Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Anna, mein großes Mädle, deine Mamme braucht dich heut.« Sie hatten gerade das Mittagessen beendet: »Wir sagen Dank für Speis und Trank, in Jesu Namen. Amen.« Mammes Schwester Marie hatte mit ein paar raschen Handgriffen den Tisch abgeräumt und das Geschirr auf den Spülstein in der winzigen Küche getragen. Die Jüngere hieß eigentlich Maria, aber alle riefen sie Marie, und wie es im Schwäbischen üblich ist, betonten sie dabei das »A«, sodass es klang wie »Marri«. Wie jeden Tag schöpfte Marie heißes Wasser aus dem Schiffchen des Küchenherdes und begann sogleich mit dem Abwasch, Anna schnappte sich das Abtrockentuch.
»Aber ich hab mich mit Lene und Kätter zum Bohnenschusseln im Hof verabredet! Du weißt, zu zweit macht das keine Freude und dann sagen sie wieder: Immer wegen dir!« Mamme hatte Erwin auf dem Schoß und versuchte ihm nach und nach ein Löffelchen Brei einzutrichtern. Man sah ihr an, dass sie nicht recht bei der Sache war. Aus dem Schlafzimmer drang schon eine ganze Weile dünnes Wimmern herüber. »Ach, Anna, ich muss mich jetzt wieder hinlegen. Tante Marie hat mit den beiden Buben zu tun und hat doch heute auch Waschtag. Der kleinen Hilde geht es sehr schlecht, hörst du das? Papa hat heute früh beim Weggehen noch gesagt, wir sollen sie auf keinen Fall allein lassen. Jetzt lauf halt geschwind in den Hof hinunter und sag den Mädchen, dass du heute eine oder zwei Stunden später kommst!«
Anna zog enttäuscht eine Schnute und senkte den Kopf. Die Zöpfe mit den blassrosa Schleifen fielen ihr vor das hübsche Gesicht und verbargen den Trotz auf ihrer Miene. Tante Marie nahm ihr sanft das Abtrockentuch aus der Hand und gab ihr einen leichten Klaps auf den Po. Anna flitzte zur Glastür hinaus. Das Stakkato ihrer Schnürstiefel auf den hölzernen Treppenstufen wurde leiser. »Die hat ja noch ihre Schuhe an!«, dachte Mamme, wischte Erwin das Göschle und band ihm den Latz ab. Sie drehte sich nach Albert um. Der Dreijährige saß still auf seinem Fußbänkchen am Fenster, ganz vertieft in das abgegriffene Struwwelpeter-Buch, das sein Papa ihm gestern von der Arbeit mitgebracht hatte.
Christian Gottlieb Lang hatte bei der führenden Stuttgarter Spedition Paul von Maur eine gute Arbeitsstelle als Fuhrmann gefunden. Das Unternehmen lag am damals nördlichen Stadtrand von Stuttgart, direkt am Güterbahnhof in der Wolframstraße. Ein vierstöckiges Wohnhaus in der benachbarten Tunzhofer Straße gehörte ebenfalls Paul von Maur. Dort konnten seine Arbeiter wohnen. Sie hatten nur wenige Minuten zur Firma, die Miete war günstig und wurde gleich vom Lohn einbehalten. Gottliebs Lohn war karg, sicherte kaum das Existenzminimum der Familie, die unter Entbehrungen von der Hand in den Mund lebte, aber wenigstens war er sicher. Beim Ausliefern der Frachtsendungen fiel auch immer wieder mal ein kleines Trinkgeld an. Freitagabends saß er am Tisch in der Stube und machte aus den Münzen der Woche kleine Türmchen. Die höchsten bestanden aus Ein- und Zweipfennigstücken, aber es gab daneben immer ein kleines Türmchen aus »Sechsern«, wie er die Fünfpfennigstücke nannte, und ganz vereinzelt tauchten auch Groschen auf, die türmte er nicht, die legte er nebeneinander. Jeden Samstagnachmittag nach der Arbeit ging der Papa zum Bäcker und kaufte von seinem Trinkgeld Seelen, ein Gebäck. Dann wusste man: Es ist Wochenende.
Er war ein guter Fuhrknecht. Seinem Chef war er schon bald durch seine besonnene Art, seinen zupackenden Fleiß und seine Zuverlässigkeit aufgefallen. Paul von Maur war ein schwäbischer Firmenpatriarch vom alten Schlag. Er hatte ebenfalls zwei Söhne, die waren etwas älter als die seines Arbeiters Gottlieb Lang. Kleidungsstücke, die den Buben des Chefs zu klein geworden waren, wurden gelegentlich in eine Tüte gepackt und am Feierabend dem Fuhrmann mit einem Schulterklopfen unter den Arm geklemmt. So war gestern Abend aus der Tüte des Chefs auch das Struwwelpeter-Buch herausgekommen und Mamme hatte dem wissbegierigen Albert gleich die erste Geschichte vorlesen sollen:
Seht einmal, da steht er
Pfui! der Struwwelpeter.
An den Händen beiden
Läßt er sich nicht schneiden .
Aber gleich auf der ersten Seite war sie wieder von einem derart krampfhaften Hustenanfall geschüttelt worden, dass sie das Buch weglegen und keuchend nach der Marie rufen musste. Albert hatte das Buch an sich genommen und von seinem Fußbänkchen aus mit großen Augen verfolgt, wie sich sein Papa und Tante Marie um die Mamme bemühten. Gottlieb hatte seiner Frau mit dem Handballen den Rücken geklopft, Marie hatte der Schwester wieder den Blechnapf vors Gesicht gehalten, um den Schleim aufzufangen. Dabei hatte Mammes langer, dunkler Zopf über der Bettkante gebaumelt und gehüpft bei jedem Trommelschlag auf ihren mageren Rücken, dessen Knochen sich deutlich durch das dünne Nachthemd abzeichneten. Der Bub hatte inzwischen begriffen, dass Papa seine Mamme nicht hauen, sondern dass er ihr helfen wollte.
Albert hatte dann sein Buch der großen Schwester gebracht. Anna ging schon in die dritte Klasse und saß in der letzten Reihe, da, wo die fleißigsten und klügsten Mädchen saßen. Die Sitzordnung war damals zugleich eine Rangordnung. Die Lehrer platzierten ihre Schüler nach ihren Leistungen, und wenn die mal schlechter wurden, hieß es schnell: »Eins runter!« Dann musste man sich in den folgenden Tagen oder Wochen schon sehr anstrengen, nicht mehr schwätzen und viel »strecken« und mit den Fingern schnipsen, bis nach dem Kommando: »Eins rauf!« die Plätze wieder getauscht werden durften. Anna also konnte sehr gut lesen. Sie hatte sich mit dem kleinen Bruder darauf geeinigt, dass sie ihm jeden Tag eine Geschichte aus dem neuen Buch vorlesen würde, das musste reichen. »Dann hast du länger was davon.«
Jetzt also, nach dem Mittagessen, saß Albert auf seinem Bänkchen und klappte eine der dicken Seiten nach der anderen um. Er konnte sich schon denken, was da stand, die Bilder waren deutlich genug. Aber er freute sich darauf, dass Anna ihm heute die zweite Geschichte vorlesen würde. Der Rhythmus der Verse und der Klang der Reime hatten ihn gestern sehr beeindruckt. Das war aus den Bildern allein nicht herauszuhören. Bald würde er selber lesen lernen. Seit kurzem ging er ja schon in den Kindergarten, ins »Postdörfle« zur Diakonissenschwester Lina. Er konnte die richtige Schule kaum erwarten, wenn auch der Vater seine Vorfreude dämpfte: »Oh Albert, vom Lesen wird man nicht satt!«
Marie nahm Babett nun den anderthalbjährigen Erwin ab, damit Mamme sich wieder auf das Sofa legen konnte, von dem sie nur zum Mittagessen aufgestanden war. So fand Anna, als sie schnaufend vom Hof in den dritten Stock zurückgekehrt war, das gewohnte Bild der letzten Wochen vor: Mamme lag auf dem zum Krankenlager umgebauten Sofa in der Stube, trotz der sommerlichen Temperaturen mit einer wollenen Decke bis unters Kinn. Die kleine, rundliche Tante Marie erledigte die Hausarbeit. Albert spielte in einer Ecke der Stube mit Klötzchen und seinen Zinnsoldaten, unter denen sich eine ganze Anzahl verbogener Invaliden befand. Erwin krabbelte durch die ganze Wohnung und stakste neuerdings mit krummen Beinchen und angewinkelten Armen quiekend von einem Halt zum nächsten. Sie selbst wäre normalerweise bis drei Uhr bei ihren Freundinnen und würde sich dann an den Tisch setzen und Hausaufgaben machen. Aber vorhin hatte es ja geheißen: »Anna, mein großes Mädle, deine Mamme braucht dich heut.« Und dann war ja auch seit drei Wochen das Butzele da, das sie letzten Sonntag in der Erlöserkirche auf den Namen Maria Hildegard getauft hatten.
Mamme schlief nicht, sie hatte nur die Augen geschlossen. »Zieh erst einmal deine Schuhe aus«, sagte sie, als Anna immer noch etwas außer Atem in die Stube trat. »Seit wann läuft man im August mit Schuhen herum? Du weißt, neue Absätze sind teuer.« Anna musste die Schuhe eigentlich nur anziehen, wenn sie in die Schule oder in die Kinderkirche ging. Ihr Lehrer und auch der Pfarrer verlangten das von den Kindern. »Das gehört sich so in der Stadt.« Sobald sie aber wieder zu Hause war, musste sie sofort die Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß laufen. »Wenigstens in den Monaten ohne R«, hieß es.
»Hast du Hausaufgaben zu machen?«, fragte Mamme. - »Ja, Lesen und Einmaleins, den Vierer heute.« - »Dann nimm dein Lesebuch und geh hinüber ins Schlafzimmer. Du bist doch meine Große. Setz dich neben Hildes Bettle und pass auf sie auf. Der Doktor war heute Vormittag da und hat gesagt, er könne ihr jetzt auch nicht mehr helfen. Er hat uns auf dem Zettel hier die Telefonnummer der Leichenfrau dagelassen. Pass gut auf, und wenn sie aufhört mit Schnaufen, dann ist sie gestorben und dann kommst du sofort herein und sagst es, damit Tante Marie telefonieren gehen kann.« - »Ja, Mamme.«
Anna kramte ihr Lesebuch aus dem Schulranzen und...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.