhl an der anderen Seite des Tisches.
Nachdem er die Sportseite studiert hatte, wandte er sich der Post zu. Die Telefonrechnung, zwei Werbedrucksachen, ein großer Umschlag mit dem Aufdruck seiner bisherigen Firma - vermutlich seine restlichen Papiere - und eine Ansichtskarte aus Südfrankreich. Von einer alten Bekannten. Eigentlich war die Bekannte eine alte Freundin seiner Frau, und zuerst hatte er sie überhaupt nicht leiden können. Dann hatte seine Frau darauf gedrängt, daß er sie schätzen lerne. Schließlich hatte er herausgefunden, daß sie tatsächlich ganz sympathisch war.
Worauf Irene beschloß, das sei eigentlich schon zu viel. Auch darüber hatte es Krach gegeben. Die Karte war adressiert an »Irene u. Andreas Goldberg«; eine Anschrift, die nicht mehr existierte. In einem Nebensatz auf der Karte war zu lesen, daß die gute Sarah sich in der Provence von ihrer »Chaosbeziehung« endgültig zu erholen gedachte. »Na so was«, murmelte er.
Inzwischen hatte Poe sein Frühstück beendet und flatterte durch den Raum. Dann ließ er sich auf der bloßen Schulter seines Herren nieder. Dort begann er, sanft aber eindringlich, mit seinem Schnabel in Andreas' Ohr Streicheleinheiten zu suchen und zu verteilen. Als Andreas ihn nach einer Weile fortjagte, protestierte der Rabe mit dem Ausruf »Rübensau!« Während er zur Stange zurückflatterte, klingelte das Telefon.
Andreas wanderte in die halb leergeräumte Diele. Beim fünften Klingeln nahm er den Hörer ab und meldete sich. »Goldberg.«
»Morgen Andy. Hier Irene.« Pause. »Wie, eh, geht's dir?«
»Ausgezeichnet.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, sicher. Warum denn nicht? Es ist doch ein herrlicher Tag ...«
»Na ja, schließlich liegt man nicht jeden Tag in Scheidung ...«
»Übernimmst du außer diesen juristischen Fachausdrücken noch was von Robert?«
Sie schluckte. »Geht dich das was an?«
»Nein, glücklicherweise nicht mehr. Und glücklicherweise bin ich nicht für deinen Geschmack zuständig, was Nachfolger angeht.«
»Bitter?«
»Nein, süß. Ich hab grad ein Brot mit Kirschmarmelade gegessen. Im Moment wisch ich mir die Finger an der Hose ab. An der hellen, weißt du.«
»Okay«, sagte sie, kühl und geschäftsmäßig. »Zur Sache. Ich hab noch ein paar Dinge in der Wohnung. Die kann ich im Moment nicht unterbringen. Können sie noch ein paar Tage liegenbleiben?«
Andreas grinste in die Muschel. »Sicher, solange ich noch hier bin.«
»Was heißt denn das?«
»Tja, ohne meine dynamische, gutverdienende Frau kann ich mir diese Luxuswohnung nicht mehr leisten. So viel Arbeitslosengeld werd ich wohl nicht kriegen ...«
»Aber du kannst doch bestimmt sofort einen neuen Job haben, bei deiner Qualifikation?!«
»Können kann ich schon, ich weiß nur im Moment nicht, ob ich sofort wollen möchte.«
»Aber wieso denn? Stimmt das etwa nicht, daß die Firma pleite ist? Hast du etwa gekündigt?«
Er lachte. »Nein, nein. Die Firma ist pleite, und zwar ist sie genau zum passenden Zeitpunkt pleite gegangen. Ich werde mir jetzt ein bißchen Zeit nehmen, um über dies und jenes nachzudenken. Außerdem kann ich mal ein Buch lesen. Oder versuchen festzustellen, warum ich dich eigentlich früher für liebenswert gehalten habe. Wenn ich was rauskriege, sage ich's Robert. Vielleicht kann er es nutzbringend vergeuden. Übrigens, Grüße von Sarah.«
Eisige Pause. »Aha. Hab ich's mir doch gedacht. Und du hast immer so getan, als ob nichts wäre. Meine alte Freundin ...«
»Alles Quatsch. War nie was und ist nix. Sie hat eine Postkarte aus der Provence geschrieben, an uns beide. Liebe Grüße aus dem Urlaub im sonnigen Südfrankreich. Bäh.«
Irene murmelte irgend etwas; dann seufzte sie. »Na schön, mit dir kann man offenbar heute nicht vernünftig reden. Am besten fährst du gegen einen Baum. Ich besuch dich dann im Krankenhaus.« Damit hängte sie ein.
Andreas legte sanft auf und ging grinsend ins Zimmer zurück. In einem Bücherregal stand ein Foto, das sie zurückgelassen hatte. Es zeigte Irene und Andreas im ersten Lenz einer hoffnungsvollen jungen Liebschaft. Nachdenklich betrachtete er das Bild. Die liebe Irene. Jetzt war sie achtundzwanzig, drei Jahre jünger als er, und seit der Aufnahme vor etwa vier Jahren hatte sie sich kaum verändert. Blond, schlank und dynamisch; Besitzerin einer Top-Boutique im Bonner Stadtzentrum, für die ganz Armen. Daneben stand er; er fühlte sich nicht viel älter als damals. Prüfend betrachtete er die langen braunen Haare, die er damals getragen hatte. Jetzt waren sie viel kürzer; Irene war modebewußt. Den Tatarenschnurrbart hatte er mit Nägeln und Zähnen verteidigt, und zugenommen hatte er auch nicht. Vielleicht hatten sich zwei oder drei Linien in seinem eher hageren Gesicht angesiedelt, aus dem Berufsleben oder der Eheveranstaltung. Die Muskeln waren allerdings nicht mehr so stramm wie zur Zeit der Aufnahme; in den letzten Monaten, als sich das Konstruktionsbüro und die Ehe dem jeweiligen Ende näherten, war er kaum noch zum Schwimmen oder Tennis gekommen.
Sorgfältig löste er das Foto aus dem Rahmen und ging zum Tisch. Das Feuerzeug schien ihm in diesem Fall stillos. In der Küche fand er Streichhölzer. Als noch etwa ein Drittel des Bildes zu sehen war, fischte er aus einem Kästchen...
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